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Zukunft Forschung 02/2022

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

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Ausgabe 2/2<strong>02</strong>2, 14. Jg.<br />

zukunft forschung <strong>02</strong> | 22<br />

zukunft<br />

forschung<br />

GRENZFRAGEN<br />

thema: grenzen in der forschung | pharmazie: neuer blick auf arzneimittel<br />

wirtschaft: die visualisierung der arbeit | holzbau: geeignet für großbauten<br />

rechtswissenschaft: menschenrechte schützen | informatik: lernende roboter<br />

DAS MAGAZIN FÜR WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG DER UNIVERSITÄT INNS BRUCK


Rider: Roman Rohrmoser / Photo: Tom Klocker<br />

hybrid<br />

Steigfelle<br />

Aus dem Herz der Alpen,<br />

auf die Berge der Welt …<br />

… auf unseren contour Steigfellen<br />

mit hybrid Klebertechnologie<br />

#wearebackcountry<br />

contourskins.com<br />

contourskins<br />

2 zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Foto: Andreas Friedle


EDITORIAL<br />

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,<br />

Grenzen prägen manchmal offensichtlich, manchmal subtil<br />

unseren Alltag, grenzen etwas real, symbolisch oder<br />

auch nur im Kopf ein, aus oder ab. Sie markieren – ganz<br />

wertfrei betrachtet – Übergänge und bieten daher viele spannende<br />

Anknüpfungspunkte für Wissenschaft und <strong>Forschung</strong>,<br />

weshalb „Grenzen“ diesmal den inhaltlichen Schwerpunkt<br />

unseres Magazins bilden.<br />

Ein großes Thema, das zahlreiche WissenschaftlerInnen an der<br />

Universität Innsbruck beschäftigt, ist die Teilung Tirols nach<br />

dem Ersten Weltkrieg. Die Folgen dieser Grenzziehung greifen<br />

wir beispielhaft anhand einer zeithistorischen Untersuchung<br />

zur Südtiroler Option auf. Grenzen sind aber auch in Hinblick<br />

auf Migration und Rechtsprechung von Bedeutung, beidem<br />

räumen wir in der aktuellen Ausgabe Platz ein. Grenzen als<br />

Übergänge hingegen beschäftigen MeteorologInnen, die Gebirgsgrenzschichten<br />

als Entstehungsorte für Wetter und Klima<br />

besser verstehen wollen. Aber auch Architektur- und Literaturforschung<br />

erweitern den Blick und das Verständnis von Grenzen<br />

im vorliegenden Magazin.<br />

Darüber hinaus vermitteln wir, wie gewohnt, spannende Einblicke<br />

in die große Bandbreite aktueller Projekte an der Universität<br />

Minion<br />

Innsbruck: So wird an der österreichweit einzigen Professur für<br />

Klinische Pharmazie für mehr Therapiesicherheit<br />

DE<br />

bei KrebspatientInnen<br />

geforscht. Aber auch über Menschenrechtsschutz<br />

und Tierwohl in Österreich sowie über die <strong>Zukunft</strong> von Hochhäusern<br />

in Holzbauweise und über viele weitere Neuigkeiten<br />

berichten wir auf den folgenden Seiten.<br />

PEFC zertifiziert<br />

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nachhaltig<br />

bewirtschafteten<br />

Wir wünschen Ihnen viel Freude bei Lektüre und angenehme<br />

Wäldern und<br />

Weihnachtsfeiertage!<br />

kontrollierten<br />

Quellen<br />

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TILMANN MÄRK, REKTOR<br />

ULRIKE TANZER, VIZEREKTORIN FÜR FORSCHUNG<br />

Myriad<br />

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IMPRESSUM<br />

Herausgeber & Medieninhaber: Leopold-Franzens-Universität Inns bruck, Christoph-Probst-Platz, Innrain 52, 6<strong>02</strong>0 Inns bruck, www.uibk.ac.at<br />

Projektleitung: Büro für Öffentlichkeitsarbeit und Kulturservice – Mag. Uwe Steger (us), Dr. Christian Flatz (cf), Mag. Eva Fessler (ef); publicrelations@uibk.ac.at<br />

Verleger: KULTIG Werbeagentur KG – Corporate Publishing, Maria-Theresien-Straße 21, 6<strong>02</strong>0 Inns bruck, www.kultig.at<br />

Redaktion: Mag. Melanie Bartos (mb), Mag. Andreas Hauser (ah), Mag. Stefan Hohenwarter (sh), Lea Lübbert, BSc (ll) Lisa Marchl, MSc (lm),<br />

Fabian Oswald, MA (fo), Mag. Susanne Röck (sr) Lektorat & Anzeigen: MMag. Theresa Koch Layout & Bildbearbeitung: Mag. Andreas<br />

Hauser, Florian Koch Fotos: Andreas Friedle, Universität Inns bruck Druck: Gutenberg, 4<strong>02</strong>1 Linz<br />

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Foto: Uni Inns bruck<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 3


BILD DER<br />

WISSENSCHAFT


INHALT<br />

TITELTHEMA<br />

8<br />

METEOROLOGIE. Das Projekt TEAMx will neue Erkenntnisse<br />

über die Prozesse in der Gebirgsgrenzschicht gewinnen, um<br />

Wetterprognosen und alpine Klimaprojektionen zu verbessern. 8<br />

ZEITGESCHICHTE. Mit digitalen Hilfsmitteln verschiebt Eva<br />

Pfanzelter die Grenzen der Geschichtswissenschaften und erzählt<br />

von der Südtiroler Option. 12<br />

MIGRATION. Zivilgesellschaftliches Engagement zum Schutz von<br />

Migrant*innen läuft offizieller Politik meist zuwider. Julia Mourão<br />

Permoser untersucht die daraus entstehenden Konflikte. 14<br />

LITERATURWISSENSCHAFT. Julia Pröll befasst sich mit<br />

ermächtigenden Potenzialen von Grenzerfahrungen, wie sie sich<br />

in der französischsprachigen Migrationsliteratur artikulieren. 16<br />

TITELTHEMA. Grenzen – ob real, symbolisch oder<br />

auch nur im Kopf – markieren Übergänge und bieten<br />

daher Anknüpfungspunkte für Wissenschaft und<br />

<strong>Forschung</strong>. Einige davon stellt Ihnen diese Ausgabe<br />

von ZUKUNFT FORSCHUNG vor.<br />

30<br />

GESCHICHTE. Was Europäer*innen übereinander denken, was<br />

„europäisch“ ist und was nicht, wird am <strong>Forschung</strong>szentrum<br />

„Europakonzeptionen“ erforscht.18<br />

FORSCHUNG<br />

STANDORT. Rektor Tilmann Märk und Vizerektorin Ulrike Tanzer<br />

über viele Jahre im Wissenschaftsmanagement, die <strong>Forschung</strong>sleistung<br />

der Uni Innsbruck und regionale Kooperationen. 24<br />

WIRTSCHAFT. Andreas Eckhardt forscht zur <strong>Zukunft</strong> der Arbeit<br />

und untersucht, wie virtuelle Organisationen Unternehmen helfen<br />

können, auf die Herausforderungen unserer Zeit zu reagieren. 26<br />

RECHTSWISSENSCHAFT. Verena Murschetz beobachtet,<br />

wie es um die Einhaltung von Menschenrechten<br />

in heimischen Justizanstalten, Polizeianhaltezentren<br />

und anderen Orten des Freiheitsentzugs steht.<br />

36<br />

INFORMATIK. Justus Piaters Roboter soll aus gelernten Bewegungen<br />

neue erschließen und mit dem Menschen interagieren lernen. 28<br />

PHARMAZIE. Anita Weidmann will einen neuen Blick auf<br />

Medikamente etablieren, der dabei helfen soll, die Arzneimitteltherapiesicherheit<br />

zu verbessern. 34<br />

ETHNOLOGIE. Nadja Neuner-Schatz im Interview über das<br />

Verhältnis von Landwirt*innen zu ihren Tieren, den Begriff<br />

Tierwohl und über „Forschen zwischen Nähe und Distanz“. 42<br />

HOLZBAU. Der Holzbau boomt, allerdings nicht<br />

bei Großbauten. Das Projekt BIGWOOD will daher<br />

Barrieren und Vorurteile gegenüber dem Einsatz von<br />

Holz bei mehrgeschoßigen Gebäuden abbauen.<br />

RUBRIKEN<br />

EDITORIAL/IMPRESSUM 3 | BILD DER WISSENSCHAFT: FORSCHUNGSSTATION HINTEREISFERNER 4 | NEUBERUFUNG: BARBARA SCHNEIDER-MUNTAU 6 | FUNDGRUBE VER GANGEN -<br />

HEIT: 100 JAHRE BERUFUNG BRUNO SANDER 7 | MELDUNGEN 22 + 41 | GURGL CARAT 33 | WISSENSTRANSFER 38 – 40 | PREISE & AUSZEICHNUNGEN 45 – 47 | ZWISCHENSTOPP:<br />

SCOTT HILL 48 | SPRUNGBRETT INNS BRUCK: BARBARA WEBER 49 | ESSAY: REGULIEREN JENSEITS DER GRENZE von Andreas Th. Müller 50<br />

Bei genauem Hinsehen erkennt man inmitten der Bergwelt der Ötztaler<br />

Alpen einen kleinen Container, in dem große Datenmengen für die Wissenschaft<br />

generiert werden. In der <strong>Forschung</strong>sstation am „Hinteren Eis“<br />

auf über 3.000 Metern befindet sich ein weltweit einzigartiges System<br />

zur Beobachtung der Gletscherentwicklung: Mit einem terrestrischen<br />

Laserscanner wird die Oberfläche des Hintereisferners seit 2016 regelmäßig<br />

abgetastet und damit die Veränderung der Masse des Gletschers<br />

in Echtzeit vermessen. Die so gewonnenen Informationen über einen<br />

der größten Gletscher Tirols fließen in die Arbeit zahlreicher Forscher*innen<br />

an der Fakultät für Geo- und Atmosphärenwissenschaften ein.<br />

Fotos: AdobeStock / Dominik Kindermann(1), Andreas Friedle (1), proHolz Tirol (1); COVERFOTO: AdobeStock / Dominik Kindermann(1); BILD DER WISSENSCHAFT: Eva Fessler<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 5


NEUBERUFUNG<br />

BARBARA SCHNEIDER-MUNTAU<br />

(*1975) studierte von 1995 bis 2003 Bauingenieurwesen<br />

– Vertiefung Geotechnik<br />

– an der Technischen Universität Darmstadt.<br />

Jeweils ein Studienjahr verbrachte<br />

sie in Florenz (1998 – 1999) und in Lausanne<br />

(2001 – 20<strong>02</strong>). Sie promovierte ab<br />

2006 an der Uni Innsbruck am Arbeitsbereich<br />

für Geotechnik und Tunnelbau.<br />

Im Anschluss an ihre Beschäftigung als<br />

Senior Scientist in diesem Arbeitsbereich<br />

wurde sie im April 2<strong>02</strong>2 Professorin für<br />

Bodenmechanik an der Universität Innsbruck.<br />

ROLE MODEL IN DER TECHNIK<br />

Barbara Schneider-Muntau legt ihren Fokus auf die Erarbeitung<br />

nachhaltiger Lösungsansätze, um den Berg zu stabilisieren.<br />

Den meisten Spaß hatte Barbara<br />

Schneider-Muntau schon immer<br />

an den mathematischen und naturwissenschaftlichen<br />

Fächern. Nach<br />

dem Abitur fiel ihre Wahl auf das Bauingenieurwesen,<br />

weil „es so vielfältig ist,<br />

und man sich nicht schon zu Studienbeginn<br />

auf eine bestimmte Richtung festlegen<br />

muss.“ Sie begann ihr Studium in<br />

Darmstadt und entschied nach dem Vordiplom,<br />

sich in Geotechnik zu vertiefen.<br />

„Die Nähe zur Naturwissenschaft – zur<br />

Geologie und Geografie – und der hohe<br />

Frauenanteil der Arbeitsgruppe haben<br />

mich angezogen“, erinnert sie sich. Um<br />

andere Universitäten kennenzulernen,<br />

verbrachte sie jeweils ein Jahr in Florenz<br />

und Lausanne, für ihre Diplomarbeit zog<br />

es sie erneut in die Berge. Am Arbeitsbereich<br />

für Geotechnik der Universität<br />

Innsbruck schrieb sie ihre Diplomarbeit<br />

über Murprozesse.<br />

Schneider-Muntau arbeitete nach ihrem<br />

Abschluss drei Jahre als Projektingenieurin<br />

bei AlpS im Naturgefahrenmanagement<br />

und promovierte anschließend<br />

an der Universität Innsbruck zum Thema<br />

„Modellierung von Kriechhängen“. Sie<br />

beschreibt sich selbst als neugierigen und<br />

umtriebigen Menschen und fühlt sich<br />

damit in der <strong>Forschung</strong> gut aufgehoben.<br />

„Routine ist für mich schrecklich! In der<br />

Wissenschaft gibt es immer neue Ideen“,<br />

so Schneider-Muntau.<br />

Ihren <strong>Forschung</strong>sschwerpunkt setzt<br />

sie seitdem auf die möglichst realitätsnahe<br />

numerische Modellierung natürlicher<br />

Prozesse. „Es geht primär darum,<br />

wie der Boden belastet wird und welche<br />

Verformung daraus resultiert“, erklärt sie.<br />

In <strong>Zukunft</strong> will Schneider-Muntau ihren<br />

Fokus auf die Berechnung von durch den<br />

Klimawandel bedingten Szenarien und<br />

dessen Einfluss auf die Veränderung geotechnischer<br />

Phänomene legen.<br />

Modellierung & Klimawandel<br />

Durch den Klimawandel ändern sich<br />

die äußeren Faktoren, die in die Modellierung<br />

einbezogen werden, so Schneider-Muntau.<br />

So könne dessen Einfluss<br />

auf den Boden abgeschätzt werden. Eine<br />

Veränderung der Geschwindigkeit der<br />

Schneeschmelze würde sich beispielsweise<br />

deutlich auf die Hangstabilität auswirken.<br />

„Die Berechnung wird immer wichtiger,<br />

vor allem wenn man in Richtung<br />

nachhaltiger Lösungsansätze denkt“, betont<br />

sie. Man merke an der Art der Prozesse,<br />

dass ein Wandel stattfinde. „Mich<br />

interessiert, was getan werden kann, um<br />

den Berg zu stabilisieren. Aber eben nicht,<br />

indem beispielsweise große Betonbauwerke<br />

errichtet werden, sondern auf eine<br />

sanfte und natürliche Art und Weise“,<br />

erzählt sie. Ihre Expertise in dieser Thematik<br />

bringt sie ebenfalls in den nächsten<br />

österreichischen Sachstandsbericht zum<br />

Klimawandel – dem „Austrian Assessment<br />

Report“ (ARR) – ein.<br />

Vorbild für Ingenieurinnen<br />

Schneider-Muntau ist die zweite Professorin<br />

innerhalb der Fakultät für Technische<br />

Wissenschaften. „Es freut mich besonders,<br />

hier als Role Model wirksam zu sein“. Studentinnen<br />

kommen gerne zu ihr, erzählt<br />

sie, denn „die Befürchtung, als Frau nicht<br />

ernst genommen zu werden, fällt weg.“<br />

Sie nimmt ihre Vorbildfunktion sehr ernst:<br />

„Wir haben ungefähr 17 Prozent Frauenanteil<br />

unter den Studierenden – und das<br />

müsste nicht so wenig sein. Es ist höchste<br />

Zeit, dass sich da was tut.“ ll<br />

6 zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Foto: Andreas Friedle


FUNDGRUBE VERGANGENHEIT<br />

EIN GEFÜGIGER FORSCHER<br />

Vor 100 Jahren wurde Bruno Sander zum Professor für Mineralogie und Petrographie bestellt. Seine<br />

Berufung war umstritten, für die Universität aber ein Glücksfall, gilt er doch als Pionier der Gefügekunde.<br />

