TITELTHEMA GRENZÜBERSCHREITUNG ALS RESSOURCE Migrationsliteratur verhandelt Grenzerfahrung auf zahlreichen Ebenen. Julia Pröll vom Institut für Romanistik spannt in ihrer <strong>Forschung</strong> einen Bogen zwischen Migration, Medizin und Krankheit(serfahrung) und macht dabei die ermächtigenden Potenziale von Grenzerfahrungen in französischsprachiger Migrationsliteratur deutlich. JULIA PRÖLL: „Migrationsautor*innen legen ihren Schwerpunkt weniger auf den traumatischen Effekt der Exilerfahrung, sondern nutzen ihre Literatur oft für transkulturelle Identitätsentwürfe.“ 16 zukunft forschung <strong>02</strong>/22 Foto: Andreas Friedle
TITELTHEMA Krankheit und Migration zählen zu jenen Erfahrungen im Leben eines Menschen, die potenziell krisenbehaftet sind. In literarischen Darstellungen wird gerade das Exil, das ein erzwungenes Verlassen der Heimat bedeutet, häufig mit Krankheit gleichsetzt. Tatsächlich waren es Sätze wie „Das Exil ist eine Krankheit. Sie ergreift den Geist, das Gemüt“ der österreichischen Autorin Hilde Spiel, oder „Das Exil […] ist […] eine Schule des Taumels“ des in Rumänien geborenen Schriftstellers Emile Cioran, welche die Romanistin Julia Pröll dazu inspiriert haben, sich mit den vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Migration, Medizin und Krankheitserfahrung auseinanderzusetzen. Dazu untersuchte die Literaturwissenschaftlerin unter anderem literarische Texte von chinesischen und vietnamesischen Autorinnen und Autoren, die in Frankreich leben und auf Französisch schreiben. „Ist dieser ‚Schwindel‘, von dem Cioran spricht und der die Autorinnen und Autoren beispielsweise dann ergreift, wenn sie die chinesischen Ideogramme gegen das Alphabet eintauschen, nur negativ zu sehen? Oder besitzt er auch ein produktives Potenzial? Anders gesagt: Wenn alle meine bisherigen Bezugspunkte ins Wanken geraten, inwiefern kann dies dennoch als der Beginn von etwas – heilsam – Neuem gesehen werden?“, beschreibt Julia Pröll jene Fragen, die ihr <strong>Forschung</strong>sinteresse an der Schnittstelle von literarischem und medizinischem Diskurs leiten. Transkulturelles Die Analyse der Darstellung von Krankheit und Medizin in literarischen Texten, die im Kontext von kulturellen Kontakten entstehen, eröffnete für die Literaturwissenschaftlerin neue Perspektiven auf verschiedene gesamtgesellschaftlich relevante Bereiche. So zeigte sich für Pröll in der Auseinandersetzung mit asiatischer Migrationsliteratur in Frankreich seit den „Texte aus der Migrationsliteratur könnten in die Ausbildung von medizinischem Personal einfließen, damit es sich besser auf die Bedürfnisse der Patient*innen aus aller Welt einstellen kann.“ JULIA PRÖLL ist promovierte Juristin und assoziierte Professorin für Französische Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Romanistik. Sowohl ihre an der Universität Innsbruck erstellte Dissertation (2006) als auch ihre Habilitationsschrift (2014) sind preisgekrönt. Von 2014 bis 2016 forschte sie im Rahmen eines Humboldt-Stipendiums an der Universität des Saarlandes. Ihr <strong>Forschung</strong>sinteresse fokussiert seit mehreren Jahren auf das relativ neue <strong>Forschung</strong>sfeld der Medical Humanities im Lichte französischsprachiger Migrationsliteratur. Sie ist auch (Mit-) Gründerin und (Mit-)Herausgeberin der Online-Zeitschrift Re:visit. Humanities & Medicine in Dialogue (journal-revisit.org), die im Dezember 2<strong>02</strong>2 erstmals erscheint. Julia Pröll 1980er-Jahren, „dass Migrationsautorinnen und -autoren ihren Schwerpunkt nicht auf den traumatischen Effekt der Exilerfahrung legen, wie man es vielleicht etwas vorschnell vermuten würde, sondern sich viel mehr auf Identitätsbildungsprozesse fokussieren. Das heißt, sie nutzen ihre Literatur für transkulturelle Identitätsentwürfe und verrücken Grenzen zwischen ‚Fremd‘ und ‚Eigen‘, gerade ind em sie für das ‚Fremde im Eigenen‘ sensibilisieren.