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Zukunft Forschung 02/2022

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

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TITELTHEMA<br />

Krankheit und Migration zählen<br />

zu jenen Erfahrungen im Leben<br />

eines Menschen, die potenziell<br />

krisenbehaftet sind. In literarischen Darstellungen<br />

wird gerade das Exil, das ein<br />

erzwungenes Verlassen der Heimat bedeutet,<br />

häufig mit Krankheit gleichsetzt.<br />

Tatsächlich waren es Sätze wie „Das Exil<br />

ist eine Krankheit. Sie ergreift den Geist,<br />

das Gemüt“ der österreichischen Autorin<br />

Hilde Spiel, oder „Das Exil […] ist […] eine<br />

Schule des Taumels“ des in Rumänien<br />

geborenen Schriftstellers Emile Cioran,<br />

welche die Romanistin Julia Pröll dazu<br />

inspiriert haben, sich mit den vielfältigen<br />

Wechselbeziehungen zwischen Migration,<br />

Medizin und Krankheitserfahrung auseinanderzusetzen.<br />

Dazu untersuchte die Literaturwissenschaftlerin<br />

unter anderem literarische Texte<br />

von chinesischen und vietnamesischen<br />

Autorinnen und Autoren, die in Frankreich<br />

leben und auf Französisch schreiben.<br />

„Ist dieser ‚Schwindel‘, von dem Cioran<br />

spricht und der die Autorinnen und Autoren<br />

beispielsweise dann ergreift, wenn sie<br />

die chinesischen Ideogramme gegen das<br />

Alphabet eintauschen, nur negativ zu sehen?<br />

Oder besitzt er auch ein produktives<br />

Potenzial? Anders gesagt: Wenn alle meine<br />

bisherigen Bezugspunkte ins Wanken<br />

geraten, inwiefern kann dies dennoch als<br />

der Beginn von etwas – heilsam – Neuem<br />

gesehen werden?“, beschreibt Julia Pröll<br />

jene Fragen, die ihr <strong>Forschung</strong>sinteresse<br />

an der Schnittstelle von literarischem und<br />

medizinischem Diskurs leiten.<br />

Transkulturelles<br />

Die Analyse der Darstellung von Krankheit<br />

und Medizin in literarischen Texten,<br />

die im Kontext von kulturellen Kontakten<br />

entstehen, eröffnete für die Literaturwissenschaftlerin<br />

neue Perspektiven auf<br />

verschiedene gesamtgesellschaftlich relevante<br />

Bereiche. So zeigte sich für Pröll in<br />

der Auseinandersetzung mit asiatischer<br />

Migrationsliteratur in Frankreich seit den<br />

„Texte aus der Migrationsliteratur könnten in die Ausbildung von<br />

medizinischem Personal einfließen, damit es sich besser auf die<br />

Bedürfnisse der Patient*innen aus aller Welt einstellen kann.“ <br />

JULIA PRÖLL ist promovierte Juristin und<br />

assoziierte Professorin für Französische<br />

Literatur- und Kulturwissenschaft am<br />

Institut für Romanistik. Sowohl ihre an der<br />

Universität Innsbruck erstellte Dissertation<br />

(2006) als auch ihre Habilitationsschrift<br />

(2014) sind preisgekrönt. Von 2014<br />

bis 2016 forschte sie im Rahmen eines<br />

Humboldt-Stipendiums an der Universität<br />

des Saarlandes. Ihr <strong>Forschung</strong>sinteresse<br />

fokussiert seit mehreren Jahren auf das<br />

relativ neue <strong>Forschung</strong>sfeld der Medical<br />

Humanities im Lichte französischsprachiger<br />

Migrationsliteratur. Sie ist auch (Mit-)<br />

Gründerin und (Mit-)Herausgeberin der<br />

Online-Zeitschrift Re:visit. Humanities &<br />

Medicine in Dialogue (journal-revisit.org),<br />

die im Dezember 2<strong>02</strong>2 erstmals erscheint.<br />

Julia Pröll<br />

1980er-Jahren, „dass Migrationsautorinnen<br />

und -autoren ihren Schwerpunkt<br />

nicht auf den traumatischen Effekt der<br />

Exilerfahrung legen, wie man es vielleicht<br />

etwas vorschnell vermuten würde,<br />

sondern sich viel mehr auf Identitätsbildungsprozesse<br />

fokussieren. Das heißt, sie<br />

nutzen ihre Literatur für transkulturelle<br />

Identitätsentwürfe und verrücken Grenzen<br />