Als Bruno Sander am 1. Oktober 1922<br />

zum Professor der Mineralogie<br />

und Petrographie an der Universität<br />

Innsbruck ernannt wurde, war seiner<br />

Berufung ein intensiver Briefwechsel vorausgegangen.<br />

Sander sei zwar, schrieb<br />

etwa der Wiener Mineralogie-Ordinarius<br />

Friedrich Becke, ein hochgeschätzter Geologe,<br />

seine Beschäftigung mit dem eigentlichen<br />

Fach aber nur rudimentär. „Einem<br />

solchen Mann die Professur für Mineralogie<br />

und Petrographie zu übertragen, halte<br />

ich für unmöglich“, schlussfolgerte Becke.<br />

Dennoch, in Innsbruck hielt man an Sander<br />

fest, der daher am 23. November 1922<br />

seine Antrittsvorlesung halten konnte.<br />

„Sander dachte sehr fraktal“, sagt Bernhard<br />

Fügenschuh, Professor für Strukturgeologie<br />

an der Universität Innsbruck:<br />

„Er verfolgte unter anderem die Frage, ob<br />

sich die Symmetrie von Kristallen in der<br />

Symmetrie von Gesteinen und schließlich<br />

von Gebirgen abbildet.“ Sanders Interesse<br />

galt der kristallografischen Vorzugsorientierung<br />

– der Textur, wie es heute heißt.<br />

Er untersuchte die Lage und Orientierung<br />

von Kristallen bzw. deren Achsen im Gestein<br />

und stellte die Frage nach dem Zusammenhang.<br />

Sein Arbeitsgerät war – unter<br />

anderem – ein mit einem Mikroskop<br />

verbundener Universaldrehtisch, mit dem<br />

er Gesteinsdünnschliffe charakterisierte.<br />

„Sander bestimmte für jeden einzelnen<br />

Kristall die Orientierung. Eine mühevolle<br />

Arbeit“, weiß Fügenschuh. Vor allem, da<br />

Sander dies, farblich hinterlegt, auf Papier<br />

übertrug. Die derart entstandenen „Farbmosaike“<br />

(siehe Abb. rechts) veranschaulichten<br />

etwa die Dominanz bestimmter<br />

kristallografischer Orientierungen im<br />

untersuchten Gestein gegenüber anderen<br />

Kristallen. Sander gab dieser Methode den<br />

Namen Achsenverteilungsanalyse (AVA).<br />

„Dieser Ansatz war genial und hat heute<br />

noch Bestand“, sagt Fügenschuh. Vor allem,<br />

da Sander das kristallografische Denken,<br />

das auf den einzelnen Kristall abzielt,<br />

mit Hilfe der AVA auf die benachbarten<br />

Kristalle ausdehnte.<br />

BRUNO SANDER (1884 – 1979)<br />

studierte an der Universität Innsbruck,<br />

promovierte 1907 im Fach Geologie und<br />

habilitierte sich 1912. Ab 1913 war er an<br />

der Geologischen Reichsanstalt (später<br />

Staatsanstalt) tätig, 1922 erfolgte die Berufung<br />

zum Professor für Mineralogie und<br />

Petrographie in Innsbruck. Sander wurde<br />

national und international mit Preisen,<br />

Ehrendoktoraten und -mitgliedschaften<br />

ausgezeichnet. Mit dem Sanderit trägt ein<br />

Mineral, mit dem Bruno-Sander-Haus ein<br />

Innsbrucker Universitätsgebäude und im<br />

ostantarktischen Viktorialand der Sanderpass<br />

seinen Namen. Unter Anton Santer<br />

war Sander auch als Schriftsteller tätig. Er<br />

gehörte zur Brenner-Gruppe und veröffentlichte<br />

in den Zeitschriften Der Brenner,<br />

Wort im Gebirge und Seefelder Zeitung.<br />

Das Porträt Sanders stammt von Wilfried<br />

Kirschl (1930 – 2010) und entstand 1965<br />

anlässlich der Ehrenringvergabe durch die<br />

Stadt Innsbruck an Bruno Sander.<br />

Sanders wissenschaftliche Tätigkeit begann<br />

mit geologischen Kartierungsarbeiten,<br />

so erstellte er Kartenblätter für Modena<br />

und Brixen. Die geologische Feldarbeit<br />

und die damit verbundene Analyse der<br />

äußeren und inneren Gestaltung geologischer<br />

Körper führte zum Konzept der Gefügekunde,<br />

das Sander weltweit bekannt<br />

machte. Seine aus den Dünnschliff-Untersuchungen<br />

abgeleitete Erkenntnis, dass<br />

die Gefügesymmetrie die grundlegende<br />

Eigenschaft natürlich deformierter Gesteine<br />

ist, darf als Sanders wichtigster Beitrag<br />

zur Strukturgeologie angesehen werden.<br />

Dünnschliffe fürs Gebirge<br />

Sein Arbeitsgebiet im Gelände war das<br />

Tauernfenster: eine Region in Tirol, Salzburg<br />

und Kärnten, im Westen scharf abgegrenzt<br />

durch das Wipptal, mit klaren,<br />

ost-west-verlaufenden Grenzen bis zur<br />

Line Schladming – Mauterndorf im Osten.<br />

„Innerhalb des Tauernfensters gibt es eine<br />

Struktur mit Zentralgneiskernen wie dem<br />

Zillertaler-, Tuxer- und Ahornkern. Das<br />

waren Symmetriefragen, die Sander beschäftigten“,<br />

sagt Fügenschuh. Im großen<br />

Gebirgsmaßstab suchte Sander jene Symmetrien,<br />

die er in Dünnschliffen von Tauern-Gesteinen<br />

gefunden hatte. Im Zuge<br />

dessen beschäftigte er sich auch mit den<br />

Faltenachsen im Gebirge und definierte, so<br />

Fügenschuh, „eine B-Achsen-Kinematik“.<br />

Wisse man, wie Faltenachsen im Gebirge<br />

verlaufen, wisse man auch, wie der Schub<br />

darauf, nämlich normal, gewirkt habe.<br />

„Das hat sich als teilrichtig herausgestellt.<br />

Es trifft auf niedermetamorphe Gebirgsbereiche<br />

zu. Im Kernbereich von Gebirgen<br />

verlaufen Bewegung aber oft parallel zu<br />

den Faltenachsen“, erklärt Fügenschuh.<br />

33 Jahre nach seiner Berufung emeritierte<br />

Sander – als Begründer einer weltweit<br />

renommierten „Innsbrucker mineralogisch-geologischen<br />

Schule“ und als Verfasser<br />

internationaler Standardwerke wie<br />

„Gefügekunde der Gesteine“ oder seine<br />

„Einführung in die Gefügekunde der geologischen<br />

Körper“. <br />

ah<br />

Foto: <strong>Forschung</strong>sinstitut Brenner-Archiv / Johannes Plattner; Institut für Mineralogie und Petrographie / Bernhard Fügenschuh<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 7


8 zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Foto: Andreas Friedle


TURBULENTE FRAGEN<br />

Die Grenzschicht ist die erdnächste Schicht der Atmosphäre. Sie ist hochrelevant für Wetter<br />

und Klima, da in ihr sämtliche Austauschprozesse zwischen Erdoberfläche und Atmosphäre<br />

stattfinden. Besonders komplex sind diese Prozesse über dem Gebirge. In dem Projekt TEAMx<br />

will eine internationale Gemeinschaft von Forscherinnen und Forschern neue Erkenntnisse<br />

über die Prozesse in dieser Gebirgsgrenzschicht gewinnen, um Wetterprognosen und alpine<br />

Klimaprojektionen zu verbessern.<br />

Foto: Andreas Friedle<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 9


TITELTHEMA<br />

DIE i-BOX ist ein System aus<br />

mehreren Messstationen, um<br />

ein möglichst vollständiges<br />

Bild der Grenzschichtprozesse<br />

im Inntal erzeugen zu können.<br />

Im Mittelpunkt des Interesses<br />

stehen dabei die Turbulenzen,<br />

da die Turbulenzstruktur eine<br />

wichtige Rolle bei Austauschprozessen<br />

von Impuls, Masse<br />

und Energie zwischen der Erdoberfläche<br />

und der Atmosphäre<br />

spielt. Zum Einsatz kommen<br />

dabei u. a. Sonic Anemometer,<br />

also Sensoren, die – wie hier<br />

am Arbeser Kogel – mittels<br />

akustischer Signale Turbulenzen<br />

in der Atmosphäre messen<br />

können.<br />

Das Tal im wattig-weißen Frühnebel,<br />

die Berghänge hingegen im gleißenden<br />

Sonnenlicht – für die einen fantastische<br />

Aussicht nach mühevollem Aufstieg,<br />

für andere, vor allem für Meteorologinnen<br />

und Meteorologen, ein Blick auf den oberen<br />

Rand der atmosphärischen Grenzschicht. Mit<br />

einem Mantel, der die Erdoberfläche umhüllt,<br />

verglich der deutsche Meteorologe und Klimatologe<br />

Karl Schneider-Carius (1896 – 1959)<br />

jene unterste Schicht der Atmosphäre und benannte<br />

sie nach peplos – altgriechisch für Mantel<br />

– Peplosphäre.<br />

Weniger metaphorisch ist heute die Bezeichnung<br />

atmosphärische Grenzschicht<br />

(atmospheric boundary layer, ABL) in Verwendung,<br />

was nichts daran ändert, dass sie<br />

im Zentrum zahlreicher <strong>Forschung</strong>svorhaben<br />

steht. Kein Wunder, ist der – im Schnitt – erste<br />

Kilometer über der Erdoberfläche doch<br />

höchst relevant für unser Wetter und Klima.<br />

„Die Grenzschicht ist vor allem interessant,<br />

weil in ihr alle Austauschvorgänge zwischen<br />

Erdoberfläche und freier Atmosphäre<br />

stattfinden“, erläutert Mathias Rotach vom<br />

Institut für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaften<br />

der Universität Innsbruck.<br />

Ausgetauscht werden etwa Impuls, Wärme,<br />

Wasser und Spurenstoffe, Schadstoffe eingeschlossen.<br />

„Verdunstung passiert an der<br />

Erdoberfläche. Wasserdampf steigt auf und<br />

kondensiert, es kommt zur Wolkenbildung<br />

und zum Niederschlag. Dies wird durch die<br />

Grenzschicht bewerkstelligt“, beschreibt Rotach<br />

einen solchen Austauschvorgang. Angetrieben<br />

werden diese Austausche durch eine<br />

„chaotische Bewegung“, die Turbulenz. In<br />

der Folge wirken sie sich auf so unterschiedliche<br />

Phänomene wie Klima, Sturmsysteme,<br />

Luftverschmutzung oder Gletscherschmelze<br />

aus. „Der Output von atmosphärischen<br />

Modellen wird daher von Kolleginnen und<br />

Kollegen genutzt, um z. B. hydrologische Modelle<br />

zu erstellen“, erklärt Rotach.<br />

Das Verständnis der atmosphärischen<br />

Turbulenz und der Art und Weise, wie sie in<br />

Wetter- und Klimamodellen berücksichtigt<br />

wird, stammt allerdings von Beobachtungen<br />

und Messungen über flachem Gelände, Austauschprozesse<br />

über komplexem Gelände wie<br />

z. B. über Gebirgen sind vielschichtiger. Rund<br />

30 Prozent der Erdoberfläche bestehen aus<br />

solch komplexem Gelände, das mangelnde<br />

Wissen über die darüber, in der Gebirgsgrenzschicht<br />

(mountain boundary layer, MoBL)<br />

stattfindenden Austauschprozesse führt zu<br />

Unsicherheiten bei Wettervorhersagen und<br />

Klimaprojektionen über Berggebieten, aber<br />

10 zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Foto: Ivana Stiperski (1), Grafik: TEAMx (1)


TITELTHEMA<br />

AUSTAUSCHPROZESSE sind in der Grenzschicht<br />

über Bergen komplexer als über flachem<br />

Gelände, zudem wird vermutet, dass der vertikale<br />

Transport in Richtung freier Atmosphäre über<br />

Bergen im Durchschnitt intensiver ist.<br />

auch über die globalen Wasser-, Energie- und<br />

Kohlenstoffkreisläufe.<br />

In TEAMx, einem Projekt, dessen voller Name<br />

Multi-scale transport and exchange processes<br />

in the atmosphere over mountains – programme<br />

and experiment lautet, hat sich nun eine internationale<br />

Gemeinschaft von Forscherinnen und<br />

Forschern zum Ziel gesetzt, das Verständnis<br />

dieser Prozesse in der MoBL zu verbessern.<br />

Langfristige Ziele von TEAMx, das vom Innsbrucker<br />

Institut für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaften<br />

koordiniert wird, sind<br />

die Optimierung numerischer Modelle und<br />

Beobachtungssysteme für die Anwendung<br />

über bergigem Gelände, die Verbesserung<br />

von Wettervorhersagen und Klimawandelszenarien<br />

über Gebirgen sowie die genauere<br />

Charakterisierung der globalen Kreisläufe von<br />

Wasser, Energie und Spurengasen.<br />

Messkampagne im Inntal<br />

„Im Frühjahr 2<strong>02</strong>4 wird die große TEAMx-<br />

Messkampagne starten“, berichtet Rotach.<br />

Mit Spezialausrüstungen ausgestattete internationale<br />

<strong>Forschung</strong>sgruppen werden einen<br />

„luftigen“ Brenner Basistunnel samt Zulaufstrecken<br />

unter die Lupe nehmen: das Inntal<br />

in seiner West-Ost-Ausrichtung, das von<br />

Norden nach Süden verlaufende Etschtal,<br />

sowie das Alpenvorland in Süddeutschland<br />

„Prozesse in der Gebirgsgrenzschicht sind für<br />

angewandte Simulationen wichtig – das kann<br />

die Luftqualität, die Wasserversorgung, die<br />

Stromerzeugung durch Erneuerbare Energien<br />

oder die Landwirtschaft betreffen.“ Mathias Rotach<br />

und Norditalien. Vor allem das Inntal bringt<br />

– abseits seiner geografischen Lage – optimale<br />

Voraussetzungen mit, gibt es doch, so Rotach,<br />

„wahrscheinlich keine andere alpine Region,<br />

die derart dicht mit ständigen Messstationen<br />

besetzt ist“. Eine davon ist die von Rotach<br />

initiierte Innsbruck-Box, in Anlehnung an<br />

Apple kurz i-Box genannt. „Um eine Theorie<br />

der Grenzschichtforschung über flachem<br />

und homogenem Gelände zu überprüfen, benötigt<br />

man nur einen Punkt, eine stationäre<br />

Messstation. Nur: Diese Homogenität gibt es<br />

eigentlich nirgends, eventuell in der Wüste“,<br />

sagt Rotach. Zur Überprüfung benötigt es also<br />

auch Höhe, man bedient sich z. B. In-situ-Sensorik<br />

an Masten oder bodengebundener Fernsondierungsverfahren.<br />

Nur: Mit der Höhe allein<br />

ist es auch nicht getan. „Mit der i-Box haben<br />

wir ein dreidimensionales Arrangement“,<br />

erklärt Rotach. Sechs Stationen, an charakteristischen<br />

Plätzen im zentralen Inntal (Nordund<br />

Südhang, Tallage, Bergkamm, Wiese,<br />

Wald, bebautes Gebiet…) aufgestellt, bilden<br />

die i-Box, gemessen werden vor allem Turbulenz,<br />

aber auch Temperatur, Feuchte, CO 2 ,<br />

Sonneneinstrahlung etc. Die vorliegenden, bis<br />

zu zehn Jahre zurückreichenden Messreihen<br />

sollen auch helfen, „Daten aus der TEAMx-<br />

Messkampagne, die wir vielleicht nicht einordnen<br />

können, mit schon vorhandenen zu<br />

vergleichen“, schildert Mathias Rotach.<br />

Die Messkampagne erstreckt sich über ein<br />

komplettes Jahr (Frühjahr 2<strong>02</strong>4 bis Frühjahr<br />

2<strong>02</strong>5) und umfasst zwei Extensive Observation<br />

Periods (EOPs), eine im Sommer und eine im<br />

Winter. Die bestehenden Beobachtungs-<br />

und Überwachungsnetze<br />

werden mit zahlreichen<br />

Instrumentierungen und Messverfahren<br />

ergänzt: Das Karlsruher<br />

Institut für Technologie etwa<br />

rückt dem Inntal mit seinem KITcube<br />

zu Leibe, ein mobiles Gesamtbeobachtungssystem,<br />

das ein Atmosphärenvolumen<br />

von ca. zehn Kilometer Seitenlänge<br />

vermessen kann; die Technische Universität<br />

Braunschweig wiederum reist mit einem speziellen<br />

<strong>Forschung</strong>sflugzeug an, das in der tief<br />

gelegenen MoBL fliegen und messen kann.<br />

Davon Flugstunden gebucht hat unter anderem<br />

Rotachs Institutskollegin Ivana Stiperski,<br />

die in dem Projekt UNICORN – gefördert im<br />

Rahmen des ERC-Consolidator-Programms –<br />

ein neuartiges Framework zum Verständnis<br />

von oberflächennahen Turbulenzen in komplexem<br />

Gelände entwickeln will. ah<br />

AUSGANGSPUNKT des<br />

Projekts TEAMx war die 33.<br />

International Conference on<br />

Alpine Meteorology, die 2015<br />

in Innsbruck stattfand. Am<br />

Schlusstag diskutierte eine<br />

Runde von Forscherinnen<br />

und Forschern die Möglichkeit<br />

einer groß angelegten<br />

Messkampagne, wie sie schon<br />

in der Vergangenheit durchgeführt<br />

worden waren. 2017<br />

erfolgte die Einsetzung einer<br />

Coordination and Implementation<br />

Group, 2018 die Einrichtung<br />

eines Koordinationsbüros<br />

in Innsbruck, 2019 der erste<br />

TEAMx-Workshop in Rovereto<br />

mit 92 Teilnehmerinnen und<br />

Teilnehmern aus elf Nationen.<br />

In dem über die beteiligten Institutionen<br />

finanzierten Projekt<br />

wird eine breite Kampagne mit<br />

zahlreichen bodengestützten<br />

In-situ-, Fernerkundungs- und<br />

Flugzeugmessungen vorbereitet,<br />

die von Frühjahr 2<strong>02</strong>4 bis<br />

Frühjahr 2<strong>02</strong>5 dauern wird. An<br />

der Kampagne beteiligen sich<br />

Universitäten, <strong>Forschung</strong>seinrichtungen<br />

und Wetterdienste<br />

aus elf Ländern in<br />

Europa und den USA.<br />

Info: www.teamxprogramme.org<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 11


TITELTHEMA<br />

VOM ZÄHLEN<br />

ZUM ERZÄHLEN<br />

Mit digitalen Hilfsmitteln verschiebt die Zeithistorikerin Eva<br />

Pfanzelter die Grenzen der Geschichtswissenschaften und erzählt<br />

von der Südtiroler Option.<br />

EVA PFANZELTER: „Es handelt sich um einen einzigartigen Bestand, der umfassende und<br />

vielschichtige Daten über die Migrationsströme aus und nach Südtirol enthält.“<br />

