Zukunft Forschung 02/2022
Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck
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TITELTHEMA<br />
VOM ZÄHLEN<br />
ZUM ERZÄHLEN<br />
Mit digitalen Hilfsmitteln verschiebt die Zeithistorikerin Eva<br />
Pfanzelter die Grenzen der Geschichtswissenschaften und erzählt<br />
von der Südtiroler Option.<br />
EVA PFANZELTER: „Es handelt sich um einen einzigartigen Bestand, der umfassende und<br />
vielschichtige Daten über die Migrationsströme aus und nach Südtirol enthält.“<br />
Ein grünes R prangt auf der Karteikarte<br />
in den Händen von Eva<br />
Pfanzelter. Auf dem postkartengroßen<br />
Dokument der „Dienststelle<br />
Umsiedlung Südtirol“ finden sich ein<br />
Name, das Geburtsdatum, Angaben zur<br />
Familie und zum Beruf, handschriftliche<br />
Vermerke, Stempel und Markierungen.<br />
267.000 solche Karteikarten befinden<br />
sich im Tiroler Landesarchiv, zusammen<br />
mit den dazugehörigen Akten. Sie<br />
erzählen über jene Menschen, die 1939<br />
für die Auswanderung aus Südtirol gestimmt<br />
hatten.<br />
Diese Dokumente einzeln zu erfassen,<br />
erscheint wie eine Sisyphusarbeit. Mit<br />
Unterstützung von Robotern und künstlicher<br />
Intelligenz können die Forscher*innen<br />
um Eva Pfanzelter vom Institut für<br />
Zeitgeschichte diesen einzigartigen Datenbestand<br />
nun digitalisieren. Die Karten<br />
wurden in Zusammenarbeit mit Innsbruck<br />
University Innovations bereits automatisiert<br />
gescannt und werden nun mit<br />
Hilfe der von der Universität Innsbruck<br />
mitentwickelten und auf künstlicher Intelligenz<br />
basierenden Schrifterkennungssoftware<br />
Transkribus eingelesen. Ein vorgegebenes<br />
Raster erklärt der Software,<br />
wo welche Informationen zu finden sind.<br />
Dann wird die Software an zahlreichen<br />
Karten trainiert, bis ein Modell entsteht,<br />
mit dem der Computer alle Informationen<br />
auf den Karten identifizieren kann.<br />
„Je besser das Trainingsmodell ist, desto<br />
weniger müssen die Daten später manuell<br />
korrigiert werden. Bis Ende dieses Jahres<br />
hoffen wir, alle Informationen in einer<br />
Datenbank zu haben, die wir dann mit<br />
der Unterstützung von Freiwilligen noch<br />
nachbearbeiten werden.“<br />
Einzigartige Datensammlung<br />
Die umfangreiche Datenbank liefert einen<br />
guten Überblick über die deutschsprachige<br />
Bevölkerung Südtirols mit Geburtsdaten,<br />
Familienzusammenhängen und<br />
Berufen. Öffentlich zugänglich wird sie<br />
sowohl der Familienforschung als auch<br />
anderen <strong>Forschung</strong>svorhaben reichhaltige<br />
Informationen bieten. „Es handelt<br />
sich hier um einen einzigartigen Bestand,<br />
der umfassende und vielschichtige Daten<br />
über die Migrationsströme aus und nach<br />
Südtirol enthält“, betont Eva Pfanzelter.<br />
Der zugrunde liegende Bestand der<br />
„Dienststelle Umsiedlung Südtirol“ geht<br />
auf das Optionsabkommen zwischen<br />
dem Deutschen Reich und Italien zurück.<br />
Bei der Italianisierung Südtirols während<br />
des Faschismus in den zwanzig Jahren<br />
vor diesem Abkommen ging es vor allem<br />
darum, das neu erworbene Territorium so<br />
italienisch wie möglich zu machen. Das<br />
bedeutete, die Verwendung der deutschen<br />
Sprache und Kultur einzuschränken.<br />
„Der Brenner wurde sehr rasch zum<br />
Statussymbol für die Grenze zwischen<br />
Italien und dem deutschsprachigen Ausland“,<br />
erklärt die Zeithistorikerin: „Für<br />
Mussolini war der Brenner die nördliche<br />
Grenze Italiens, die nicht angetastet wer-<br />
12 zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />
Foto: Andreas Friedle