zwischen ‚Fremd‘ und ‚Eigen‘, gerade<br />

ind em sie für das ‚Fremde im Eigenen‘<br />

sensibilisieren.“<br />

Diese Literatur verhandelt für Pröll<br />

daher Migration nicht als Schwäche,<br />

sondern durchaus als Stärke; sie sieht in<br />

Migrant*innen folglich nicht ausschließlich<br />

(passive) Patient*innen oder „angstmachende“<br />

Träger*innen gefährlicher<br />

Krankheiten. Vielmehr wird gerade durch<br />

die literarische Figur des erkrankten Migranten<br />

eine spannende Perspektive auf<br />

den Kontakt von Gesundheits- und Medizinsystemen<br />

ermöglicht. „Unterschiedliche<br />

Körper- und Krankheitskonzepte<br />

werden häufig zusammen gedacht und<br />

spannungsreich aufeinander bezogen. So<br />

kommen neben medizinischen Erklärungen<br />

für Krankheitssymptome durchaus<br />

auch andere Konzepte, wie beispielsweise<br />

Geisterglaube, vor“, erklärt die Literaturwissenschaftlerin:<br />

„Dies vermag zu verdeutlichen,<br />

dass auch Medizin kulturelle<br />

Wurzeln hat und dass die – westlich geprägte<br />

– Medizin nicht das Deutungsmonopol<br />

für Krankheit hat. So kommt es in<br />

der von mir untersuchten Literatur häufig<br />

zu einer wohltuenden Relativierung der<br />

Perspektiven, wovon letztlich auch ein<br />

Gesundheitssystem profitieren kann, das<br />

sich mehr und mehr mit Migrant*innen<br />

als Patient*innen zu beschäftigen hat und<br />

dies ohne Arroganz tun soll.“<br />

„Lebenswissen“ im Kontakt<br />

In der literarischen Analyse der „Trias“<br />

von Migration, Krankheit und Medizin<br />

sieht Julia Pröll großes Potenzial und<br />

auch eine kulturelle Bereicherung für das<br />

„reale“ Leben auf unterschiedlichen Ebenen.<br />

„Durch die Analyse von literarischen<br />

Texten in diesem Themenfeld ist mir bewusst<br />

geworden, dass sich darin sehr viel<br />

‚Lebenswissen‘ befindet, das an anderer<br />

Stelle so nicht greifbar werden kann.<br />

Oder eben anders greifbar wird, wie beispielsweise<br />

in den naturwissenschaftlich<br />

orientierten Life Sciences.“<br />

Die Literatur sieht Pröll daher als besonders<br />

geeigneten „Lehrmeister“, um<br />

Grenzen im Kopf zu überwinden, was<br />

etwa Vorurteile gegenüber Menschen betrifft,<br />

die aus anderen Kulturen kommen.<br />

Die Erschließung dieser Texte könne daher<br />

sowohl für die Geisteswissenschaften<br />

als auch für die Medizin von großem Vorteil<br />

sein, denn eigentlich, so Pröll, seien ja<br />

beides „Lebenswissenschaften“: „Literarische<br />

Texte von Migrationsautor*innen<br />

könnten etwa in die Ausbildung von medizinischem<br />

Personal einfließen, damit<br />

dieses sich besser auf die Bedürfnisse ihrer<br />

Patientinnen und Patienten aus aller<br />

Welt einstellen kann. Menschen artikulieren<br />

Symptome nicht überall auf der Welt<br />

gleich, Körperbeschreibungen sind sehr<br />

unterschiedlich. In dieser Hinsicht können<br />

wir aus der Migrationsliteratur sehr viel<br />

lernen“, ist Pröll überzeugt. mb<br />

MIT MEDICAL HUMANITIES wird<br />

ein interdisziplinäres <strong>Forschung</strong>sfeld an<br />

der Schnittstelle zwischen Medizin und<br />

Geistes- bzw. Kulturwissenschaften beschrieben.<br />

Die Universität Innsbruck verfügt<br />

über ein eigenes <strong>Forschung</strong>szentrum zu<br />

diesem Themenbereich, das am Center für<br />

Interdisziplinäre Geschlechterforschung<br />

angesiedelt ist. Die zahlreichen Innsbrucker<br />

Forscher*innen vereinen darin vielseitige<br />

Perspektiven auf Zusammenhänge<br />

zwischen Gesundheit und Gesellschaft<br />

oder Gesundheit und Umwelt wie etwa<br />

transkulturelle Gesundheitskommunikation,<br />

Körperbilder oder Geschlechterkonzepte.<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 17

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