Ein grünes R prangt auf der Karteikarte<br />

in den Händen von Eva<br />

Pfanzelter. Auf dem postkartengroßen<br />

Dokument der „Dienststelle<br />

Umsiedlung Südtirol“ finden sich ein<br />

Name, das Geburtsdatum, Angaben zur<br />

Familie und zum Beruf, handschriftliche<br />

Vermerke, Stempel und Markierungen.<br />

267.000 solche Karteikarten befinden<br />

sich im Tiroler Landesarchiv, zusammen<br />

mit den dazugehörigen Akten. Sie<br />

erzählen über jene Menschen, die 1939<br />

für die Auswanderung aus Südtirol gestimmt<br />

hatten.<br />

Diese Dokumente einzeln zu erfassen,<br />

erscheint wie eine Sisyphusarbeit. Mit<br />

Unterstützung von Robotern und künstlicher<br />

Intelligenz können die Forscher*innen<br />

um Eva Pfanzelter vom Institut für<br />

Zeitgeschichte diesen einzigartigen Datenbestand<br />

nun digitalisieren. Die Karten<br />

wurden in Zusammenarbeit mit Innsbruck<br />

University Innovations bereits automatisiert<br />

gescannt und werden nun mit<br />

Hilfe der von der Universität Innsbruck<br />

mitentwickelten und auf künstlicher Intelligenz<br />

basierenden Schrifterkennungssoftware<br />

Transkribus eingelesen. Ein vorgegebenes<br />

Raster erklärt der Software,<br />

wo welche Informationen zu finden sind.<br />

Dann wird die Software an zahlreichen<br />

Karten trainiert, bis ein Modell entsteht,<br />

mit dem der Computer alle Informationen<br />

auf den Karten identifizieren kann.<br />

„Je besser das Trainingsmodell ist, desto<br />

weniger müssen die Daten später manuell<br />

korrigiert werden. Bis Ende dieses Jahres<br />

hoffen wir, alle Informationen in einer<br />

Datenbank zu haben, die wir dann mit<br />

der Unterstützung von Freiwilligen noch<br />

nachbearbeiten werden.“<br />

Einzigartige Datensammlung<br />

Die umfangreiche Datenbank liefert einen<br />

guten Überblick über die deutschsprachige<br />

Bevölkerung Südtirols mit Geburtsdaten,<br />

Familienzusammenhängen und<br />

Berufen. Öffentlich zugänglich wird sie<br />

sowohl der Familienforschung als auch<br />

anderen <strong>Forschung</strong>svorhaben reichhaltige<br />

Informationen bieten. „Es handelt<br />

sich hier um einen einzigartigen Bestand,<br />

der umfassende und vielschichtige Daten<br />

über die Migrationsströme aus und nach<br />

Südtirol enthält“, betont Eva Pfanzelter.<br />

Der zugrunde liegende Bestand der<br />

„Dienststelle Umsiedlung Südtirol“ geht<br />

auf das Optionsabkommen zwischen<br />

dem Deutschen Reich und Italien zurück.<br />

Bei der Italianisierung Südtirols während<br />

des Faschismus in den zwanzig Jahren<br />

vor diesem Abkommen ging es vor allem<br />

darum, das neu erworbene Territorium so<br />

italienisch wie möglich zu machen. Das<br />

bedeutete, die Verwendung der deutschen<br />

Sprache und Kultur einzuschränken.<br />

„Der Brenner wurde sehr rasch zum<br />

Statussymbol für die Grenze zwischen<br />

Italien und dem deutschsprachigen Ausland“,<br />

erklärt die Zeithistorikerin: „Für<br />

Mussolini war der Brenner die nördliche<br />

Grenze Italiens, die nicht angetastet wer-<br />

12 zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Foto: Andreas Friedle


TITELTHEMA<br />

JENBACH bietet sich als Untersuchungsgemeinde an, da hier<br />

einerseits im Jenbacher Museum ein Bereich der Dauerausstellung<br />

der „Option“ gewidmet ist, der längst auf eine Neuinterpretation<br />

wartet. Andererseits ist Jenbach auch eine typische Gemeinde mit<br />

Arbeitsmigration, da mit den „Heinkel Werken“ (Bild) der größte<br />

Tiroler Rüstungsbetrieb hier beheimatet war. Neben tausenden<br />

Zwangsarbeiter*innen wurden in der Kriegszeit auch Arbeitskräfte<br />

aus Südtirol rekrutiert. Neben der typischen Südtiroler Siedlung<br />

nehmen die Forscher*innen weitere migrantische Aspekte wie<br />

Ressentiments, Vorurteile, kulturelle und soziale Auseinandersetzungen,<br />

aber ebenso Integration und Anpassung in den Blick.<br />

DAS KANALTAL im Dreiländereck Italien-Österreich-Slowenien<br />

mit dem Zentrum Tarvis ist für die Optionsgeschichte von besonderem<br />

Interesse, weil hier fast die gesamte deutschsprachige<br />

Bevölkerung nach der Umsiedlungsabmachung zwischen Hitler<br />

und Mussolini abgewandert und auch nicht mehr zurückgekehrt<br />

ist. So war das Kanaltal nach dem Krieg zu einem weitgehend<br />

italienischsprachigen Gebiet geworden, was mit großen wirtschaftlichen<br />

und kulturellen Änderungen einhergeht. Um diese<br />

nachzuzeichnen, analysieren die Innsbrucker Historiker*innen auch<br />

die Aktenbestände der Dienststelle Umsiedlung Südtirol zu einzelnen<br />

Migrant*innen aus dem Kanaltal.<br />

den durfte. Gleichzeitig war Südtirol aber<br />

das südlichste deutschsprachige Gebiet,<br />

der Brenner eine Grenze, die sprachlich<br />

Zusammengehörendes radikal trennte.“<br />

Adolf Hitlers Pakt mit Italien stand<br />

diese Grenze im Wege. Nach Verhandlungen<br />

kam es im Juni 1939 zum Optionsabkommen,<br />

in dem den deutschsprachigen<br />

Südtiroler*innen die Möglichkeit gegeben<br />

wurde, entweder ins Deutsche Reich auszuwandern<br />

oder italienisch zu werden.<br />

Rund 130.000 Südtiroler Haushalte gaben<br />

in der Abstimmung eine sogenannte Optionserklärung<br />

ab, etwa 86 Prozent davon<br />

entschieden sich für eine Auswanderung<br />

ins Deutsche Reich. In der Folge verließen<br />

75.000 Südtiroler*innen das Land in<br />

Richtung Innsbruck, der ersten Station bei<br />

der Ausreise. Nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

kehrte von diesen rund ein Drittel<br />

– zunächst illegal und dann in Folge der<br />

Rücksiedlungsabkommen von 1948 legal<br />

– in die Provinz Bozen zurück.<br />

Grenzen im Kopf<br />

Diese Teilung Tirols hat die Identität der<br />

Menschen in die Region erschüttert. Bis<br />

spät in die 1990er-Jahre bleibt die Suche<br />

nach einer Südtiroler Identität sehr präsent:<br />

„Gibt es so etwas wie eine Südtiroler<br />

Identität, oder gibt es sie nicht?“<br />

Diese Identitätskrise traf aber auch die<br />

Menschen in Nord- und Osttirol, da die<br />

Brennergrenze das Selbstverständnis<br />

des ehemaligen Kronlandes durchbrach.<br />

„Wenn wir uns die Region der heutigen<br />

Euregio anschauen und auf Identitätsfragen<br />

hin beleuchten, dann merkt man<br />

sehr schnell, dass die Phase der Italianisierung<br />

im Faschismus als eine Form der<br />

Kolonialisierung gelesen werden kann“,<br />

sagt Eva Pfanzelter. So seien die Freiheitsbestrebungen<br />

des Trentino damals begraben<br />

worden und Südtirol gleichzeitig<br />

die Region geworden, die aufgrund der<br />

Identitätskrise immer mehr Autonomie<br />

verlangen konnte. Dasselbe passierte in<br />

Nordtirol, das zwar als Teil Österreichs<br />

fest verankert war, dem aber ein Stück<br />

des Kernlandes fehlte. „Wenn man die<br />

Zeit des Faschismus als interne Kolonialisierung<br />

begreift, sind diese Identitätsfragen<br />

sehr komplex und vielschichtig, die<br />

ganz viele Grenzlinien überschreiten und<br />

wo es keine eindeutigen Zuschreibungen<br />

gibt“, resümiert die Zeithistorikerin. „Die<br />

ganze Region hat sich mit dieser neuen<br />

Grenze gesellschaftspsychologisch und in<br />

ihrer Identität verändern müssen.“<br />

Von den Zahlen zur Geschichte<br />

Den Innsbrucker Historiker*innen stehen<br />

aber für die Analyse solcher Fragen nicht<br />

nur die Unterlagen der „Optionskartei“<br />

zur Verfügung. Einerseits untersuchen<br />

sie als Fallbeispiele die Gemeinde Jenbach<br />

und das norditalienische Kanaltal im Detail.<br />

Andererseits hat Eva Pfanzelter mit<br />

ihrem Team bereits weitere 25.000 Karteikarten<br />

aus dem Staatsarchiv in Bozen digitalisiert<br />

und ausgewertet. Sie enthalten<br />

Informationen zu jenen Menschen, die<br />

nach 1945 wieder nach Südtirol zurückgekehrt<br />

sind. Durch den Abgleich der<br />

beiden Datenbanken können die Wissenschaftler*innen<br />

die Migrationsströme besser<br />

nachzeichnen. Und damit erklärt sich<br />

auch das grüne R auf vielen Karteikarten<br />

im Tiroler Landesarchiv. Der Buchstabe<br />

steht für die Rückübersiedelung nach<br />

Südtirol, die weitgehend auch in den<br />

Nordtiroler Akten vermerkt sind.<br />

Während die Archivarbeit normalerweise<br />

detaillierte Einblicke in Einzelschicksale<br />

liefert, bietet die Digitalisierung großer Bestände<br />

zunächst vor allem Zugang zu<br />

quantitativen Daten. Die Schwierigkeit besteht<br />

nun darin, diese beiden Zugänge zusammenzuführen.<br />

„Das ist eine große Herausforderung,<br />

aber natürlich auch sehr<br />

spannend“, sagt Pfanzelter. „Wir als Geisteswissenschaftler*innen<br />

müssen unsere<br />

komplexe Sprache reduzieren auf Nullen<br />

und Einsen, zumindest auf Wortteile oder<br />

quantifizierbare Dinge, wollen aber doch<br />

auch unsere diskursiven Fähigkeiten einbringen.<br />

Es geht für uns also auch um die<br />

Frage, wie kommt man vom Zählen wieder<br />

zum Erzählen.“<br />

cf<br />

Fotos: Das Alte Jenbach https://www.jenba.ch/industrie/die-heinkel-werke/ (1), https://www.sprachinseln.it/de/reimmichlkalenderbeitrag-kanaltal-2010.html (1)<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 13


TITELTHEMA<br />

GRENZEN DER MORAL<br />

Zivilgesellschaftliches Engagement zum Schutz von Migrant*innen läuft offizieller Politik von<br />

Nationalstaaten meist zuwider. Die daraus entstehenden Dilemmas und Konflikte stehen im Kern<br />

eines aktuellen Projekts von Julia Mourão Permoser.<br />

Bei ihrem Antrittsbesuch in Brüssel<br />

Anfang November betonte<br />

die neue italienische Ministerpräsidentin<br />

Giorgia Meloni, in der Migrationspolitik<br />

einen Fokus auf Außengrenzsicherung<br />

legen zu wollen. Kurz<br />

davor war bekannt geworden, dass ihre<br />

Regierung Schiffen von Seenotrettungs-<br />

Organisationen mit insgesamt rund 1.000<br />

geretteten Flüchtlingen ein Anlegen an<br />

italienischen Häfen untersagt. „Italien<br />

erlässt hier Verordnungen und Gesetze,<br />

die das Betreten des Hafens verbieten.<br />

Zugleich gibt es internationale Regelungen,<br />

die zur Rettung aus Seenot verpflichten<br />

– welche Norm zählt mehr?<br />

Diese Dilemmas und Konflikte, die ja<br />

fast immer auch mit Werten und Fragen<br />

der Moral verbunden sind, interessieren<br />

mich“, sagt Julia Mourão Permoser<br />

vom Institut für Politikwissenschaft,<br />

derzeit Gastprofessorin an der Universität<br />

Wien. „Zu Wertekonflikten gibt es<br />

einiges an <strong>Forschung</strong>sliteratur, im Fokus<br />

stehen dort aber meist Fragen wie die<br />

gleichgeschlechtliche Ehe, Abtreibung,<br />

sexuelles Verhalten – also der Gegensatz<br />

zwischen konservativ-religiösen und liberal-säkularen<br />

Einstellungen“, erklärt<br />

sie. Migrationspolitik ist genauso „moralisch“,<br />

folgt aber anderen Trennlinien.<br />

Vor allem im Gegensatz zwischen säkularen<br />

und religiösen Positionen ergeben<br />

sich hier teils völlig andere Standpunkte<br />

als bei den „klassischen“ Moralfragen.<br />

In ihrem Projekt „Migration as Morality<br />

Politics“ sieht sich Mourão Permoser<br />

politische Konflikte rund um Migration<br />

genauer an, insbesondere in Bezug auf<br />

die normativen Trennlinien.<br />

Zivilgesellschaft<br />

„Ich interessiere mich für zivilgesellschaftliches<br />

Engagement, das im Widerstand<br />

zu nationaler oder europäischer<br />

Politik stattfindet. Politik, die von diesen<br />

Akteur*innen aus grundsätzlichen<br />

Gründen als illegitim oder unmoralisch<br />

abgelehnt wird“, sagt die Politikwissenschaftlerin.<br />

Sie untersucht dabei Schutzräume,<br />

in denen Menschen, die nicht die<br />

Erlaubnis haben, sich in einem Land aufzuhalten,<br />

Schutz vor der Staatsmacht erhalten<br />

und in denen die Durchsetzungs-<br />

14 zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Fotos: AdobeStock / Giorgos (1), Foto Schuster (1)


TITELTHEMA<br />

möglichkeit des Staates verhindert oder<br />

zumindest erschwert wird. „Damit sind<br />

wir in einem sehr konfliktreichen Bereich,<br />

wir haben es mit normativ heiklen<br />

Themen zu tun: Ist dieses Engagement<br />

legitim? Gibt es prinzipielle Gründe, es<br />

abzulehnen oder gutzuheißen, und welche<br />

sind das?“ Drei Fallbeispiele beleuchtet<br />

die Politikwissenschaftlerin mit einer<br />

Mitarbeiterin konkret: Rettungsaktionen<br />

an den Grenzen, unter anderem Seenotrettung<br />

vor allem im Mittelmeer, wo<br />

(meist) Nichtregierungsorganisationen<br />

Migrant*innen vor dem Ertrinken retten<br />

und in europäische Häfen bringen; die<br />

Kirchenasyl-Bewegung, die vor allem,<br />

aber nicht nur in Deutschland und den<br />

USA verbreitet ist; und die wachsende<br />

Bewegung der „Sanctuary Cities“, wo<br />

Stadt- und Regionalverwaltungen im<br />

Widerspruch zu nationalen Vorgaben irreguläre<br />

Migrant*innen nicht verfolgen<br />

oder vor Verfolgung und Abschiebung<br />

bewusst schützen.<br />

„Sanctuary Cities sind in den USA formalisierter<br />

als in Europa und die Praxis<br />

sieht zum Beispiel so aus, dass es städtischen<br />

Institutionen, Behörden und Beamten<br />

verboten wird, bei Krankenhausaufenthalten,<br />

Schuleinschreibungen oder<br />

bei der Meldung eines Verbrechens nach<br />

dem Aufenthaltsstatus der Person zu fragen<br />

oder solche Informationen an nationale<br />

Einwanderungsbehörden weiterzugeben.“<br />

Im Gegensatz dazu steht die Politik<br />

in manchen europäischen Ländern,<br />

zum Beispiel im Vereinigten Königreich:<br />

„Im Vereinigten Königreich ist es Pflicht,<br />

bei Kontakten mit staatlichen Behörden<br />

den Aufenthaltsstatus anzugeben und<br />

diese Stellen müssen diese Information<br />

auch an Einwanderungsbehörden weitergeben.<br />

Dadurch wird der Zugang zu<br />

Leistungen verhindert – auch zu jenen,<br />

zu denen irreguläre Migrant*innen aufgrund<br />

allgemeiner Grundrechte einen<br />

Anspruch hätten –, denn jeder Kontakt<br />

mit den Behörden führt potenziell zu<br />

einer Abschiebung. Das Argument für<br />

diese Regel ist, irreguläre Migration effizienter<br />

verfolgen zu können.“ Sanctuary<br />

Cities, teils unter anderer Bezeichnung,<br />

gibt es aber auch in Europa: Barcelona,<br />

Palermo und Mailand sind Beispiele,<br />

Wales als Region bietet – soweit unter<br />

den strengen Regeln im Vereinigten Königreich<br />

möglich – unterstützende Informationen<br />

für irreguläre Migrant*innen,<br />

Asylwerber*innen und Menschen mit<br />

abgelehntem Asylstatus.<br />

Schutz vor Verfolgung<br />

Im Mittelmeer sind es humanitäre Organisationen<br />

aus der Zivilgesellschaft, die<br />

Menschen aus Seenot retten. „Diese Bewegung<br />

ist transnational, besteht sowohl<br />

aus einzelnen kleinen Crews als auch<br />

großen NGOs wie etwa Seawatch, SOS<br />

Méditerranée oder Ärzte ohne Grenzen<br />

und besteht ebenfalls schon seit Mitte<br />

der 2000er-Jahre“, erläutert Julia Mourão<br />

Permoser. Die Kirchenasyl-Bewegung<br />

wiederum bietet Verfolgten Schutz in<br />

kirchlichen Liegenschaften – entweder in<br />

Kirchen selbst oder anderswo mit Unterstützung<br />

der Kirchen.<br />

Rechtlich umstritten sind alle drei Formen,<br />

wird doch der (National-)Staat an<br />

der Durchsetzung geltenden Rechts gehindert.<br />

„Allein bei der Seenotrettung sehen<br />

wir immer wieder Gerichtsverfahren,<br />

JULIA MOURÃO PERMOSER (*1980 in<br />

Rio de Janeiro, Brasilien) forscht am Institut<br />

für Politikwissenschaft der Universität<br />

Innsbruck, derzeit bekleidet sie eine Gastprofessur<br />

an der Universität Wien. Bevor<br />

sie Mitarbeiterin der Universität Innsbruck<br />

wurde, hatte sie <strong>Forschung</strong>sstellen an<br />

der Universität Wien und an der Freien<br />

Universität Brüssel inne. Ihre Hauptforschungsinteressen<br />

sind Migration, der<br />

politische Umgang mit Diversität, die Rolle<br />

von Normen und Werten in der Politik<br />

sowie gegenwärtige Herausforderungen<br />

liberaler Demokratien im Hinblick auf<br />

den zunehmenden Pluralismus moderner<br />

Gesellschaften.<br />

die Seenotretter*innen werden wegen<br />

Schlepperei und Beihilfe zu illegaler Migration<br />

angeklagt. Die Seenotretter*innen<br />

argumentieren dabei mit ihrer Pflicht,<br />

Menschen zu retten, die über staatlichem<br />

Recht steht, der Staat dagegen – in Europa<br />

ist das zuletzt meist Italien als klagende<br />

Partei – mit der Durchsetzung geltenden<br />

Rechts auf seinem Staatsgebiet.“<br />

Auch die Seenotrettung selbst hat sich in<br />

den vergangenen Jahren verändert: Die<br />

eingesetzten Boote sind deutlich größer<br />

und werden von hochprofessionellen<br />

Crews betrieben – damit einhergehen<br />

aber auch höhere staatliche Auflagen,<br />

die den Einsatz erschweren. „Auch das<br />

Kirchenasyl ist umstritten – in Deutschland<br />

wird es geduldet, aber auch das<br />

wirft Fragen nach der Trennung von Kirche<br />

und Staat auf: Warum sollte die Kirche<br />

Flüchtlinge aufnehmen dürfen, ein<br />

Fußballverein aber zum Beispiel nicht?“<br />

Und auch in den USA gab es, vor allem<br />

unter Präsident Trump, Klagen gegen die<br />

Sanctuary Cities.<br />

Verlagerung der Grenzen<br />

Mourão Permoser befasst sich auch mit<br />

einer weiteren moralischen Frage in Bezug<br />

auf die Grenzen Europas: Die EU<br />

verschiebt ihre Grenzen weiter nach außen<br />

und lagert den Grenzschutz nach<br />

Libyen aus. „Die libysche Küstenwache<br />

stoppt Migrant*innen und schickt sie zurück.<br />

Dafür bekommt sie Gelder, Training<br />

und Equipment von der EU. Ein Abschieben<br />

in Länder, in denen Betroffene verfolgt<br />

und misshandelt werden, ist laut<br />

EU-Verträgen und Genfer Menschenrechtskonvention<br />

verboten. In diesem<br />

Fall erledigt das allerdings Libyen für die<br />

EU – und Libyen hat weder die Menschenrechtskonvention<br />

unterschrieben<br />

noch unterliegt es EU-Recht“, sagt<br />

Mourão Permoser. „Das ist eindeutig eine<br />

Strategie, um geltendes Recht zu umgehen.“<br />

Und auch die Binnengrenzen<br />

verschieben sich: „Grenzschutz“ passiert<br />

längst nicht mehr nur an nationalen<br />

Grenzen, Migrant*innen drohen auch innerhalb<br />

der EU Kontrollen – eben nicht<br />

nur durch Polizei, sondern auch im alltäglichen<br />

Kontakt mit Behörden und öffentlichen<br />

Institutionen. „Gegen eben<br />

diese innerlichen und äußerlichen Verschiebungen<br />

der Grenzen kämpfen die<br />

Aktivist*innen, die im Zentrum meines<br />

<strong>Forschung</strong>sprojektes stehen.“ sh<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 15