“ Diese Literatur verhandelt für Pröll daher Migration nicht als Schwäche, sondern durchaus als Stärke; sie sieht in Migrant*innen folglich nicht ausschließlich (passive) Patient*innen oder „angstmachende“ Träger*innen gefährlicher Krankheiten. Vielmehr wird gerade durch die literarische Figur des erkrankten Migranten eine spannende Perspektive auf den Kontakt von Gesundheits- und Medizinsystemen ermöglicht. „Unterschiedliche Körper- und Krankheitskonzepte werden häufig zusammen gedacht und spannungsreich aufeinander bezogen. So kommen neben medizinischen Erklärungen für Krankheitssymptome durchaus auch andere Konzepte, wie beispielsweise Geisterglaube, vor“, erklärt die Literaturwissenschaftlerin: „Dies vermag zu verdeutlichen, dass auch Medizin kulturelle Wurzeln hat und dass die – westlich geprägte – Medizin nicht das Deutungsmonopol für Krankheit hat. So kommt es in der von mir untersuchten Literatur häufig zu einer wohltuenden Relativierung der Perspektiven, wovon letztlich auch ein Gesundheitssystem profitieren kann, das sich mehr und mehr mit Migrant*innen als Patient*innen zu beschäftigen hat und dies ohne Arroganz tun soll.“ „Lebenswissen“ im Kontakt In der literarischen Analyse der „Trias“ von Migration, Krankheit und Medizin sieht Julia Pröll großes Potenzial und auch eine kulturelle Bereicherung für das „reale“ Leben auf unterschiedlichen Ebenen. „Durch die Analyse von literarischen Texten in diesem Themenfeld ist mir bewusst geworden, dass sich darin sehr viel ‚Lebenswissen‘ befindet, das an anderer Stelle so nicht greifbar werden kann. Oder eben anders greifbar wird, wie beispielsweise in den naturwissenschaftlich orientierten Life Sciences.“ Die Literatur sieht Pröll daher als besonders geeigneten „Lehrmeister“, um Grenzen im Kopf zu überwinden, was etwa Vorurteile gegenüber Menschen betrifft, die aus anderen Kulturen kommen. Die Erschließung dieser Texte könne daher sowohl für die Geisteswissenschaften als auch für die Medizin von großem Vorteil sein, denn eigentlich, so Pröll, seien ja beides „Lebenswissenschaften“: „Literarische Texte von Migrationsautor*innen könnten etwa in die Ausbildung von medizinischem Personal einfließen, damit dieses sich besser auf die Bedürfnisse ihrer Patientinnen und Patienten aus aller Welt einstellen kann. Menschen artikulieren Symptome nicht überall auf der Welt gleich, Körperbeschreibungen sind sehr unterschiedlich. In dieser Hinsicht können wir aus der Migrationsliteratur sehr viel lernen“, ist Pröll überzeugt. mb MIT MEDICAL HUMANITIES wird ein interdisziplinäres <strong>Forschung</strong>sfeld an der Schnittstelle zwischen Medizin und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften beschrieben. Die Universität Innsbruck verfügt über ein eigenes <strong>Forschung</strong>szentrum zu diesem Themenbereich, das am Center für Interdisziplinäre Geschlechterforschung angesiedelt ist. Die zahlreichen Innsbrucker Forscher*innen vereinen darin vielseitige Perspektiven auf Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Gesellschaft oder Gesundheit und Umwelt wie etwa transkulturelle Gesundheitskommunikation, Körperbilder oder Geschlechterkonzepte. zukunft forschung <strong>02</strong>/22 17