06.12.2022 Aufrufe

Zukunft Forschung 02/2022

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

TITELTHEMA<br />

JENBACH bietet sich als Untersuchungsgemeinde an, da hier<br />

einerseits im Jenbacher Museum ein Bereich der Dauerausstellung<br />

der „Option“ gewidmet ist, der längst auf eine Neuinterpretation<br />

wartet. Andererseits ist Jenbach auch eine typische Gemeinde mit<br />

Arbeitsmigration, da mit den „Heinkel Werken“ (Bild) der größte<br />

Tiroler Rüstungsbetrieb hier beheimatet war. Neben tausenden<br />

Zwangsarbeiter*innen wurden in der Kriegszeit auch Arbeitskräfte<br />

aus Südtirol rekrutiert. Neben der typischen Südtiroler Siedlung<br />

nehmen die Forscher*innen weitere migrantische Aspekte wie<br />

Ressentiments, Vorurteile, kulturelle und soziale Auseinandersetzungen,<br />

aber ebenso Integration und Anpassung in den Blick.<br />

DAS KANALTAL im Dreiländereck Italien-Österreich-Slowenien<br />

mit dem Zentrum Tarvis ist für die Optionsgeschichte von besonderem<br />

Interesse, weil hier fast die gesamte deutschsprachige<br />

Bevölkerung nach der Umsiedlungsabmachung zwischen Hitler<br />

und Mussolini abgewandert und auch nicht mehr zurückgekehrt<br />

ist. So war das Kanaltal nach dem Krieg zu einem weitgehend<br />

italienischsprachigen Gebiet geworden, was mit großen wirtschaftlichen<br />

und kulturellen Änderungen einhergeht. Um diese<br />

nachzuzeichnen, analysieren die Innsbrucker Historiker*innen auch<br />

die Aktenbestände der Dienststelle Umsiedlung Südtirol zu einzelnen<br />

Migrant*innen aus dem Kanaltal.<br />

den durfte. Gleichzeitig war Südtirol aber<br />

das südlichste deutschsprachige Gebiet,<br />

der Brenner eine Grenze, die sprachlich<br />

Zusammengehörendes radikal trennte.“<br />

Adolf Hitlers Pakt mit Italien stand<br />

diese Grenze im Wege. Nach Verhandlungen<br />

kam es im Juni 1939 zum Optionsabkommen,<br />

in dem den deutschsprachigen<br />

Südtiroler*innen die Möglichkeit gegeben<br />

wurde, entweder ins Deutsche Reich auszuwandern<br />

oder italienisch zu werden.<br />

Rund 130.000 Südtiroler Haushalte gaben<br />

in der Abstimmung eine sogenannte Optionserklärung<br />

ab, etwa 86 Prozent davon<br />

entschieden sich für eine Auswanderung<br />

ins Deutsche Reich. In der Folge verließen<br />

75.000 Südtiroler*innen das Land in<br />

Richtung Innsbruck, der ersten Station bei<br />

der Ausreise. Nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

kehrte von diesen rund ein Drittel<br />

– zunächst illegal und dann in Folge der<br />

Rücksiedlungsabkommen von 1948 legal<br />

– in die Provinz Bozen zurück.<br />

Grenzen im Kopf<br />

Diese Teilung Tirols hat die Identität der<br />

Menschen in die Region erschüttert. Bis<br />

spät in die 1990er-Jahre bleibt die Suche<br />

nach einer Südtiroler Identität sehr präsent:<br />

„Gibt es so etwas wie eine Südtiroler<br />

Identität, oder gibt es sie nicht?“<br />

Diese Identitätskrise traf aber auch die<br />

Menschen in Nord- und Osttirol, da die<br />

Brennergrenze das Selbstverständnis<br />

des ehemaligen Kronlandes durchbrach.<br />

„Wenn wir uns die Region der heutigen<br />

Euregio anschauen und auf Identitätsfragen<br />

hin beleuchten, dann merkt man<br />

sehr schnell, dass die Phase der Italianisierung<br />

im Faschismus als eine Form der<br />

Kolonialisierung gelesen werden kann“,<br />

sagt Eva Pfanzelter. So seien die Freiheitsbestrebungen<br />

des Trentino damals begraben<br />

worden und Südtirol gleichzeitig<br />

die Region geworden, die aufgrund der<br />

Identitätskrise immer mehr Autonomie<br />

verlangen konnte. Dasselbe passierte in<br />

Nordtirol, das zwar als Teil Österreichs<br />

fest verankert war, dem aber ein Stück<br />

des Kernlandes fehlte. „Wenn man die<br />

Zeit des Faschismus als interne Kolonialisierung<br />

begreift, sind diese Identitätsfragen<br />

sehr komplex und vielschichtig, die<br />

ganz viele Grenzlinien überschreiten und<br />

wo es keine eindeutigen Zuschreibungen<br />

gibt“, resümiert die Zeithistorikerin. „Die<br />

ganze Region hat sich mit dieser neuen<br />

Grenze gesellschaftspsychologisch und in<br />

ihrer Identität verändern müssen.“<br />

Von den Zahlen zur Geschichte<br />

Den Innsbrucker Historiker*innen stehen<br />

aber für die Analyse solcher Fragen nicht<br />

nur die Unterlagen der „Optionskartei“<br />

zur Verfügung. Einerseits untersuchen<br />

sie als Fallbeispiele die Gemeinde Jenbach<br />

und das norditalienische Kanaltal im Detail.<br />

Andererseits hat Eva Pfanzelter mit<br />

ihrem Team bereits weitere 25.000 Karteikarten<br />

aus dem Staatsarchiv in Bozen digitalisiert<br />

und ausgewertet. Sie enthalten<br />

Informationen zu jenen Menschen, die<br />

nach 1945 wieder nach Südtirol zurückgekehrt<br />

sind. Durch den Abgleich der<br />

beiden Datenbanken können die Wissenschaftler*innen<br />

die Migrationsströme besser<br />

nachzeichnen. Und damit erklärt sich<br />

auch das grüne R auf vielen Karteikarten<br />

im Tiroler Landesarchiv. Der Buchstabe<br />

steht für die Rückübersiedelung nach<br />

Südtirol, die weitgehend auch in den<br />

Nordtiroler Akten vermerkt sind.<br />

Während die Archivarbeit normalerweise<br />

detaillierte Einblicke in Einzelschicksale<br />

liefert, bietet die Digitalisierung großer Bestände<br />

zunächst vor allem Zugang zu<br />

quantitativen Daten. Die Schwierigkeit besteht<br />

nun darin, diese beiden Zugänge zusammenzuführen.<br />

„Das ist eine große Herausforderung,<br />

aber natürlich auch sehr<br />

spannend“, sagt Pfanzelter. „Wir als Geisteswissenschaftler*innen<br />

müssen unsere<br />

komplexe Sprache reduzieren auf Nullen<br />

und Einsen, zumindest auf Wortteile oder<br />

quantifizierbare Dinge, wollen aber doch<br />

auch unsere diskursiven Fähigkeiten einbringen.<br />

Es geht für uns also auch um die<br />

Frage, wie kommt man vom Zählen wieder<br />

zum Erzählen.“<br />

cf<br />

Fotos: Das Alte Jenbach https://www.jenba.ch/industrie/die-heinkel-werke/ (1), https://www.sprachinseln.it/de/reimmichlkalenderbeitrag-kanaltal-2010.html (1)<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 13

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!