TITELTHEMA<br />

GRENZÜBERSCHREITUNG<br />

ALS RESSOURCE<br />

Migrationsliteratur verhandelt Grenzerfahrung auf zahlreichen Ebenen.<br />

Julia Pröll vom Institut für Romanistik spannt in ihrer <strong>Forschung</strong> einen Bogen zwischen Migration,<br />

Medizin und Krankheit(serfahrung) und macht dabei die ermächtigenden Potenziale von<br />

Grenzerfahrungen in französischsprachiger Migrationsliteratur deutlich.<br />

JULIA PRÖLL: „Migrationsautor*innen legen ihren Schwerpunkt weniger auf den traumatischen Effekt der Exilerfahrung, sondern nutzen<br />

ihre Literatur oft für transkulturelle Identitätsentwürfe.“<br />

16 zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Foto: Andreas Friedle


TITELTHEMA<br />

Krankheit und Migration zählen<br />

zu jenen Erfahrungen im Leben<br />

eines Menschen, die potenziell<br />

krisenbehaftet sind. In literarischen Darstellungen<br />

wird gerade das Exil, das ein<br />

erzwungenes Verlassen der Heimat bedeutet,<br />

häufig mit Krankheit gleichsetzt.<br />

Tatsächlich waren es Sätze wie „Das Exil<br />

ist eine Krankheit. Sie ergreift den Geist,<br />

das Gemüt“ der österreichischen Autorin<br />

Hilde Spiel, oder „Das Exil […] ist […] eine<br />

Schule des Taumels“ des in Rumänien<br />

geborenen Schriftstellers Emile Cioran,<br />

welche die Romanistin Julia Pröll dazu<br />

inspiriert haben, sich mit den vielfältigen<br />

Wechselbeziehungen zwischen Migration,<br />

Medizin und Krankheitserfahrung auseinanderzusetzen.<br />

Dazu untersuchte die Literaturwissenschaftlerin<br />

unter anderem literarische Texte<br />

von chinesischen und vietnamesischen<br />

Autorinnen und Autoren, die in Frankreich<br />

leben und auf Französisch schreiben.<br />

„Ist dieser ‚Schwindel‘, von dem Cioran<br />

spricht und der die Autorinnen und Autoren<br />

beispielsweise dann ergreift, wenn sie<br />

die chinesischen Ideogramme gegen das<br />

Alphabet eintauschen, nur negativ zu sehen?<br />

Oder besitzt er auch ein produktives<br />

Potenzial? Anders gesagt: Wenn alle meine<br />

bisherigen Bezugspunkte ins Wanken<br />

geraten, inwiefern kann dies dennoch als<br />

der Beginn von etwas – heilsam – Neuem<br />

gesehen werden?“, beschreibt Julia Pröll<br />

jene Fragen, die ihr <strong>Forschung</strong>sinteresse<br />

an der Schnittstelle von literarischem und<br />

medizinischem Diskurs leiten.<br />

Transkulturelles<br />

Die Analyse der Darstellung von Krankheit<br />

und Medizin in literarischen Texten,<br />

die im Kontext von kulturellen Kontakten<br />

entstehen, eröffnete für die Literaturwissenschaftlerin<br />

neue Perspektiven auf<br />

verschiedene gesamtgesellschaftlich relevante<br />

Bereiche. So zeigte sich für Pröll in<br />

der Auseinandersetzung mit asiatischer<br />

Migrationsliteratur in Frankreich seit den<br />

„Texte aus der Migrationsliteratur könnten in die Ausbildung von<br />

medizinischem Personal einfließen, damit es sich besser auf die<br />

Bedürfnisse der Patient*innen aus aller Welt einstellen kann.“ <br />

JULIA PRÖLL ist promovierte Juristin und<br />

assoziierte Professorin für Französische<br />

Literatur- und Kulturwissenschaft am<br />

Institut für Romanistik. Sowohl ihre an der<br />

Universität Innsbruck erstellte Dissertation<br />

(2006) als auch ihre Habilitationsschrift<br />

(2014) sind preisgekrönt. Von 2014<br />

bis 2016 forschte sie im Rahmen eines<br />

Humboldt-Stipendiums an der Universität<br />

des Saarlandes. Ihr <strong>Forschung</strong>sinteresse<br />

fokussiert seit mehreren Jahren auf das<br />

relativ neue <strong>Forschung</strong>sfeld der Medical<br />

Humanities im Lichte französischsprachiger<br />

Migrationsliteratur. Sie ist auch (Mit-)<br />

Gründerin und (Mit-)Herausgeberin der<br />

Online-Zeitschrift Re:visit. Humanities &<br />

Medicine in Dialogue (journal-revisit.org),<br />

die im Dezember 2<strong>02</strong>2 erstmals erscheint.<br />

Julia Pröll<br />

1980er-Jahren, „dass Migrationsautorinnen<br />

und -autoren ihren Schwerpunkt<br />

nicht auf den traumatischen Effekt der<br />

Exilerfahrung legen, wie man es vielleicht<br />

etwas vorschnell vermuten würde,<br />

sondern sich viel mehr auf Identitätsbildungsprozesse<br />

fokussieren. Das heißt, sie<br />

nutzen ihre Literatur für transkulturelle<br />

Identitätsentwürfe und verrücken Grenzen<br />

zwischen ‚Fremd‘ und ‚Eigen‘, gerade<br />

ind em sie für das ‚Fremde im Eigenen‘<br />

sensibilisieren.“<br />

Diese Literatur verhandelt für Pröll<br />

daher Migration nicht als Schwäche,<br />

sondern durchaus als Stärke; sie sieht in<br />

Migrant*innen folglich nicht ausschließlich<br />

(passive) Patient*innen oder „angstmachende“<br />

Träger*innen gefährlicher<br />

Krankheiten. Vielmehr wird gerade durch<br />

die literarische Figur des erkrankten Migranten<br />

eine spannende Perspektive auf<br />

den Kontakt von Gesundheits- und Medizinsystemen<br />

ermöglicht. „Unterschiedliche<br />

Körper- und Krankheitskonzepte<br />

werden häufig zusammen gedacht und<br />

spannungsreich aufeinander bezogen. So<br />

kommen neben medizinischen Erklärungen<br />

für Krankheitssymptome durchaus<br />

auch andere Konzepte, wie beispielsweise<br />

Geisterglaube, vor“, erklärt die Literaturwissenschaftlerin:<br />

„Dies vermag zu verdeutlichen,<br />

dass auch Medizin kulturelle<br />

Wurzeln hat und dass die – westlich geprägte<br />

– Medizin nicht das Deutungsmonopol<br />

für Krankheit hat. So kommt es in<br />

der von mir untersuchten Literatur häufig<br />

zu einer wohltuenden Relativierung der<br />

Perspektiven, wovon letztlich auch ein<br />

Gesundheitssystem profitieren kann, das<br />

sich mehr und mehr mit Migrant*innen<br />

als Patient*innen zu beschäftigen hat und<br />

dies ohne Arroganz tun soll.“<br />

„Lebenswissen“ im Kontakt<br />

In der literarischen Analyse der „Trias“<br />

von Migration, Krankheit und Medizin<br />

sieht Julia Pröll großes Potenzial und<br />

auch eine kulturelle Bereicherung für das<br />

„reale“ Leben auf unterschiedlichen Ebenen.<br />

„Durch die Analyse von literarischen<br />

Texten in diesem Themenfeld ist mir bewusst<br />

geworden, dass sich darin sehr viel<br />

‚Lebenswissen‘ befindet, das an anderer<br />

Stelle so nicht greifbar werden kann.<br />

Oder eben anders greifbar wird, wie beispielsweise<br />

in den naturwissenschaftlich<br />

orientierten Life Sciences.“<br />

Die Literatur sieht Pröll daher als besonders<br />

geeigneten „Lehrmeister“, um<br />

Grenzen im Kopf zu überwinden, was<br />

etwa Vorurteile gegenüber Menschen betrifft,<br />

die aus anderen Kulturen kommen.<br />

Die Erschließung dieser Texte könne daher<br />

sowohl für die Geisteswissenschaften<br />

als auch für die Medizin von großem Vorteil<br />

sein, denn eigentlich, so Pröll, seien ja<br />

beides „Lebenswissenschaften“: „Literarische<br />

Texte von Migrationsautor*innen<br />

könnten etwa in die Ausbildung von medizinischem<br />

Personal einfließen, damit<br />

dieses sich besser auf die Bedürfnisse ihrer<br />

Patientinnen und Patienten aus aller<br />

Welt einstellen kann. Menschen artikulieren<br />

Symptome nicht überall auf der Welt<br />

gleich, Körperbeschreibungen sind sehr<br />

unterschiedlich. In dieser Hinsicht können<br />

wir aus der Migrationsliteratur sehr viel<br />

lernen“, ist Pröll überzeugt. mb<br />

MIT MEDICAL HUMANITIES wird<br />

ein interdisziplinäres <strong>Forschung</strong>sfeld an<br />

der Schnittstelle zwischen Medizin und<br />

Geistes- bzw. Kulturwissenschaften beschrieben.<br />

Die Universität Innsbruck verfügt<br />

über ein eigenes <strong>Forschung</strong>szentrum zu<br />

diesem Themenbereich, das am Center für<br />

Interdisziplinäre Geschlechterforschung<br />

angesiedelt ist. Die zahlreichen Innsbrucker<br />

Forscher*innen vereinen darin vielseitige<br />

Perspektiven auf Zusammenhänge<br />

zwischen Gesundheit und Gesellschaft<br />

oder Gesundheit und Umwelt wie etwa<br />

transkulturelle Gesundheitskommunikation,<br />

Körperbilder oder Geschlechterkonzepte.<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 17


TITELTHEMA<br />

EIN KONZEPT VON<br />

EUROPA<br />

Was Europäer*innen übereinander denken, was „europäisch“ ist<br />

und was nicht, und wie sich das alles historisch entwickelt hat: Das wird<br />

am <strong>Forschung</strong>szentrum „Europakonzeptionen“ erforscht.<br />

EINE EUROPAKARTE AUS 1743<br />

mit damals aktuellen Grenzen, in gelb<br />

das damalige Heilige Römische Reich<br />

Deutscher Nation.<br />

G<br />

renzen spielten jahrhundertelang in<br />

Europa für den Alltag der Menschen<br />

praktisch keine Rolle“, sagt Stefan<br />

Ehrenpreis. Der Historiker leitet das <strong>Forschung</strong>szentrum<br />

„Europakonzeptionen“<br />

– ein zentraler <strong>Forschung</strong>sgegenstand ist<br />

dort, wie sich Europäer*innen gegenseitig<br />

wahrnehmen, was sie eint und was sie<br />

trennt. Nationale Grenzen sind heute zwar<br />

innerhalb der Europäischen Union für EU-<br />

Bürger*innen weitgehend aufgehoben,<br />

spielen aber eine große Rolle in den Köpfen<br />

und nach außen. Und sie sind ein noch sehr<br />

junges Phänomen, wie Ehrenpreis erläutert:<br />

„Bis ins frühe 19. Jahrhundert waren Grenzen<br />

höchstens im rechtlichen Sinn relevant,<br />

etwa, wenn es darum ging, welchem Landesherren<br />

man gegenüber verpflichtet war<br />

und Steuern abliefern musste, und natürlich<br />

darum, welche Gesetze generell galten.“ Für<br />

Reisende hatten die Grenzen zwischen einzelnen<br />

politischen Einheiten darüber hinaus<br />

18 zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Fotos: J. M. Hasic – Homann {Erben} 1743 (1), Andreas Friedle (1)


