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Zukunft Forschung 02/2022

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

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TITELTHEMA<br />

möglichkeit des Staates verhindert oder<br />

zumindest erschwert wird. „Damit sind<br />

wir in einem sehr konfliktreichen Bereich,<br />

wir haben es mit normativ heiklen<br />

Themen zu tun: Ist dieses Engagement<br />

legitim? Gibt es prinzipielle Gründe, es<br />

abzulehnen oder gutzuheißen, und welche<br />

sind das?“ Drei Fallbeispiele beleuchtet<br />

die Politikwissenschaftlerin mit einer<br />

Mitarbeiterin konkret: Rettungsaktionen<br />

an den Grenzen, unter anderem Seenotrettung<br />

vor allem im Mittelmeer, wo<br />

(meist) Nichtregierungsorganisationen<br />

Migrant*innen vor dem Ertrinken retten<br />

und in europäische Häfen bringen; die<br />

Kirchenasyl-Bewegung, die vor allem,<br />

aber nicht nur in Deutschland und den<br />

USA verbreitet ist; und die wachsende<br />

Bewegung der „Sanctuary Cities“, wo<br />

Stadt- und Regionalverwaltungen im<br />

Widerspruch zu nationalen Vorgaben irreguläre<br />

Migrant*innen nicht verfolgen<br />

oder vor Verfolgung und Abschiebung<br />

bewusst schützen.<br />

„Sanctuary Cities sind in den USA formalisierter<br />

als in Europa und die Praxis<br />

sieht zum Beispiel so aus, dass es städtischen<br />

Institutionen, Behörden und Beamten<br />

verboten wird, bei Krankenhausaufenthalten,<br />

Schuleinschreibungen oder<br />

bei der Meldung eines Verbrechens nach<br />

dem Aufenthaltsstatus der Person zu fragen<br />

oder solche Informationen an nationale<br />

Einwanderungsbehörden weiterzugeben.“<br />

Im Gegensatz dazu steht die Politik<br />

in manchen europäischen Ländern,<br />

zum Beispiel im Vereinigten Königreich:<br />

„Im Vereinigten Königreich ist es Pflicht,<br />

bei Kontakten mit staatlichen Behörden<br />

den Aufenthaltsstatus anzugeben und<br />

diese Stellen müssen diese Information<br />

auch an Einwanderungsbehörden weitergeben.<br />

Dadurch wird der Zugang zu<br />

Leistungen verhindert – auch zu jenen,<br />

zu denen irreguläre Migrant*innen aufgrund<br />

allgemeiner Grundrechte einen<br />

Anspruch hätten –, denn jeder Kontakt<br />

mit den Behörden führt potenziell zu<br />

einer Abschiebung. Das Argument für<br />

diese Regel ist, irreguläre Migration effizienter<br />

verfolgen zu können.“ Sanctuary<br />

Cities, teils unter anderer Bezeichnung,<br />

gibt es aber auch in Europa: Barcelona,<br />

Palermo und Mailand sind Beispiele,<br />

Wales als Region bietet – soweit unter<br />

den strengen Regeln im Vereinigten Königreich<br />

möglich – unterstützende Informationen<br />

für irreguläre Migrant*innen,<br />

Asylwerber*innen und Menschen mit<br />

abgelehntem Asylstatus.<br />

Schutz vor Verfolgung<br />

Im Mittelmeer sind es humanitäre Organisationen<br />

aus der Zivilgesellschaft, die<br />

Menschen aus Seenot retten. „Diese Bewegung<br />

ist transnational, besteht sowohl<br />

aus einzelnen kleinen Crews als auch<br />

großen NGOs wie etwa Seawatch, SOS<br />

Méditerranée oder Ärzte ohne Grenzen<br />

und besteht ebenfalls schon seit Mitte<br />

der 2000er-Jahre“, erläutert Julia Mourão<br />

Permoser. Die Kirchenasyl-Bewegung<br />

wiederum bietet Verfolgten Schutz in<br />

kirchlichen Liegenschaften – entweder in<br />

Kirchen selbst oder anderswo mit Unterstützung<br />

der Kirchen.<br />

Rechtlich umstritten sind alle drei Formen,<br />

