Zukunft Forschung 02/2022
Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck
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TITELTHEMA<br />
JENBACH bietet sich als Untersuchungsgemeinde an, da hier<br />
einerseits im Jenbacher Museum ein Bereich der Dauerausstellung<br />
der „Option“ gewidmet ist, der längst auf eine Neuinterpretation<br />
wartet. Andererseits ist Jenbach auch eine typische Gemeinde mit<br />
Arbeitsmigration, da mit den „Heinkel Werken“ (Bild) der größte<br />
Tiroler Rüstungsbetrieb hier beheimatet war. Neben tausenden<br />
Zwangsarbeiter*innen wurden in der Kriegszeit auch Arbeitskräfte<br />
aus Südtirol rekrutiert. Neben der typischen Südtiroler Siedlung<br />
nehmen die Forscher*innen weitere migrantische Aspekte wie<br />
Ressentiments, Vorurteile, kulturelle und soziale Auseinandersetzungen,<br />
aber ebenso Integration und Anpassung in den Blick.<br />
DAS KANALTAL im Dreiländereck Italien-Österreich-Slowenien<br />
mit dem Zentrum Tarvis ist für die Optionsgeschichte von besonderem<br />
Interesse, weil hier fast die gesamte deutschsprachige<br />
Bevölkerung nach der Umsiedlungsabmachung zwischen Hitler<br />
und Mussolini abgewandert und auch nicht mehr zurückgekehrt<br />
ist. So war das Kanaltal nach dem Krieg zu einem weitgehend<br />
italienischsprachigen Gebiet geworden, was mit großen wirtschaftlichen<br />
und kulturellen Änderungen einhergeht. Um diese<br />
nachzuzeichnen, analysieren die Innsbrucker Historiker*innen auch<br />
die Aktenbestände der Dienststelle Umsiedlung Südtirol zu einzelnen<br />
Migrant*innen aus dem Kanaltal.<br />
den durfte. Gleichzeitig war Südtirol aber<br />
das südlichste deutschsprachige Gebiet,<br />
der Brenner eine Grenze, die sprachlich<br />
Zusammengehörendes radikal trennte.“<br />
Adolf Hitlers Pakt mit Italien stand<br />
diese Grenze im Wege. Nach Verhandlungen<br />
kam es im Juni 1939 zum Optionsabkommen,<br />
in dem den deutschsprachigen<br />
Südtiroler*innen die Möglichkeit gegeben<br />
wurde, entweder ins Deutsche Reich auszuwandern<br />
oder italienisch zu werden.<br />
Rund 130.000 Südtiroler Haushalte gaben<br />
in der Abstimmung eine sogenannte Optionserklärung<br />
ab, etwa 86 Prozent davon<br />
entschieden sich für eine Auswanderung<br />
ins Deutsche Reich. In der Folge verließen<br />
75.000 Südtiroler*innen das Land in<br />
Richtung Innsbruck, der ersten Station bei<br />
der Ausreise. Nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
kehrte von diesen rund ein Drittel<br />
– zunächst illegal und dann in Folge der<br />
Rücksiedlungsabkommen von 1948 legal<br />
– in die Provinz Bozen zurück.<br />
Grenzen im Kopf<br />
Diese Teilung Tirols hat die Identität der<br />
Menschen in die Region erschüttert. Bis<br />
spät in die 1990er-Jahre bleibt die Suche<br />
nach einer Südtiroler Identität sehr präsent:<br />
„Gibt es so etwas wie eine Südtiroler<br />
Identität, oder gibt es sie nicht?“<br />
Diese Identitätskrise traf aber auch die<br />
Menschen in Nord- und Osttirol, da die<br />
Brennergrenze das Selbstverständnis<br />
des ehemaligen Kronlandes durchbrach.<br />
„Wenn wir uns die Region der heutigen<br />
Euregio anschauen und auf Identitätsfragen<br />
hin beleuchten, dann merkt man<br />
sehr schnell, dass die Phase der Italianisierung<br />
im Faschismus als eine Form der<br />
Kolonialisierung gelesen werden kann“,<br />
sagt Eva Pfanzelter. So seien die Freiheitsbestrebungen<br />
des Trentino damals begraben<br />
worden und Südtirol gleichzeitig<br />
die Region geworden, die aufgrund der<br />
Identitätskrise immer mehr Autonomie<br />
verlangen konnte. Dasselbe passierte in<br />
Nordtirol, das zwar als Teil Österreichs<br />
fest verankert war, dem aber ein Stück<br />
des Kernlandes fehlte. „Wenn man die<br />
Zeit des Faschismus als interne Kolonialisierung<br />
begreift, sind diese Identitätsfragen<br />
sehr komplex und vielschichtig, die<br />
ganz viele Grenzlinien überschreiten und<br />
wo es keine eindeutigen Zuschreibungen<br />
gibt“, resümiert die Zeithistorikerin. „Die<br />
ganze Region hat sich mit dieser neuen<br />
Grenze gesellschaftspsychologisch und in<br />
ihrer Identität verändern müssen.“<br />
Von den Zahlen zur Geschichte<br />
Den Innsbrucker Historiker*innen stehen<br />
aber für die Analyse solcher Fragen nicht<br />
nur die Unterlagen der „Optionskartei“<br />
zur Verfügung. Einerseits untersuchen<br />
sie als Fallbeispiele die Gemeinde Jenbach<br />
und das norditalienische Kanaltal im Detail.<br />
Andererseits hat Eva Pfanzelter mit<br />
ihrem Team bereits weitere 25.000 Karteikarten<br />
aus dem Staatsarchiv in Bozen digitalisiert<br />
und ausgewertet. Sie enthalten<br />
Informationen zu jenen Menschen, die<br />
nach 1945 wieder nach Südtirol zurückgekehrt<br />
sind. Durch den Abgleich der<br />
beiden Datenbanken können die Wissenschaftler*innen<br />
die Migrationsströme besser<br />
nachzeichnen. Und damit erklärt sich<br />
auch das grüne R auf vielen Karteikarten<br />
im Tiroler Landesarchiv. Der Buchstabe<br />
steht für die Rückübersiedelung nach<br />
Südtirol, die weitgehend auch in den<br />
Nordtiroler Akten vermerkt sind.<br />
Während die Archivarbeit normalerweise<br />
detaillierte Einblicke in Einzelschicksale<br />
liefert, bietet die Digitalisierung großer Bestände<br />
zunächst vor allem Zugang zu<br />
quantitativen Daten. Die Schwierigkeit besteht<br />
nun darin, diese beiden Zugänge zusammenzuführen.<br />
„Das ist eine große Herausforderung,<br />
aber natürlich auch sehr<br />
spannend“, sagt Pfanzelter. „Wir als Geisteswissenschaftler*innen<br />
müssen unsere<br />
komplexe Sprache reduzieren auf Nullen<br />
und Einsen, zumindest auf Wortteile oder<br />
quantifizierbare Dinge, wollen aber doch<br />
auch unsere diskursiven Fähigkeiten einbringen.<br />
Es geht für uns also auch um die<br />
Frage, wie kommt man vom Zählen wieder<br />
zum Erzählen.“<br />
cf<br />
Fotos: Das Alte Jenbach https://www.jenba.ch/industrie/die-heinkel-werke/ (1), https://www.sprachinseln.it/de/reimmichlkalenderbeitrag-kanaltal-2010.html (1)<br />
zukunft forschung <strong>02</strong>/22 13