TITELTHEMA<br />

keine besondere Bedeutung, oft waren sie nicht<br />

einmal exakt definiert: „Man wusste natürlich,<br />

welches Dorf welchem Fürsten gehört, aber wo<br />

genau die Grenze zwischen den Dörfern verläuft,<br />

war nicht immer klar – und eben über<br />

weite Strecken irrelevant.“<br />

Zaristisches Kontrollbedürfnis<br />

Eine Ausnahme bildete lange Zeit Russland:<br />

Schon für das 16. Jahrhundert ist belegt,<br />

dass man sich bei Einreise in das Zarenreich<br />

im ersten Dorf anmelden und beim jeweils<br />

verantwortlichen Adeligen auch ein Formular<br />

mit Fragen zu weiteren Zielen und dem<br />

Zweck der Reise ausfüllen musste, eine Art<br />

Passbrief, den man auch bei weiteren Stationen<br />

erneut vorzeigen musste. „Das ist nur mit<br />

einem gewissen Kontrollbedürfnis des Zaren<br />

zu erklären, der zu jeder Zeit informiert sein<br />

wollte, welche Fremden sich in seinem Gebiet<br />

aufhielten. Dieses Verhalten war mit ein<br />

Grund dafür, und auch das wissen wir aus<br />

Quellen, dass der Rest Europas Russland<br />

damals noch nicht als europäische Macht begriff,<br />

sondern als etwas strukturell Anderes,<br />

wo man sich auch anders zu benehmen hatte“,<br />

sagt der Historiker. Dieses Verhältnis zu<br />

Russland sollte sich erst im 18. und 19. Jahrhundert<br />

ändern. „Ab dem 18. Jahrhundert,<br />

unter Peter dem Großen, hat Russland sich<br />

geöffnet und expandierte, und das führte<br />

dazu, dass das Reich auch nicht mehr als so<br />

fremd wahrgenommen wurde.“ Diese mental<br />

maps, durch unterschiedliche Sichtweisen,<br />

Konzepte und Praktiken geprägte Konstruktionen<br />

von europäischen Gemeinsamkeiten<br />

und Unterschieden, wandeln sich stetig, und<br />

dementsprechend verschieben sich auch definitorische<br />

Grenzen des „Europäischen“.<br />

Generelle Überlegungen über ein europäisches<br />

Mächtegleichgewicht sind bereits aus<br />

dem 15. Jahrhundert belegt, etwa in den Memoiren<br />

des französischen Diplomaten Philippe<br />

de Commynes (1447 – 1511). Die bisher erste<br />

bekannte Quelle für eine Benennung dessen,<br />

was wir heute als „europäische Werte“ bezeichnen<br />

würden, hat Stefan Ehrenpreis gemeinsam<br />

mit seinem Kollegen Niels Grüne in<br />

Korrespondenz rund um den Spanischen Erbfolgekrieg<br />

(1701 – 1714) entdeckt: „Der Konflikt<br />

war vielschichtig und ist kaum in einem Satz<br />

zusammenzufassen. Aber kurz umrissen standen<br />

sich damals in Europa Österreich mit dem<br />

Heiligen Römischen Reich, die Niederlande<br />

und England auf der einen und hauptsächlich<br />

Frankreich auf der anderen Seite gegenüber,<br />

auf dem Spiel stand das Mächtegleichgewicht<br />

auf dem Kontinent – der französische König<br />

Ludwig XIV. wollte sich selbst die Herrschaft<br />

über Spanien sichern, die Gegenparteien wollten<br />

das verhindern. Und die Kriegsparteien<br />

schlossen den französischen König Ludwig<br />

XIV. sozusagen aus Europa aus – er verhalte<br />

sich uneuropäisch, wie ein Tyrann, das kenne<br />

man nur von außerhalb Europas, vom russischen<br />

Zaren oder vom osmanischen Sultan.“<br />

Die Mächte definierten auch Merkmale Europas,<br />

denen Ludwig XIV. nicht (mehr) entsprach:<br />

Die Mitbeteiligung der Stände an der<br />

Politik, eine gewisse regionale Selbstverwaltung<br />

und der Schutz des Privateigentums.<br />

Nationalismus<br />

Das 19. Jahrhundert bildet in vielerlei Hinsicht<br />

eine Zäsur im Verständnis von Grenzen<br />

und Zugehörigkeiten: Der damals aufkeimende<br />

Nationalismus beförderte eine genauere<br />

Definition von Staatlichkeit und Staaten,<br />

das schließt auch die Staatsgrenzen mit ein;<br />

und schon im Wiener Kongress 1815 wurden<br />

in der damals erfolgten Aufteilung Europas<br />

Grenzverläufe recht detailliert benannt. Damals<br />

entsteht der moderne Staat mit seinen<br />

Symbolen, die wir bis heute kennen: Reisepässe,<br />

Grenzbalken, Nationalflaggen und -wappen,<br />

dazu kommen später heutige Selbstverständlichkeiten<br />

wie nationale Telefonvorwahlen<br />

und Internet-Domains.<br />

„Das 19. und 20. Jahrhundert bringen bekanntlich<br />

große Umwälzungen. Die Öffnung<br />

Russlands endete mit der Revolution 1917, da<br />

entstanden auch neue mental maps in Europa<br />

– Russland wurde erst Hoffnungsgebiet für<br />

Sozialisten und Kommunisten, der Zweite<br />

Weltkrieg und der Kalte Krieg brachten dann<br />

erneut neue Grenzen und Zuschreibungen“,<br />

sagt Stefan Ehrenpreis. Gleichzeitig halten<br />

sich andere Konzepte teils über Jahrhunderte<br />

– wenn etwa ein Kommentator in der Financial<br />

Times während der Finanzkrise noch 2011<br />

den damals aktuellen Konflikt in der Eurozone<br />

zwischen nördlichen und südlichen Mitgliedsstaaten<br />

auf den Dreißigjährigen Krieg<br />

und den Unterschied zwischen (vermeintlich)<br />

prassenden Katholik*innen und sparsamen<br />

Protestant*innen bezieht. „Generell wurde<br />

und wird ein Europa-Argument genauso oft<br />

als Mittel des Ausschlusses verwendet wie als<br />

eines der Einigung“, betont der Historiker.<br />

„Auch historisch ist das leicht belegt: Europa<br />

als Konzept wurde und wird ganz unterschiedlich<br />

benutzt, mit ganz unterschiedlichen<br />

Folgen. Nicht nur Historikerinnen und<br />

Historiker wissen: Quellenkritik ist stets angebracht,<br />

auch, wenn es um Europa und seine<br />

Grenzen geht.“<br />

sh<br />

STEFAN EHRENPREIS ist<br />

seit 2014 Universitätsprofessor<br />

im Arbeitsbereich Geschichte<br />

der Neuzeit am Institut für<br />

Geschichtswissenschaften<br />

und Europäische Ethnologie<br />

der Universität Innsbruck.<br />

Ehrenpreis ist auch Leiter des<br />

<strong>Forschung</strong>szentrums „Europakonzeptionen“<br />

der Universität.<br />

Dieses Zentrum will zur wissenschaftlichen<br />

Aufklärung über<br />

Vorstellungen und Wahrnehmungen<br />

von Europa beitragen.<br />

Sowohl innerhalb als auch<br />

außerhalb Europas entstanden<br />

Bilder des Kontinents und soziale<br />

Praktiken seiner Lebenswelten,<br />

die zur Wirklichkeit<br />

europäischer Gesellschaften<br />

gehörten und gehören. Das<br />

<strong>Forschung</strong>szentrum untersucht<br />

die Entstehung von Narrativen<br />

und Praktiken zu Europa als<br />

auch deren Wandel in Vergangenheit<br />

und Gegenwart.<br />

Neben Texten werden auch<br />

visuelle und künstlerisch-ästhetische<br />

Quellen genutzt und<br />

so die Zusammenarbeit der<br />

„Buchwissenschaften“ mit den<br />

„Bildwissenschaften“ in Innsbruck<br />

systematisch gestärkt –<br />

beteiligt sind hier insbesondere<br />

die Institute der geisteswissenschaftlichen<br />

Fakultäten.<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 19


TITELTHEMA<br />

NEUE MÄCHTE, ALTE LÄNDER<br />

Im Mittelpunkt der noch jungen Grenzraumforschung am Bereich<br />

Baugeschichte und Denkmalpflege stehen Architektur, Städtebau<br />

und Bildmedien in europäischen Grenzräumen. In diesen Gebieten,<br />

die im Laufe der Geschichte – meist aufgrund kriegerischer<br />

Auseinandersetzungen – ihre nationale Zugehörigkeit gewechselt<br />

haben, wurden von den neuen Machthabern bewusst bauliche<br />

Aneignungsstrategien eingesetzt, die von Wissenschaftler*innen<br />

rund um Klaus Tragbar anhand methodischer Ansätze aus verschiedenen<br />

Disziplinen untersucht werden. Einen Schwerpunkt<br />

bilden Südtirol/Alto Adige und das Trentino, wo sich zahlreiche<br />

Beispiele für die Italianisierung der Regionen finden. Der von<br />

Klaus Tragbar und Volker Ziegler herausgegebene Band Planen<br />

und Bauen im Grenzraum/Planning and Building in Border<br />

Regions bietet einen Überblick über das Thema.<br />

TRENTINO NOSTRO<br />

Die Abbildung zeigt das Cover der 1916<br />

erschienenen Publikation Trentino nostro<br />

von Antonio Rossaro. Die Illustration des<br />

1890 geborenen Architekten, Malers und<br />

Grafikers Giorgio Wenter Marini in den italienischen<br />

Nationalfarben ist ein eindrucksvolles<br />

Beispiel dafür, wie irredentistischen<br />

Schriften für den Anschluss des Trentino an<br />

Italien warben.<br />

K.K. BAHNHOF TRIENT<br />

Das 1859 eröffnete k.k. Bahnhofsgebäude wurde nach dem<br />

Ersten Weltkrieg von Italien als unzulänglich angesehen.<br />

Angiolo Mazzoni schrieb, es lasse „besonders vom architektonischen<br />

Gesichtspunkt aus viel zu wünschen übrig“ und<br />

sei „bar jeglichen Gefühls für Modernität“. 1933 wurde der<br />

Bahnhof abgerissen.<br />

BAHNHOF DER FERROVIE DELLO STATO IN TRIENT<br />

Der Bahnhof von Angiolo Mazzoni (errichtet 1933 bis 1936)<br />

war nach dem in Florenz der zweite Bahnhofsneubau des<br />

Rationalismus, der modernità und italianità ausstrahlen sollte.<br />

Das prägnante horizontale Flugdach verleiht dem Gebäude<br />

Dynamik, die Pfeilerhalle Monumentalität.<br />

20<br />

Fotos: Attilio Brunialti: Le nuove provincie Italiane. Bd. 2: L’Alto Adige. Turin 1919 Rossaro, Antonio: Trentino nostro. Parma 1916, Umschlag; Historische Postkarte, Sammlung Bereich Baugeschichte und Denkmalpflege; Klaus Tragbar<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22


TITELTHEMA<br />

NARODNI DOM IN TRIEST<br />

Im Frühjahr 1900, in einer Zeit großer Spannungen<br />

zwischen der slowenischen und der<br />

italienischen Bevölkerung in Triest, beschlossen<br />

die slowenischen Vereine den Bau des Narodni<br />

dom (19<strong>02</strong>–1904), eines repräsentativen,<br />

multifunktionalen Gebäudes, das nach dem<br />

Entwurf von Max Fabiani auf der Piazza della<br />

Caserma errichtet wurde.<br />

DER BRAND DES NARODNI DOM<br />

Nach dem Ersten Weltkrieg benannte die<br />

nunmehr italienische Stadtregierung die<br />

Piazza della Caserma nach dem Irredentisten<br />

Guglielmo Oberdan um. Im Dezember<br />

1918 und im August 1919 wurden Räume im<br />

Narodni dom demoliert, und am 13. Juli 1920<br />

setzte Francesco Giunta, später Sekretär des<br />

Partito Nazionale Fascista, das Gebäude in<br />

Brand.<br />

NARODNI DOM, ANSICHT 2<strong>02</strong>0<br />

Die heutige Ansicht zeigt das Ergebnis der städtebaulichen Umgestaltung<br />

des Ventennio: Der zwischen 1924 und 1926 errichtete Palazzo<br />

Arrigoni verdrängt buchstäblich das Narodni dom in die zweite Reihe.<br />

Am 13. Juli 2<strong>02</strong>0, 100 Jahre nach dem Brand, wurde das Gebäude an<br />

die slowenische Gemeinschaft in Triest zurückgegeben.<br />

Fotos: Historische Postkarte, Sammlung Bereich Baugeschichte und Denkmalpflege; Mladika, 2<strong>02</strong>0, 4, S. 4 oben; Pemič, Monika: Das slowenische Vereinshaus Narodni dom und die städtebauliche und politische Italianisierung<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 21<br />

der Stadt Triest, in: Tragbar, Klaus/Ziegler, Volker (Hg.): Planen und Bauen im Grenzraum / Planning and Building in Border Regions (Innsbrucker Beiträge zur Baugeschichte 1). Berlin/München 2019, S. 103–123, hier S. 104


KURZMELDUNGEN<br />

NOBELPREIS FÜR<br />

ANTON ZEILINGER<br />

Von 1990 bis 1999 forschte Anton Zeilinger an der Universität<br />

Innsbruck und führte hier zahlreiche seiner Experimente durch.<br />

Ich gratuliere Anton Zeilinger herzlich<br />

zum Nobelpreis. Es ist eine<br />

große Stunde für die österreichische<br />

Physik, aber auch für die Universität<br />

Innsbruck, an deren Institut für Experimentalphysik<br />

Anton Zeilinger von 1990<br />

bis 1999 forschte und lehrte und wo er<br />

mehrere der gewürdigten bahnbrechenden<br />

Experimente durchgeführt hat, so<br />

die erste Quantenteleportation mit Photonen<br />

im Jahr 1997“, freute sich Rektor<br />

Tilmann Märk nach der Verkündigung<br />

der diesjährigen Preisträger durch die<br />

Schwedische Akademie der Wissenschaften<br />

Anfang Oktober.<br />

Das Experiment zur Quantenteleportation<br />

war das erste, das den Quantenzustand<br />

eines Teilchens auf ein anderes<br />

Teilchen in der Distanz übertrug. Zeilingers<br />

Erfolge waren nicht zuletzt auch ein<br />

Grund dafür, die Quantenphysik in Innsbruck<br />

auszubauen und führten später<br />

zur Gründung des Akademie-Instituts<br />

für Quantenoptik und Quanteninformation<br />

in Innsbruck und Wien. An der Universität<br />

Innsbruck forschen heute über 20<br />

Arbeitsgruppen im Bereich der Quantenphysik,<br />

unter anderem auch an der Entwicklung<br />

eines universellen Quantencomputers.<br />

<br />

PROMINENTE FORSCHER*INNEN WERDEN BEVORZUGT<br />

<strong>Forschung</strong>sarbeiten von renommierten Forscher*innen werden trotz gleicher Qualität deutlich<br />

besser bewertet als Arbeiten weniger bekannter Forscher*innen. Zu diesem Ergebnis<br />

kam ein Team von Wissenschaftler*innen unter der Leitung von Jürgen Huber vom Institut für<br />

Banken und Finanzen der Universität Innsbruck in einer kürzlich veröffentlichten Studie. „Unsere<br />

Ergebnisse zeigen deutlich, dass die unterschiedlichen Informationen über den Verfasser die<br />

Bewertung der Qualität des <strong>Forschung</strong>sartikels stark beeinflussen“, sagt Jürgen Huber. Sein<br />

Kollege Rudolf Kerschbamer führt das Ergebnis auf den „Halo-Effekt“ zurück: „Dieses aus der<br />

Sozialpsychologie bekannte Phänomen besagt, dass Handlungen und Werke von Personen,<br />

von denen man einen positiven Eindruck hat, grundsätzlich positiver wahrgenommen werden<br />

als jene von unbekannten Personen oder von Personen, denen man nicht so viel zutraut.“<br />

KURRENT LESEN<br />

MIT TRANSKRIBUS<br />

Handschriften sind so individuell wie<br />

Menschen. Dennoch sind Computer<br />

heute in der Lage, handschriftliche Texte<br />

in unterschiedlichsten Sprachen automatisch<br />

zu erkennen. Die von der Universität<br />

Innsbruck mitentwickelte Software-Plattform<br />

Transkribus macht diese Technologie<br />

der Wissenschaftsgemeinde, interessierten<br />

Archiven und der breiten Öffentlichkeit<br />

zugänglich. Über 90.000 Nutzerinnen<br />

und Nutzer aus aller Welt verwenden die<br />

Plattform bereits, um handschriftliche Dokumente<br />

lesbar und durchsuchbar zu machen.<br />

Eine immer größer werdende Gruppe<br />

interessiert sich für ihre Familiengeschichte<br />

und begibt sich in Kirchenbüchern, Verträgen<br />

oder in historischen Dokumenten auf<br />

die Suche nach ihren Vorfahren.<br />

Transkribus arbeitet mit neuronalen Netzen.<br />

Diese maschinenlernenden Methoden<br />

haben den großen Vorteil, dass sie nicht<br />

mehr speziell für eine bestimmte Handschrift<br />

programmiert werden müssen. „Die<br />

Benutzerinnen und Benutzer bringen der<br />

Maschine bei, die Schrift zu lesen“, sagt<br />

ÜBER 90.000 Nutzer*innen verwenden<br />

Transkribus, um handschriftliche Dokumente<br />

les- und durchsuchbar zu machen.<br />

Günter Mühlberger von der Arbeitsgruppe<br />

Digitalisierung/Archivierung an der Universität<br />

Innsbruck und Verwaltungsratsvorsitzender<br />

der europäischen Genossenschaft<br />

READ-COOP: „Und eine Maschine ermüdet<br />

nicht, das heißt, sie kann auch Tausende,<br />

Hunderttausende oder Millionen von<br />

Seiten automatisiert verarbeiten.“ Die verwendete<br />

Technologie ist unabhängig von<br />

der Sprache und der eigentlichen Schriftart.<br />

Transkribus erkennt nicht nur Kurrentschrift<br />

oder moderne Handschriften, sondern<br />

auch mittelalterliche Schriften, Hebräisch,<br />

Arabisch oder indische Schriften.<br />

22<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Fotos: Jaqueline Godany (1), Universität Innsbruck (1)


STANDORT<br />

DIE JAHRHUNDERTCHANCE<br />

Rektor Tilmann Märk und Ulrike Tanzer, Vizerektorin für <strong>Forschung</strong>, sprechen über viele Jahre im<br />

Wissenschaftsmanagement, die <strong>Forschung</strong>sleistung der Uni Innsbruck und regionale Kooperationen.<br />

ZUKUNFT: Herr Märk, Sie haben 2003 das<br />

Amt des Vizerektors für <strong>Forschung</strong>, 2011<br />

das Amt des Rektors angetreten. War diese<br />

lange Zeit im Wissenschaftsmanagement<br />

Ihr Plan?<br />

TILMANN MÄRK: Dazu muss ich etwas<br />

weiter ausholen. Als junger PostDoc in<br />

den USA habe ich festgestellt, dass wir in<br />

Österreich und an der Universität Innsbruck,<br />

was das internationale Niveau<br />

betrifft, weit hinten lagen. Zurück in<br />

Innsbruck hatte ich die Vision, dass es<br />

schön wäre, wenn die Universität Innsbruck<br />

wieder an das Vorkriegsniveau<br />

anschließen könnte, immerhin zieren die<br />

Eingangshalle des Hauptgebäudes die<br />

Büsten von vier Nobelpreisträgern. Ich<br />

war dann als Vorsitzender des Assistentenverbandes<br />

im Rahmen des UOG 75<br />

universitätspolitisch tätig, die Situation<br />

im akademischen Senat als Vertreter der<br />

Assistentinnen und Assistenten war aber<br />

frustrierend. Daher habe ich mich dann<br />

auf die <strong>Forschung</strong> konzentriert, mir aber<br />

immer gedacht, wenn später die Chance<br />

bestehen würde, tatsächlich etwas bewegen<br />

zu können, dann würde ich das gerne<br />

tun. 2003 hatte ich daher die Hoffnung,<br />

mit diesem neuen Instrument, dem UG<br />

20<strong>02</strong>, die Universität entsprechend voranzubringen.<br />

Es war für mich die Jahrhundertchance,<br />

mit 59 war ich auch in<br />

einem guten Alter, von der Wissenschaft<br />

ins Wissenschaftsmanagement zu wechseln.<br />

Das Vizerektorat für <strong>Forschung</strong> war<br />

2003 eine wichtige Funktion, ging es uns<br />

doch darum, die <strong>Forschung</strong> neu zu organisieren<br />

und quer über die Fächer entsprechende<br />

Leistungen zu ermöglichen.<br />

Und wenn man sich die damaligen und<br />

heutigen Zahlen der Wissensbilanz vergegenwärtigt,<br />

kann ich nur sagen, dass<br />

uns das gelungen ist.<br />

ZUKUNFT: Wenn Sie die universitäre Situation<br />

von 2003 mit der heutigen vergleichen<br />

– wo sehen Sie inhaltlich die größten<br />

Unterschiede und Entwicklungen?<br />

MÄRK: Die Haltung vieler Universitätsangehöriger<br />

in Hinblick auf ihre Arbeit<br />

TILMANN MÄRK: „2003 hatte ich die Hoffnung, mit diesem neuen Instrument, dem UG<br />