wird doch der (National-)Staat an<br />

der Durchsetzung geltenden Rechts gehindert.<br />

„Allein bei der Seenotrettung sehen<br />

wir immer wieder Gerichtsverfahren,<br />

JULIA MOURÃO PERMOSER (*1980 in<br />

Rio de Janeiro, Brasilien) forscht am Institut<br />

für Politikwissenschaft der Universität<br />

Innsbruck, derzeit bekleidet sie eine Gastprofessur<br />

an der Universität Wien. Bevor<br />

sie Mitarbeiterin der Universität Innsbruck<br />

wurde, hatte sie <strong>Forschung</strong>sstellen an<br />

der Universität Wien und an der Freien<br />

Universität Brüssel inne. Ihre Hauptforschungsinteressen<br />

sind Migration, der<br />

politische Umgang mit Diversität, die Rolle<br />

von Normen und Werten in der Politik<br />

sowie gegenwärtige Herausforderungen<br />

liberaler Demokratien im Hinblick auf<br />

den zunehmenden Pluralismus moderner<br />

Gesellschaften.<br />

die Seenotretter*innen werden wegen<br />

Schlepperei und Beihilfe zu illegaler Migration<br />

angeklagt. Die Seenotretter*innen<br />

argumentieren dabei mit ihrer Pflicht,<br />

Menschen zu retten, die über staatlichem<br />

Recht steht, der Staat dagegen – in Europa<br />

ist das zuletzt meist Italien als klagende<br />

Partei – mit der Durchsetzung geltenden<br />

Rechts auf seinem Staatsgebiet.“<br />

Auch die Seenotrettung selbst hat sich in<br />

den vergangenen Jahren verändert: Die<br />

eingesetzten Boote sind deutlich größer<br />

und werden von hochprofessionellen<br />

Crews betrieben – damit einhergehen<br />

aber auch höhere staatliche Auflagen,<br />

die den Einsatz erschweren. „Auch das<br />

Kirchenasyl ist umstritten – in Deutschland<br />

wird es geduldet, aber auch das<br />

wirft Fragen nach der Trennung von Kirche<br />

und Staat auf: Warum sollte die Kirche<br />

Flüchtlinge aufnehmen dürfen, ein<br />

Fußballverein aber zum Beispiel nicht?“<br />

Und auch in den USA gab es, vor allem<br />

unter Präsident Trump, Klagen gegen die<br />

Sanctuary Cities.<br />

Verlagerung der Grenzen<br />

Mourão Permoser befasst sich auch mit<br />

einer weiteren moralischen Frage in Bezug<br />

auf die Grenzen Europas: Die EU<br />

verschiebt ihre Grenzen weiter nach außen<br />

und lagert den Grenzschutz nach<br />

Libyen aus. „Die libysche Küstenwache<br />

stoppt Migrant*innen und schickt sie zurück.<br />

Dafür bekommt sie Gelder, Training<br />

und Equipment von der EU. Ein Abschieben<br />

in Länder, in denen Betroffene verfolgt<br />

und misshandelt werden, ist laut<br />

EU-Verträgen und Genfer Menschenrechtskonvention<br />

verboten. In diesem<br />

Fall erledigt das allerdings Libyen für die<br />

EU – und Libyen hat weder die Menschenrechtskonvention<br />

unterschrieben<br />

noch unterliegt es EU-Recht“, sagt<br />

Mourão Permoser. „Das ist eindeutig eine<br />

Strategie, um geltendes Recht zu umgehen.“<br />

Und auch die Binnengrenzen<br />

verschieben sich: „Grenzschutz“ passiert<br />

längst nicht mehr nur an nationalen<br />

Grenzen, Migrant*innen drohen auch innerhalb<br />

der EU Kontrollen – eben nicht<br />

nur durch Polizei, sondern auch im alltäglichen<br />

Kontakt mit Behörden und öffentlichen<br />

Institutionen. „Gegen eben<br />

diese innerlichen und äußerlichen Verschiebungen<br />

der Grenzen kämpfen die<br />

Aktivist*innen, die im Zentrum meines<br />

<strong>Forschung</strong>sprojektes stehen.“ sh<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 15

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