20<strong>02</strong>, die Universität entsprechend voranzubringen. Aus heutiger Sicht zurecht.“<br />

hat sich stark verändert. Es war ein notwendiger<br />

Paradigmenwechsel der Mitarbeitenden<br />

und der Universität vom<br />

20. ins 21. Jahrhundert. Um es an einigen<br />

Beispielen festzumachen: Früher<br />

gab es kaum aktive unternehmerische<br />

Tätigkeiten der Universität bzw. an der<br />

Universität, auch damit zusammenhängend,<br />

dass bis dahin Erfindungen dem<br />

Ministerium gehörten. Das UG 20<strong>02</strong> ermöglichte<br />

gemeinsame Ausgründungen<br />

auf der Basis von Entdeckungen und Erfindungen,<br />

eine kommerzielle Nutzung<br />

solcher Ergebnisse war vorher nahezu<br />

verpönt. Ähnliches gilt für das, was man<br />

heute als third mission bezeichnet. Indirekt<br />

hat man diese Verantwortung zwar<br />

schon immer wahrgenommen, indem<br />

man zum Beispiel die Studierenden auf<br />

dem aktuellsten Wissensstand ausgebildet<br />

und somit stark in die Gesellschaft<br />

hineingewirkt hat. Hinzugekommen ist<br />

nun aber das aktive Hineinwirken, Universitäten<br />

haben sich geöffnet, sie sind<br />

nun Orte, an denen Wechselwirkung mit<br />

der Gesellschaft stattfindet. Dazu kommt<br />

ein dritter Punkt und zwar das von mir<br />

initiierte Schwerpunktsystem: Vor dem<br />

UG 20<strong>02</strong> waren Forscherinnen und Forscher<br />

hauptsächlich alleine aktiv – mit<br />

dem Schwerpunktsystem gelang es, dazu<br />

überzugehen, komplexere Fragestellungen<br />

in kompetenten Teams zu lösen<br />

und auch aufgrund von kritischer Masse<br />

nach außen hin erfolgreicher zu wirken.<br />

ZUKUNFT: Frau Tanzer, quasi zur Halbzeit<br />

dieser 20 Jahre, nämlich 2014, wurden<br />

Sie an die Universität Innsbruck berufen.<br />

Was für einen Eindruck hatten Sie von<br />

Ihrem neuen Arbeitsplatz?<br />

ULRIKE TANZER: Es war ein sehr positiver.<br />

Ich habe mich auf eine Professur<br />

beworben, die auch die Leitung des<br />

<strong>Forschung</strong>sinstituts Brenner-Archiv beinhaltet<br />

hat. In Innsbruck angekommen,<br />

bin ich sofort besucht worden: vom Leiter<br />

des <strong>Forschung</strong>sservicebüros, von der<br />

Leiterin der Personalentwicklung. Das<br />

kannte ich von meiner früheren Universität<br />

nicht, dass die zentrale Verwaltung<br />

sofort Kontakt aufnimmt und zeigt, welche<br />

Möglichkeiten es gibt. Die Universität<br />

Innsbruck hat sich mir als sehr moderne<br />

und vielfältige Universität präsentiert.<br />

24 zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Fotos: Andreas Friedle


STANDORT<br />

ZUKUNFT: 2017, als Vizerektorin für <strong>Forschung</strong>,<br />

erklärten Sie, ein spezielles Augenmerk<br />

auf den wissenschaftlichen<br />

Nachwuchs und Frauen in der Wissenschaft<br />

zu legen. Ist Ihnen das gelungen?<br />

TANZER: Die Uni Innsbruck hatte damals<br />

bereits eine große Anzahl an Fördermöglichkeiten<br />

für den wissenschaftlichen<br />

Nachwuchs, die weiter ausgebaut<br />

wurden. Es gibt die Möglichkeit interner<br />

Karriereverläufe, zudem Förderungen<br />

wie Doktoratsstipendien, Mentoringprogramme,<br />

Preise und Auszeichnungen, die<br />

teilweise speziell für Frauen entwickelt<br />

wurden. Das ist, denke ich, nicht schlecht<br />

gelungen. Natürlich wird man aber immer<br />

einen Punkt finden, bei dem man nicht<br />

erfolgreich war, und man kann natürlich<br />

nicht alles umsetzen, was man sich vorstellt.<br />

Mit den Doktoratskollegs haben wir<br />

zudem erstmals strukturierte Möglichkeiten<br />

für Doktoratsstudierende entwickelt.<br />

ZUKUNFT: Wenn es um das Messen wissenschaftlicher<br />

Leistungen geht, werden<br />

alljährlich die unterschiedlichsten Rankings<br />

erstellt. Kann man <strong>Forschung</strong>sleistung<br />

überhaupt ranken und vergleichen?<br />

MÄRK: Natürlich kann man ranken, es gibt<br />

verschiedene Indikatoren, um zumindest<br />

näherungsweise solide Aussagen treffen<br />

zu können. Schwierig ist aber, verschiedene<br />

Arten von Universitäten zu vergleichen<br />

– das muss man im Hinterkopf behalten<br />

und sich eine bessere Differenzierung<br />

wünschen. Wir haben weltweit in etwa<br />

20.000 Universitäten, die Universität Innsbruck<br />

befindet sich in den verschiedenen<br />

Rankings je nach gewichteter Leistung<br />

zwischen Platz 200 und 400 – unter den ein<br />

bis zwei Prozent der besten Universitäten.<br />

Vergleicht man aber das Umfeld dieser Positionen,<br />

sind vor und hinter uns Universitäten,<br />

die mit ganz anderen Ressourcen<br />

und besseren Arbeitsbedingungen ausgestattet<br />

sind. In Wirklichkeit sind wir daher<br />

sehr effizient und auch insofern besser, als<br />

es die Rankings abbilden. In Deutschland<br />

wird pro Studierendem das Doppelte, in<br />

der Schweiz das Drei- bis Fünffache, in<br />

den USA das Fünf- bis Zehnfache ausgegeben.<br />

Dennoch können wir uns mit Top-<br />

Universitäten vergleichen und – Stichwort<br />

Physik – mit der Spitze mithalten. Absolut<br />

gesehen sind die Rankings in Ordnung, sie<br />

zeigen, wie viel man leistet. Sie zeigen aber<br />

nicht immer, wie viel man pro Input leistet.<br />

Da sind wir sehr gut – und, das sage<br />

ich nach wie vor, wir würden wesentlich<br />

„Es braucht mehr Initiativen, um<br />

der Wissenschaftsskepsis<br />

entgegenzuwirken. Das ist für<br />

unsere weitere gesellschaftliche<br />

Entwicklung von enormer<br />

B edeutung.“ <br />

Ulrike Tanzer<br />

weiter vorne liegen, wenn man die Universitäten<br />

in Innsbruck nicht getrennt hätte.<br />

TANZER: Ich sehe das ähnlich, auch wenn<br />

ich als Germanistin Rankings differenzierter<br />

gegenüberstehe, da nur bestimmte<br />

Publikationen in Rankings bewertet<br />

werden. Als Geisteswissenschaftlerin<br />

ist man gewohnt, in anderen Feldern zu<br />

publizieren, wobei sich in den letzten<br />

Jahren in der geisteswissenschaftlichen<br />

Publikationskultur einiges verschoben<br />

hat. Ich war während meiner Amtszeit<br />

die einzige Vizerektorin für <strong>Forschung</strong><br />

in Österreich, die aus einem geisteswissenschaftlichen<br />

Fach gekommen ist – das<br />

sagt auch etwas über den Stellenwert<br />

aus, den die Geisteswissenschaften in der<br />

<strong>Forschung</strong>slandschaft haben.<br />

ZUKUNFT: Herr Märk, vor 15 Jahren meinten<br />

Sie, dass die Kooperation mit der Tiroler<br />

Wirtschaft ausbaufähig wäre. Konnte<br />

sie ausgebaut werden?<br />

MÄRK: Ja, das war 2003 ein wichtiges Ziel<br />

für mich. Es war klar, dass wir gegenüber<br />

unseren „Konkurrenten“ finanziell im<br />

Nachteil sein werden und daher möglichst<br />

viel zusätzliche finanzielle Mittel<br />

lukrieren müssen. In diesem Punkt<br />

können wir auf eine Erfolgsgeschichte<br />

zurückblicken: Der Jahreswert der eingeworbenen<br />

Drittmittel hat sich von circa<br />

zehn Millionen auf fast 60 Millionen<br />

Euro erhöht; besonders bemerkenswert<br />

ist, dass auch für eine Volluniversität ein<br />

vergleichsweiser großer Anteil unserer<br />

Drittmittel als Auftragsforschung aus<br />

der Region kommt; wir konnten zudem<br />

den „Förderkreis 1669“ und die Stiftung<br />

der Universität Innsbruck einrichten, in<br />

denen wichtige Partner aus Industrie,<br />

Politik und Kultur die Universität finanziell<br />

und als Netzwerk unterstützen; mit<br />

dem Land Tirol und der Industrie sind<br />

wir Kooperationen eingegangen, um z.B.<br />

Lücken in der Ausbildung oder der <strong>Forschung</strong>slandschaft<br />

gemeinsam zu schließen;<br />

und wir haben wahrscheinlich in<br />

Österreich die größte Zahl an Stiftungsprofessuren<br />

eingeworben, zuletzt auch<br />

Professuren, die von der FFG sehr kompetitiv<br />

vergeben werden.<br />

TANZER: Bei dieser österreichweiten Ausschreibung<br />

konnten wir überproportional<br />

gut abschneiden, zuletzt mit der Professur<br />

für „Aktive Mobilität“. Wichtig für<br />

diese Stiftungsprofessuren sind nicht nur<br />

die <strong>Forschung</strong>sleistung, sondern auch<br />

Kooperationen mit Firmen.<br />

ZUKUNFT: Viele dieser Kooperationen<br />

sind regionale Kooperationen. Ist Regionalität<br />

Chance oder Gefahr für eine Universität<br />

wie die Innsbrucker?<br />

MÄRK: Dazu eine klare Antwort: Wir sind<br />

eine Bundeseinrichtung, wirken aber im<br />

Land Tirol. Regionalität ist daher insofern<br />

okay, indem wir uns etwas an den<br />

Bedürfnissen der Region – was die Ausbildung<br />

und <strong>Forschung</strong>sexpertise betrifft<br />

– ausrichten, aber immer – was die Qualität<br />

der Ausbildung und <strong>Forschung</strong> betrifft<br />

– auf internationalem Niveau. Dieses<br />

Niveau ist der Gradmesser, nationale<br />

und internationale Vergleiche zeigen,<br />

dass wir in diesem Bereich top sind. Am<br />

Ende zeigt ja auch die stark gestiegene,<br />

hohe Zahl an ausländischen Mitarbeitenden,<br />

über 40 Prozent, und Studierenden,<br />

über 50 Prozent, wie attraktiv die Universität<br />

Innsbruck überregional und international<br />

gesehen wird. ah<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 25


WIRTSCHAFT<br />

DIE VIRTUALISIERUNG<br />

VON ORGANISATIONEN<br />

Andreas Eckhardt forscht zur <strong>Zukunft</strong> der Arbeit und untersucht, wie virtuelle<br />

Organisationen Unternehmen helfen können, auf die Herausforderungen unserer Zeit zu reagieren.<br />

Klimakrise, Fachkräftemangel, immer<br />

kürzer werdende Entwicklungszyklen<br />

und eine Arbeitswelt,<br />

die immer digitaler wird – auf alle diese<br />

Entwicklungen müssen Unternehmen<br />

aktuell reagieren. Eine Lösung, mit diesen<br />

Herausforderungen umzugehen,<br />

sieht Andreas Eckhardt, Professor für<br />

Wirtschaftsinformatik, in der virtuellen<br />

Organisation. „Darunter ist eine Organisationsform<br />

zu verstehen, die primär in<br />

der virtuellen Welt existiert. Die Belegschaft<br />

arbeitet dabei komplett virtuell,<br />

zeitlich und örtlich ungebunden, Firmengebäude<br />

und Büros gibt es nahezu nicht<br />

mehr“, so Eckhardt, der am Institut für<br />

Wirtschaftsinformatik, Produktionswirtschaft<br />

und Logistik der Universität Innsbruck<br />

forscht.<br />

Diese Organisationsform funktioniert<br />

bereits vor allem für Unternehmen des<br />

Informationssektors, die Wissensarbeiter*innen<br />

beschäftigen, wie beispielsweise<br />

Programmierer*innen, Designer*innen<br />

oder Texter*innen. Doch für<br />

Eckhardt ist die virtuelle Organisation<br />

langfristig auch in anderen Branchen<br />

denkbar: „Im Austausch mit Firmen<br />

bemerke ich häufig noch Vorbehalte<br />

gegenüber einer Virtualisierung der eigenen<br />

Organisation. Die digitale Transformation<br />

ist jedoch nicht mehr aufzuhalten<br />

– sie findet statt, egal ob einzelne<br />

Unternehmen mitmachen oder nicht.<br />

Auch Industrie-Produkte und deren Fertigung<br />

werden immer digitaler, es gibt<br />

sogar bereits erste virtuelle Fabriken, in<br />

denen ausschließlich Roboter in der Fertigung<br />

agieren und Menschen nur noch<br />

die Prozesskontrolleure sind. Meiner<br />

Meinung nach ist es nur eine Frage der<br />

Zeit, bis sogenannte First-Mover auch in<br />

der Produktion vollständig virtuell agieren<br />

und so den Weg für weitere Unternehmen<br />

bereiten.“<br />

Neue Arbeitswelt<br />

Dabei bringt der Schritt in die digitale<br />

Welt diverse Vorteile mit sich: Sind Mitarbeiter*innen<br />

nicht mehr an einen bestimmten<br />

Ort gebunden, erweitert das<br />

den Radius für Unternehmen, geeignete<br />

Fachkräfte zu finden. Wegfallendes<br />

Pendeln und das Einstellen von Reisetätigkeiten<br />

wirken sich positiv auf die<br />

CO 2 -Bilanz aus, und insgesamt können<br />

virtuelle Unternehmen sich schneller und<br />

kostengünstiger auf neue Anforderungen<br />

einstellen. Wie die Transformation hin zu<br />

einer virtuellen Organisation gelingen<br />

kann, daran forscht Eckhardt bereits seit<br />

2017. Konkret beschäftigt er sich unter<br />

anderem damit, wie Mitarbeiter*innen<br />

darauf vorbereitet werden können, sich<br />

in einer virtuellen Organisation zurechtzufinden.<br />

„Dass Menschen aus dem Homeoffice<br />

arbeiten, das gibt es nicht erst seit dem<br />

Beginn der Corona-Pandemie. Die Literatur<br />

zu virtuellen Teams geht zurück<br />

bis in die 1980er-Jahre. In einer meiner<br />

Studien, die Ende 2019 erschienen ist,<br />

habe ich gemeinsam mit Kolleg*innen<br />

ein dreistufiges Modell präsentiert, wie<br />

ANDREAS ECKHARDT ist seit 2<strong>02</strong>0<br />

Universitätsprofessor für Wirtschaftsinformatik<br />

am Institut für Wirtschaftsinformatik,<br />

Produktionswirtschaft und Logistik<br />

der Universität Innsbruck. Er promovierte<br />

und absolvierte seine akademische Ausbildung<br />

an der Goethe-Universität in<br />

Frankfurt am Main. Neben der Virtualisierung<br />

von Organisationen forscht er<br />

zu Themen wie Cybersecurity, Electronic<br />

Commerce sowie der ethischen Entwicklung<br />

und Nutzung von IT-Systemen. Vor<br />

seiner akademischen Laufbahn arbeitete<br />

er als Projektmanager für DaimlerChrysler<br />

Taiwan in Taipeh.<br />

die vollständige Virtualisierung der eigenen<br />

Organisation gelingen kann. Kurz<br />

darauf kam die Corona-Pandemie und<br />

unser Gedankenkonstrukt wurde plötzlich<br />

Realität“, berichtet Eckhardt. Heute,<br />

drei Jahre später, haben viele Arbeitnehmer*innen<br />

sich an das flexible Arbeiten<br />

aus dem Homeoffice gewöhnt. Unternehmen<br />

stehen nun vor dem Problem,<br />

dass sie ihre Belegschaft wieder zurück<br />

in die Büros holen müssen, obgleich viele<br />

Arbeitnehmer*innen dies gar nicht<br />

mehr wollen. Schuld daran sind nicht<br />

zuletzt auch die – derzeit stark steigenden<br />

– Kosten für die Bereitstellung und<br />

das Heizen von Bürogebäuden, welche<br />

Unternehmen rechtfertigen müssen.<br />

Hinzu kommt die verbreitete Meinung,<br />

dass beim dauerhaften Arbeiten aus<br />

dem Home office das soziale Miteinander<br />

verloren geht. Ein Argument, das für<br />

Andreas Eckhardt nur bedingt zählt: „Es<br />

gibt bereits erste <strong>Forschung</strong>sergebnisse,<br />

die zeigen, dass Mitarbeiter*innen auch<br />

in einer völlig virtuellen Arbeitsumgebung<br />

starkes Vertrauen zueinander fassen<br />

können, ohne sich jemals in Präsenz<br />

gesehen zu haben. Nicht jeder Mensch<br />

braucht den direkten Kontakt zu Kolleginnen<br />

und Kollegen.“<br />

Neue Organisationsform<br />

Teil der <strong>Forschung</strong> von Andreas Eckhardt<br />

sind auch Dezentralisierte Autonome<br />

Organisationen (engl.: decentralized<br />

autonomous organizations), kurz DAOs.<br />

Sie stellen die Extremform der virtuellen<br />

Organisation dar. Bei diesem Organisationstypus<br />

arbeiten Menschen komplett<br />

virtuell und dezentralisiert über den Globus<br />

hinweg verteilt zusammen an einem<br />

gemeinsamen Ziel. DAOs weisen keine<br />

hierarchischen Management-Strukturen<br />

mehr auf, alle Regeln, Rollen und Prozesse<br />

dieser Unternehmung sind als Code<br />

26 zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Foto: Andreas Friedle


WIRTSCHAFT<br />

„Es gibt bereits erste <strong>Forschung</strong>sergebnisse, die zeigen, dass Mitarbeiter*innen auch in einer völlig virtuellen<br />

Arbeitsumgebung starkes Vertrauen zueinander fassen können, ohne sich jemals in Präsenz gesehen zu<br />

haben. Nicht jeder Mensch braucht den direkten Kontakt zu Kolleg*innen.“<br />

Andreas Eckhardt<br />

primär auf der Ethereum-Blockchain in<br />

sogenannten Smart Contracts hinterlegt.<br />

Diese sind für alle Mitglieder der Blockchain<br />

transparent einsehbar. Entscheidungen<br />

innerhalb einer DAO trifft die virtuelle<br />

Gemeinschaft der beteiligten Akteure.<br />

Sowohl im Zusammenhang mit virtuellen<br />

Organisationen als auch mit ihrer<br />

Extremform, den DAOs, ergeben sich<br />

jedoch gerade aus Perspektive der Länder<br />

der Europäischen Union, in denen<br />

die Rechte von Arbeitnehmer*innen und<br />

das Prinzip des Sozialstaats wichtige Errungenschaften<br />

darstellen, viele Fragen:<br />

Wie etwa soll mit einer global verteilten<br />

Belegschaft umgegangen werden? Muss<br />

ich jemandem, den ich außerhalb meines<br />

Landes anstelle, trotzdem die Vorteile<br />

meines Sozialsystems zukommen lassen?<br />

Rechtlich ist das noch nicht geklärt.<br />

„Diesen offenen Fragen müssen wir uns<br />

stellen. Denn es ist auch klar, dass die EU<br />

weltweit gesehen eine Sonderrolle beim<br />

Arbeitnehmer*innen-Schutz einnimmt.<br />

Trotz teils berechtigter Kritik an diesen<br />

neuen virtuellen Organisationsformen<br />

muss Europa konkurrenzfähig bleiben.<br />

Spätestens, wenn virtuelle Organisationen<br />

sich in anderen Erdteilen wie Asien<br />

und Amerika noch stärker durchsetzen,<br />

können wir sie nicht mehr ignorieren.<br />

Das funktioniert in einer globalisierten<br />

Welt nicht“, betont Andreas Eckhardt.<br />

Allerdings gibt es derzeit noch keinen<br />

allgemeinen Rechtsrahmen für DAOs auf<br />

globaler oder EU-Ebene. Die einzige Ausnahme<br />

ist der US-Bundesstaat Wyoming.<br />

Dort können DAOs seit dem vergangenen<br />

Jahr den Rechtsstatus einer LLC (Limited<br />

Liability Company) erlangen, die<br />

stark Gesellschaften mit beschränkter<br />

Haftung in unserem Wirtschaftssystem<br />

ähnelt. Die weitere Entwicklung verfolgt<br />

wohl nicht nur Andreas Eckhardt mit<br />

Spannung. <br />

lm<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 27


INFORMATIK<br />

SCHRITT FÜR SCHRITT<br />

Justus Piater lehrt seinem Roboter das Lernen – mit Erfolg. So lernte der Roboter, wie sich<br />

Objekte bewegen, wenn er sie anschubst, und wie er diese stapeln kann. Nun soll er sich aus gelernten<br />

Bewegungen neue erschließen und mit dem Menschen interagieren lernen.<br />

Am 25. Jänner 1921 erblickte der<br />

Roboter das Licht der Welt. An<br />

diesem Tag gab das Prager Nationaltheater<br />

erstmals das Drama R. U. R.<br />

von Karel Čapek. Millionen menschenähnlicher<br />

Maschinen dienen darin den<br />

Menschen als billige Arbeitskräfte und<br />

übernehmen Tätigkeiten in Haushalt<br />

und Industrie. Čapeks Bruder Josef gab<br />

den Maschinen einen Namen – Robota,<br />

tschechisch für Frondienst oder Zwangsarbeit.<br />

Heute kommen Roboter vielseitig zum<br />

Einsatz, etwa in Industrie oder Medizin,<br />

sie erkunden für Menschen gefährliche<br />

Regionen – oder mähen einfach Rasen.<br />

Gemeinsam ist ihnen, dass sie für ihre<br />

Aufgaben programmiert wurden. Aber<br />

kann man Roboter mit derart vielen Daten<br />

füttern, dass sie die ihnen gestellten<br />

Aufgaben jederzeit und überall erfüllen<br />

können? Und was passiert, wenn die<br />

Realität nicht dem Programmierten entspricht?<br />

Justus Piater, Robotik-Spezialist<br />

am Institut für Informatik der Universität<br />

Innsbruck, wählt daher einen anderen<br />

Weg – er will Roboter lehren, selbstständig<br />

zu lernen. Erste Schritte sind schon<br />

gemacht, nun wendet er sich mit seinem<br />

Team dem nächsten zu.<br />

Nicht ganz 100 Jahre nach der Uraufführung<br />

von R. U. R. erblickte auch am<br />

Innsbrucker Informatikinstitut ein Roboter<br />

das Licht der Welt: Im Rahmen des<br />

EU-Projekts Xperience (2011 – 2015) und<br />

unterstützt durch die Universität Innsbruck<br />

entstand Robin, der sein Wissen<br />

durch Lernen aus Erfahrung bezieht. Robin<br />

„schubste“ unterschiedliche Gegenstände<br />

– Bauklötze, Schachteln, Bälle… –,<br />

beo bachtete deren „Reaktion“ und clusterte<br />

die sensormotorischen Daten, die<br />

er von diesem Prozess via Kamera und<br />

Kraftsensoren erhielt. „In der Folge ordnet<br />

er ein Objekt aufgrund visueller Features<br />

einem Cluster zu und weiß, wie sich<br />

dieses Objekt dann erwartungsgemäß<br />

verhält“, erklärt Piater. Robin lernte also,<br />

dass runde Objekte rollen, wenn er sie anschubst,<br />

Klötze aber nicht. Mit diesem erlernten<br />

Wissen ausgestattet schickten die<br />

Informatiker ihren Roboter in die nächste<br />

Schulstunde. Robin agierte nun mit zwei<br />

Objekten, schaute, was passiert, wenn er<br />

einen Ball auf einen Bauklotz oder eine<br />

Schachtel auf einen Ball stellt, clusterte<br />

wiederum die sensormotorischen Daten<br />

und lernte, so Piater, „im Zuge von zig<br />

Interaktionen, wie man Türme baut“.<br />

Bewegungen generalisieren<br />

Im bisherigen Lernprozess agierte Piaters<br />

Roboter als Einzelkämpfer, nun gehen<br />

die Innsbrucker Informatikerinnen und<br />

Informatiker daran, auch das humane<br />

Umfeld einzubinden. In dem EUREGIO-<br />

Projekt OLIVER – Open-Ended Learning<br />

for Interactive Robots (2019 – 2<strong>02</strong>2), wollten<br />

sie in Zusammenarbeit mit der Uni Bozen<br />

Robotern beibringen, Aufgaben, die von<br />

ihren Designern nicht speziell vorgesehen<br />

sind, sowie kollaborative Aufgaben<br />

auszuführen. „Unser Fokus lag zunächst<br />

darauf, wie Roboter von einer gelernten<br />

Bewegung auf ähnliche Bewegungen<br />

generalisieren können“, berichtet Piater.<br />

Maschinelles Lernen, erläutert der Informatiker,<br />

basiere auf der Annahme, dass<br />

die Daten, die das trainierte Modell in der<br />

Praxis sieht, statistisch gesehen dieselben<br />

Daten wie im Training sind. Doch was<br />

wenn nicht? „Dann funktioniert das System<br />

nicht“, sagt Piater und nennt ein Beispiel:<br />

„Ein Roboter hat gelernt, einen Stift<br />

28<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Fotos: Andreas Friedle


INFORMATIK<br />

DER ROBOTER LERNT, von einer gelernten<br />

Bewegung auf ähnliche Bewegungen<br />

zu generalisieren.<br />

von A nach B zu legen. Soll er ihn aber mit<br />

der gleichen Bewegung nach dem weiter<br />

entfernten C legen, weiß er nicht, was zu<br />

tun ist. Er hat diese – längere – Bewegung<br />

im Training nicht gesehen.“ Dem Roboter<br />

fehlt die Fähigkeit, zu extrapolieren, sich<br />

aus Bekanntem Neues zu erschließen.<br />

Um diese Fähigkeit zu verbessern, setzt<br />

Piaters Team auf ein anderes künstliches<br />

neuronales Netzwerk (KNN) als üblich.<br />

Ein KNN besteht aus künstlichen Neuronen<br />

(Units), die über mehrere Eingänge Informationen<br />

als reale Zahlenwerte erhalten<br />

und diese mit einem Faktor multiplizieren.<br />

Die Resultate werden summiert und ergeben<br />

das Aktionspotenzial der Unit. „In<br />

sogenannten Equation Learner Networks<br />

berechnen Units hingegen ausdrucksstärkere<br />

Funktionen. Nicht die Summe, sondern<br />

z. B. das Produkt von zwei Eingängen.<br />

Oder die Sinusfunktion von lediglich<br />

einem Eingang“, erklärt Piater. Der Hintergedanke<br />

dabei: „Viele reale physikalische<br />

Prozesse sind durch derartige Funktionen<br />

beschrieben. Daher sollten wir auch solche<br />

Funktionen für die Repräsentation dieser<br />

Prozesse verwenden, damit die Repräsentation<br />

die realen physikalische Prozesse<br />

möglichst genau widerspiegelt.“ Darauf<br />

fußte die Annahme der Informatiker, dass<br />

Roboter mit Equation Learner Networks<br />

besser extrapolieren können. Und die Annahme<br />

konnten sie in der Simulation und<br />

im Praxisversuch bestätigen – obwohl der<br />

Roboter diese Bewegung nicht gelernt hatte,<br />

bewegte er den Stift von A nach C. Genauer<br />

gesagt: Nicht ganz bis nach C.<br />

„Im Prinzip funktionierte die Exploration<br />

auf die größere Strecke sehr gut. Es<br />

kam allerdings zu systematischen Abweichungen“,<br />

räumt Piater ein. Es zeigte<br />

sich, dass der Roboter die neue, weitere<br />

Bewegung zwar ausführen konnte, je<br />

weiter sie aber wurde, desto größer wurden<br />

die Abstände zum eigentlichen Ziel.<br />

Die Lösung fand Matteo Saveriano, ein<br />

inzwischen an der Università di Trento<br />

tätiger Mitarbeiter Piaters, gemeinsam<br />

mit Dissertant Héctor Pérez Villeda. „Sie<br />

entwickelten mit Hilfe von Quadratic<br />

Programing eine Methode, die gezeigte<br />

Bedingungen imitiert und dabei Randbedingungen<br />

erfüllt“, erläutert Piater. Dem<br />

Roboter werden Bewegungen gezeigt, die<br />

er lernt, zu rekonstruieren – inklusive der<br />

festgelegten Bedingung, dass die Bewegung<br />

von einem Anfang bis zu einem Ende<br />

reichen muss. In Kombination mit der<br />

erlernten Explorationsfähigkeit aus dem<br />

ersten Schritt gelingt es dem Roboter nun<br />

tatsächlich, den Stift von A nach C zu bewegen<br />

– egal, wie weit entfernt C auch ist.<br />

Robotik & Affordanzen<br />

Auf die Kollaboration mit Menschen<br />

zielt mit ELSA, kurz für Effective Learning<br />

of Social Affordances for Human-Robot<br />

Interaction, ein anderes Innsbrucker<br />

Robotik-Projekt ab. In französisch-österreichischer<br />

Zusammenarbeit wollen Forscherinnen<br />

und Forscher aus Informatik<br />

und Psychologie Robotern beibringen,<br />

sogenannte Affordanzen zu erkennen.<br />

„Der Begriff stammt aus der Psychologie<br />

und bezeichnet Aktionsmöglichkeiten,<br />

die ein Objekt einem Aktor bietet. In EL-<br />

SA haben wir den Begriff auf die soziale<br />

Ebene erweitert, nämlich auf Menschen,<br />

die ihrem Umfeld Interaktionsmöglichkeiten<br />

anbieten“, erklärt Piater. Durch<br />

das Erkennen solcher Affordanzen sollen<br />

Roboter lernen, mit ihrem menschlichen<br />

Umfeld zielgerichteter zu interagieren:<br />

„Menschen haben unterschiedliche Fähigkeiten,<br />

zum Beispiel, wenn sie bestimmte<br />

Werkzeuge bei sich haben. Jemanden mit<br />

einer Schere kann ein Roboter bitten, ein<br />

Blatt Papier durchzuschneiden. Die gleiche<br />

Bitte ohne Schere in der Nähe ergibt<br />

aber keinen Sinn, das muss ein Roboter<br />

allerdings auch begreifen“, erläutert Piater.<br />

Das bis 2<strong>02</strong>6 laufende Projekt, angesiedelt<br />

am Institut für Informatik und am<br />

„Digital Science Center“ (DiSC) der Uni<br />

Innsbruck, soll das Handlungsrepertoire<br />

von Robotern in Zusammenarbeit mit<br />

Menschen deutlich erweitern.<br />

Ein weiterer Schritt also zum humanoiden<br />

Roboter, wie ihn Čapek in R. U. R. konzipierte?<br />

„Aus wissenschaftlicher Sicht ist<br />

es extrem interessant, daran zu arbeiten.<br />

Wir lernen dabei viel über Intelligenz,<br />

Autonomie und wie der Mensch funktioniert“,<br />

sagt dazu Piater: „Ob aber jemals<br />

humanoide Roboter im Einsatz sein werden,<br />

ist offen, da die Komplexität immens<br />

ist. Möglicherweise kommt man mit spezialisierten<br />

Robotern viel weiter.“ ah<br />

JUSTUS PIATER (*1968 in Bremen) studierte<br />

Informatik an der TU Braunschweig<br />

sowie der Universität Magdeburg und<br />

schloss 1994 mit dem Diplom ab. An<br />

der University of Massachusetts machte<br />

er einen M. Sc. (1998) und einen Ph. D.<br />

(2001) in Computer Science. Nach einer<br />

Zeit als PostDoc am <strong>Forschung</strong>sinstitut<br />

INRIA Rhône-Alpes wechselte er 20<strong>02</strong> an<br />

die Université de Liège in Belgien. 2010<br />

wurde er an das Institut für Informatik<br />

der Universität Innsbruck berufen, wo er<br />

die Arbeitsgruppe Intelligent and Interactive<br />

Systems leitet.<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 29


RECHTSWISSENSCHAFT<br />

30 zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Foto: Andreas Friedle


RECHTSWISSENSCHAFT<br />

MENSCHENRECHTE<br />

IN ÖSTERREICH SCHÜTZEN<br />

Verena Murschetz beobachtet seit sieben Jahren, wie es um die Einhaltung von Menschenrechten in<br />

Justizanstalten, Polizeianhaltezentren und anderen Orten des Freiheitsentzugs in Tirol und Vorarlberg<br />

steht. Im Interview gibt Murschetz, Professorin für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität<br />

Innsbruck, Einblick in ihre Tätigkeit und erzählt, wie diese in <strong>Forschung</strong> und Lehre einfließt.<br />

Seit dem Jahre 2012 wird in Österreich<br />

das OPCAT, eine Ergänzung<br />

zum Anti-Folter-Übereinkommen der<br />

Vereinten Nationen, umgesetzt: Expert*innen-Kommissionen<br />

auf regionaler und Bundesebene<br />

machten seither durchschnittlich<br />

450 Besuche pro Jahr in Einrichtungen des<br />

Freiheitsentzugs. Im Zuge dieser Kontrollmaßnahmen<br />

wurden in bis zu 80 Prozent<br />

der Fälle Defizite festgestellt. Die Juristin<br />

Verena Murschetz leitet die Kommission für<br />

Tirol und Vorarlberg. Im Folgenden spricht<br />

sie über Menschenrechtsschutz in Praxis,<br />

<strong>Forschung</strong> und Lehre.<br />

ZUKUNFT: Was ist OPCAT und wie wird<br />

es umgesetzt?<br />

VERENA MURSCHETZ: Als fakultatives<br />

Zusatzprotokoll zum Antifolter-Abkommen<br />

trägt OPCAT den Staaten, die es<br />

ratifizieren, auf, einen sogenannten Nationalen<br />

Präventionsmechanismus einzurichten.<br />

Darunter ist ein zusätzlicher<br />

Kontrollmechanismus zu verstehen, der<br />

durch Kontrollbesuche präventiv vor<br />

Menschenrechtsverletzungen schützen<br />

soll. In Österreich involviert dieser<br />

die Volksanwaltschaft und sechs Länderkommissionen<br />

sowie eine Bundeskommission.<br />

Diese haben die Aufgabe,<br />

unangekündigte Besuche in Einrichtungen,<br />

welche die Freiheit entziehen oder<br />

auch nur potenziell entziehen können,<br />

zu machen und darüber zu berichten. In<br />

Österreich sind wir vergleichsweise gut<br />

aufgestellt und können daher nicht nur<br />

die klassischen Orte des Freiheitsentzugs<br />

wie Justizanstalten, Polizeianhaltung und<br />

Psychiatrien, sondern auch Alten- und<br />

Pflegeheime, Einrichtungen für Kinder<br />

und Jugendliche und für Menschen mit<br />

Behinderungen besuchen.<br />

ZUKUNFT: Sie sind seit 2015 Leiterin der<br />

Kommission 1 für Tirol und Vorarlberg.<br />

Was machen Sie und Ihre Kommission<br />

ganz konkret?<br />

MURSCHETZ: Als Kommissionsleiterin<br />

entscheide ich zunächst, welche Einrichtungen<br />

wir prüfen und in welcher<br />

Expert*innen-Zusammensetzung. Wir<br />

gehen dann unangekündigt in die Institutionen,<br />

führen Gespräche mit den<br />

Insass*innen, Klient*innen oder Bewohner*innen,<br />

aber auch mit dem Personal<br />

und der Leitung. Wir protokollieren<br />

alle Gespräche und treffen dann zu bestimmten<br />

Themen wie zum Beispiel zu<br />

freiheitsbeschränkenden Maßnahmen<br />

Feststellungen und eine menschenrechtliche<br />

Beurteilung. Das heißt, wir erklären<br />

im Protokoll und auch in einem abschließenden<br />

Gespräch vor Ort, warum etwas<br />

menschenrechtlich zu beanstanden ist<br />

und formulieren konkrete Empfehlungen<br />

bzw. Verbesserungsvorschläge. Das<br />

Protokoll über den Besuch erhält dann<br />

die Volksanwaltschaft und kommuniziert<br />

die Beanstandungen und Empfehlungen<br />

an das zuständige Ministerium<br />

bzw. die Landesregierung sowie die zuständigen<br />

Trägerinstitutionen.<br />

ZUKUNFT: Kommt es im Zuge solcher Besuche<br />

auch manchmal zu Anzeigen?<br />

MURSCHETZ: Ja, wenn ein Problem so<br />

schwerwiegend ist, dass es strafrechtlich<br />

relevant ist, wie z. B. jüngst der<br />

Pflegeskandal in Salzburg. Das ist nicht<br />

so häufig, kommt aber vor. Aber es ist<br />

nicht unsere Aufgabe, nachträglich zu<br />

prüfen, ob ein Verschulden vorliegt,<br />

zum Beispiel, wenn ein Suizid während<br />

eines Freiheitsentzugs stattgefunden hat.<br />

Unser Ziel ist es, strukturelle Probleme<br />

aufzudecken und konkrete Empfehlungen<br />

zur Beseitigung der festgestellten<br />

Defizite vorzuschlagen.<br />

ZUKUNFT: Ist es in der Alltagspraxis nicht<br />

schwierig, rechtliche von strukturellen<br />

oder sozialen Problemen abzugrenzen?<br />

MURSCHETZ: In meiner Kommission<br />

sind verschiedene Expert*innen vertreten.<br />

Wir haben zwei Jurist*innen, eine<br />

davon ist auch Sozialpädagogin, einen<br />

Psychiater, einen diplomierten Gesundheits-<br />

und Krankenpfleger, eine Fachsozialbetreuerin<br />

für Altenarbeit, eine<br />

Psychologin und einen Experten für Behindertenrecht.<br />

Die Zusammensetzung<br />

und Stärke der Kommission richten sich<br />

„Wir merken, dass unsere Besuche sehr viel bewirken, gerade im<br />

Sozial- und Gesundheitsbereich. Insbesondere bei Alten- und<br />

Pflegeheimen stellen wir eine hohe Reflexionsbereitschaft und<br />

Offenheit für unsere Vorschläge fest.“<br />

nach der Einrichtung und den konkreten<br />

Schwerpunkten, die wir prüfen. In<br />

einem gemeinsamen Protokoll hält jedes<br />

Kommissionsmitglied seine Wahrnehmungen<br />

fest und bewertet diese aus<br />

seiner Expertise. Rein rechtlich gesehen<br />

gibt es für die jeweiligen Einrichtungen<br />

verschiedene, aber klare Vorgaben, z. B.<br />

das Strafvollzugsgesetz für Justizanstalten,<br />

das Heimaufenthaltsgesetz, das<br />

Unterbringungsgesetz oder die Behindertenrechtskonvention.<br />

Insofern ist die<br />

Einschätzung nicht so schwer.<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 31


RECHTSWISSENSCHAFT<br />

VERENA MURSCHETZ ist seit 2011<br />

Universitätsprofessorin für Strafrecht und<br />

Strafprozessrecht einschließlich des Europäischen<br />

und Internationalen Strafrechts<br />

an der Universität Innsbruck, wo sie sich<br />

2006 habilitierte. Murschetz studierte<br />

Rechtswissenschaften in Innsbruck und<br />

an der University of California at Los<br />

Angeles. Sie ist Mitglied in zahlreichen<br />

nationalen und internationalen Vereinigungen<br />

und setzt sich u. a. als Leiterin<br />

der Kommission 1 der österreichischen<br />

Volksanwaltschaft für den Schutz der<br />

Menschenrechte ein, die auch einen<br />

wissenschaftlichen Schwerpunkt ihrer<br />

Arbeit bilden.<br />

ZUKUNFT: Gehen Sie selbst auch bei allen<br />

Besuchen mit?<br />

MURSCHETZ: Im Schnitt macht die Kommission<br />

ca. vier Besuche im Monat – in<br />

unterschiedlicher Besetzung. Ich selbst<br />

habe bereits alle Arten von Einrichtungen<br />

besucht, bin aber aufgrund meines<br />

wissenschaftlichen Schwerpunkts am<br />

häufigsten in Justizanstalten mitgegangen.<br />

Inzwischen begleite ich die Besuche<br />

seltener, bin aber an jeder Protokollerstellung<br />

beteiligt und trage für jedes Protokoll<br />

auch die Letztverantwortung.<br />

ZUKUNFT: Menschenrechte sind ja auch<br />

Ihr <strong>Forschung</strong>sgegenstand. Ich gehe<br />

davon aus, dass sich Ihre Tätigkeit als<br />

Kommissionsleiterin und als Rechtswissenschaftlerin<br />

gegenseitig befruchten…<br />

MURSCHETZ: Genau. Als Wissenschaftlerin<br />

ist für mich zunächst die theoretische<br />

Beurteilung von Normen und Erkenntnissen<br />

der Rechtsprechung wichtig. Aber<br />

dann in der Praxis zu sehen, inwieweit<br />

diese Normen und gerichtlichen Entscheidungen<br />

umgesetzt werden, welche<br />

Probleme es gibt beziehungsweise aus<br />

welchem Grund rechtliche Vorgaben<br />

eben nicht eingehalten werden, ist natürlich<br />

sehr spannend und bereichernd.<br />

Auch bei der wissenschaftlichen Bearbeitung<br />

oder Erstellung von Reformvorschlägen<br />

hat man natürlich mehr Gewicht,<br />

wenn man die Praxis gut kennt.<br />

Insgesamt befruchtet dieses Praxiswissen<br />

und gesteigerte Problembewusstsein<br />

meine <strong>Forschung</strong>, das heißt Publikationen,<br />

Vorträge, Tagungen etc., ungemein.<br />

Meine Tätigkeit in der Kommission ist<br />

aber nicht nur für meine wissenschaftliche<br />

Arbeit, sondern auch für die Lehre<br />

sehr interessant. Ich habe im Jahr, in<br />

dem ich die Kommissionsleitung übernommen<br />

habe, ein Seminar zum Thema<br />

Strafvollzug und Menschenrechte gestartet.<br />

Wir besuchen im Zuge dessen auch<br />

immer eine Justizanstalt und ich lade relevante<br />

Praktikerinnen und Praktiker in<br />

meine Lehrveranstaltungen ein, die ich<br />

über meine Funktion als Kommissionsleiterin<br />

kennengelernt habe.<br />

„Bei der wissenschaftlichen<br />

Bearbeitung oder Erstellung von<br />

Reformvorschlägen hat man<br />

natürlich mehr Gewicht, wenn<br />

man die Praxis gut kennt.“<br />

ZUKUNFT: Das heißt, das Thema kommt<br />

auch in der Lehre gut an?<br />

MURSCHETZ: Ja, das Seminar ist immer<br />

sehr gut besucht, und durch die Studierenden<br />

werden viele interessante<br />

Themen beleuchtet. Was sie in ihren<br />

Seminararbeiten theoretisch bearbeiten<br />

und beurteilen müssen, können sie dann<br />

eben auch praktisch hinterlegen. Und seit<br />

ich das Seminar – und seit letztem Jahr<br />

auch eine Vorlesung im Straf- und Maßnahmenvollzugsrecht<br />

– anbiete, steigt die<br />

Zahl der Diplomand*innen, die sich in ihren<br />

Arbeiten mit wichtigen Aspekten aus<br />

Straf- und Maßnahmenvollzug beschäftigen,<br />

sehr stark an. Das bringt auch das<br />

in Österreich wissenschaftlich eher stiefmütterlich<br />

behandelte Fach weiter.<br />

ZUKUNFT: Kehren wir noch einmal zurück<br />

zur Kommission. Haben Sie eine besondere<br />

Erfolgsgeschichte zu erzählen?<br />

MURSCHETZ: Sagen wir so: Wir merken,<br />

dass unsere Besuche sehr viel bewirken,<br />

gerade im Sozial- und Gesundheitsbereich.<br />

Insbesondere bei Alten- und<br />

Pflegeheimen stellen wir eine hohe Reflexionsbereitschaft<br />

und Offenheit für<br />

unsere Vorschläge fest. Und unsere Berichte<br />

bieten den Einrichtungen oft auch<br />

eine Argumentationsbasis für von ihnen<br />

selbst gewünschte Verbesserungen zum<br />

Schutz der Menschenrechte. Besonders<br />

freut mich, dass wir uns vor allem im Sozial-<br />

und Gesundheitsbereich, aber auch<br />

im Justizbereich, Respekt verschaffen<br />

konnten, Respekt nicht als gefürchtetes<br />

Kontrollorgan, sondern vielmehr Respekt<br />

als Expert*innenteam.<br />

ZUKUNFT: Können Sie konkrete Beispiele<br />

aus den angeführten Bereichen nennen?<br />

MURSCHETZ: Der österreichische „Nationaler<br />

Präventionsmechanismus“, kurz<br />

NPM, hat zum Beispiel die Abschaffung<br />

der Netzbetten in Psychiatrien, dringend<br />

nötige Aufstockungen von Nachtdiensten<br />

uvm. bewirkt. Es ist durch die Besuche<br />

und Berichte der Kommissionen auch<br />

schon mehrfach zu Schließungen desaströser<br />

Einrichtungen gekommen, wie die<br />

Schließung eines als Frühstückspension<br />

genehmigten Hauses, in dem psychisch<br />

schwerst kranke Menschen ohne Betreuung<br />

durch qualifiziertes Personal lebten.<br />

Der Pflegeskandal in Salzburg zeigt besonders,<br />

wie wichtig die unabhängige<br />

Kontrolle durch den NPM ist. ef<br />

32<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Foto: Andreas Friedle


GURGL CARAT<br />

START INS KONGRESSLEBEN<br />

Das Kongress- und Eventzentrum Gurgl Carat feierte nach der<br />

pandemiebedingten Zwangspause seine offizielle Eröffnung.<br />

R<br />

und 100 Gäste aus Tourismus, Wissenschaft<br />

und Politik trafen sich im<br />

Juli 2<strong>02</strong>2 in Obergurgl, um an der<br />

offiziellen Eröffnung des Gurgl Carat<br />

teilzunehmen. Das höchstgelegene Konferenzzentrum<br />

Europas weist bereits eine<br />

bewegte Geschichte auf. Nach der Fertigstellung<br />

im Januar 2<strong>02</strong>0 und ersten Veranstaltungen<br />

schloss sich im März 2<strong>02</strong>0 die<br />

Covid-bedingte Pause an. Die offizielle Eröffnungsfeier<br />

mit Segnung des Gebäudes<br />

markierte den formellen Neustart nach<br />

der Pandemie. Langfristig soll das Gurgl<br />

Carat nicht nur zur Belebung des Dorfzentrums<br />

beitragen, sondern aus Obergurgl<br />

die Top-Kongressdestination der Alpen<br />

für internationale Gäste machen.<br />

Blick in die <strong>Zukunft</strong><br />

Das Gurgl Carat kann nun erstmals sein<br />

volles Potenzial entfalten. Insbesondere<br />

die moderne Veranstaltungstechnik der<br />

UNTER DEM MOTTO „Alpiner Raum<br />

für Inspiration“ finden im Gurgl Carat<br />

seit Januar 2<strong>02</strong>0 Meetings, Kongresse,<br />

Produktvorführungen und kulturelle Veranstaltungen<br />

statt. Bis zu 500 Personen<br />

fasst das futuristische Gebäude, dessen<br />

Form an einen geschliffenen Diamanten<br />

erinnert. Damit ist die Eventlocation im<br />

Dorfzentrum eine Hommage an Gurgl,<br />

den „Diamant der Alpen“. Das Gurgl<br />

Carat reiht sich in die lange Kongressund<br />

Wissenschaftstradition des Tiroler<br />

Ortes ein. Die Verbindung von Wirtschaft,<br />

Wissenschaft und Kultur zeigt sich auch<br />

in der Betreibergesellschaft, die aus Ötztal<br />

Tourismus, Universität Innsbruck und<br />

Gemeinde Sölden besteht.<br />

Location sei zukünftig ein großer Wettbewerbsvorteil.<br />

„Das Gurgl Carat ist<br />

aufgrund seiner Ausstattung besonders<br />

für technisch aufwendige Events wie<br />

Hybrid-Konferenzen, Live- Schaltungen,<br />

Podiumsdiskussionen und Produktpräsentationen<br />

geeignet“, betont Gurgl-Carat-Geschäftsführer<br />

Felix Kupfer. Auch<br />

die Gäste der Eröffnungsfeierlichkeiten<br />

erhielten einen Vorgeschmack auf die<br />

technischen Möglichkeiten. Im größten<br />

Saal, Schalfkogel, der Platz für bis zu 500<br />

Personen bietet, präsentierten die Gastgeber<br />

das Herzstück des Gebäudes – die 100<br />

m² Frontleinwand mit Full-HD-Projektion.<br />

Nun gilt es, das moderne Eventzentrum<br />

mit der vorhandenen Infrastruktur<br />

bestmöglich zu verbinden, um neue Synergien<br />

zu schaffen. Der Grundstein dafür<br />

ist mit der Ötztal Tourismus Congress<br />

GmbH gelegt, die vom Ötztal Tourismus,<br />

der Gemeinde Sölden und der Universität<br />

Innsbruck betrieben wird. Das gemeinsame<br />

Ziel: Obergurgl langfristig als Kongressstandort<br />

und Universitätsdorf zu<br />

etablieren. Ernst Schöpf, Bürgermeister<br />

der Gemeinde Sölden, ist überzeugt, dass<br />

dank der Zusammenarbeit und der guten<br />

Infrastruktur in Obergurgl die besten<br />

Voraussetzungen für den aufstrebenden<br />

Kongresstourismus gegeben seien. Auch<br />

Sara Matt, Leiterin der Transferstelle der<br />

Universität Innsbruck, betont die Vorteile<br />

des Standorts Obergurgl: „Wissenschaft<br />

passiert hier oben viel effizienter als bei<br />

einem Treffen im Büro.“ Abseits des städtischen<br />

Trubels und mitten in der Natur<br />

herrschen nicht nur ideale <strong>Forschung</strong>sbedingungen,<br />

vor allem sei auf 1.900 Metern<br />

Raum für ergiebige Gespräche und Gedankenaustausch<br />

auf höchstem Niveau.<br />

Standort mit Tradition<br />

Dass das modernste Kongresszentrum<br />

Österreichs ausgerechnet in Obergurgl<br />

steht, ist kein Zufall. Seit der Gründung<br />

des Bundessportheims im Jahr 1951, dem<br />

heutigen Universitätszentrum Obergurgl,<br />

finden in dem kleinen Bergdorf regelmäßig<br />

Veranstaltungen und Fortbildungen<br />

statt. Die neue Location soll nicht nur die<br />

Tagungstradition des Ortes fortführen,<br />

sondern auch den ganzjährigen Kongresstourismus<br />

stärken. „Eine Location auf<br />

diesem (Höhen-)Niveau in Verbindung<br />

mit der hochqualitativen Ausrichtung der<br />

Hotel- und Nächtigungsbetriebe und der<br />

einzigartigen alpinen Umgebung ist ein<br />

Alleinstellungsmerkmal in diesem Segment“,<br />

ist sich der CEO des Ötztal Tourismus<br />

Oliver Schwarz sicher. Es gehe nun<br />

darum, diese drei Dinge zusammenzuführen,<br />

um den Tourismus im MICE-Bereich<br />

(Meetings, Incentives, Conventions,<br />

Exhibitions) in Gurgl weiter voranzutreiben.<br />

Fotos: Gurgl Carat<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 33


PHARMAZIE<br />

NEUER BLICK AUF<br />

ARZNEISTOFFE<br />

Anita Weidmann, Professorin für Klinische Pharmazie an der Uni Innsbruck, will mit ihrer Arbeit einen<br />

neuen Blick auf Medikamente etablieren, der dabei helfen soll, die Arzneimitteltherapiesicherheit zu<br />

verbessern und zur globalen Herausforderung in Bezug auf Patient*innensicherheit beiträgt.<br />

„Wir haben versucht, die<br />

Auswirkungen der Therapie für<br />

die Patientinnen und Patienten<br />

ganzheitlich darzustellen.“<br />

<br />

Anita Weidmann<br />

Wirkstoffsuche und Wirkstoffentwicklung,<br />

Technologien,<br />

um diese möglichst effizient<br />

an ihr Ziel im Körper zu bringen, und<br />

die Analyse von Wechsel- und Nebenwirkungen<br />

einzelner Wirkstoffe sind<br />

<strong>Forschung</strong>sarbeiten, die gemeinhin im<br />

Bereich der Pharmazie verortet werden.<br />

An der Universität Innsbruck wurde Anfang<br />

2<strong>02</strong>1 mit dem österreichweit einzigen<br />

Lehrstuhl für Klinische Pharmazie<br />

ein Fachgebiet eingerichtet, das auch die<br />

Erfahrungen der Patient*innen mit ihren<br />

Medikamenten im Blick hat.<br />

„In der klinischen Pharmazie haben<br />

wir uns für einen anderen Blickwinkel<br />

entschieden und zwar den, wie<br />

Patientinnen und Patienten im Laufe<br />

ihrer gesamten Behandlungsspanne mit<br />

Medikamenten umgehen. Unsere <strong>Forschung</strong>srichtung<br />

zielt darauf ab, wissenschaftliche<br />

Evidenzen zu schaffen,<br />

wie Pharmazeut*innen zur Patient*innensicherheit<br />

beitragen können. Die<br />

eigenen Erfahrungen der Patientinnen<br />

und Patienten mit den Medikamenten<br />

sind dabei wesentlich“, erklärt Anita<br />

Weidmann, Professorin für Klinische<br />

Pharmazie an der Uni Innsbruck. „Dieser<br />

neue <strong>Forschung</strong>sbereich an der Uni<br />

Innsbruck entspricht auch einer globalen<br />

Direktive der Weltgesundheitsorganisation<br />

WHO, die sich zum Ziel gesetzt hat,<br />

die Patient*innensicherheit weltweit zu<br />

verbessern und flächendeckend zu standardisieren.“<br />

ANITA WEIDMANN will mithilfe ihrer wissenschaftlichen Arbeit die Erfahrungen von<br />

Patientinnen und Patienten während ihrer Chemotherapie verbessern.<br />

34<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Fotos: Colourbox.de (1), Andeas Friedle (1)


PHARMAZIE<br />

Prognosen sagen voraus, dass es 2030<br />

über 22 Millionen Krebspatient*innen<br />

pro Jahr geben wird. Dementsprechend<br />

wird ein großer Fokus auf die Krebstherapie<br />

und Entwicklung neuer Wirkstoffe<br />

gerichtet. Anita Weidmann will<br />

allerdings auch die Erfahrungen der Patient*innen<br />

im Verlauf der Behandlung<br />

verbessern. In einer qualitativen Studie<br />

hat sie deshalb gemeinsam mit ihrem<br />

Team die Erfahrungen von Krebspatientinnen<br />

und -patienten untersucht. Dabei<br />

begleiteten die Wissenschaftler*innen<br />

16 Menschen, die aufgrund ihrer Darmkrebs-Diagnose<br />

in ein bestimmtes Behandlungsschema<br />

fielen, über ihren gesamten<br />

Behandlungszeitraum.<br />

„Wir haben versucht, die Auswirkungen<br />

der Therapie für die Patientinnen<br />

und Patienten ganzheitlich darzustellen<br />

– sowohl was die Lebensqualität als<br />

auch was andere interne und externe<br />

Einflussfaktoren wie beispielsweise die<br />

finanzielle Situation betrifft“, erklärt die<br />

Klinische Pharmazeutin. „Da betreuende<br />

Angehörige im Verlauf einer Therapie<br />

auch eine wesentliche Rolle spielen,<br />

haben wir auch ihre jeweils engste Bezugs-<br />

und damit Betreuungsperson in<br />

die Studie aufgenommen und befragt“,<br />

beschreibt Weidmann das Studiendesign.<br />

Basis dieser qualitativen Studie war das<br />

sogenannte patients lived experience model,<br />

das von den Wissenschaftlerinnen und<br />

Wissenschaftlern durch intensive, systematische<br />

Literaturrecherche für den<br />

onkologischen Bereich angepasst wurde.<br />

Im Anschluss wurden die Patientinnen<br />

und Patienten über den Zeitraum ihrer<br />

sechsmonatigen Behandlung insgesamt<br />

vier mal interviewt.<br />

Ernüchterung & Überforderung<br />

„Unsere Gespräche haben gezeigt, dass<br />

viele Patientinnen und Patienten nach<br />

der Diagnose Darmkrebs eine Chemotherapie<br />

begonnen haben, weil ihre<br />

Hoffnung auf Heilung größer war als<br />

die Angst vor den Nebenwirkungen der<br />

Behandlung. Leider waren sie dann gegen<br />

Ende der Behandlung allerdings oft<br />

desillusioniert, weil sie feststellten, dass<br />

es keine Heilung gibt und dass sie sich<br />

wohl anders entschieden hätten, wenn<br />

sie zu Beginn der Behandlung die richtigen<br />

Fragen gestellt und mehr Informationen<br />

zu ihrem Fall gehabt hätten“, so<br />

Weidmann.<br />

ANITA WEIDMANN, geboren und aufgewachsen<br />

im deutschen Rheinhessen,<br />

absolvierte ihr Pharmaziestudium an der<br />

Robert Gordon University in Schottland,<br />

wo sie 2007 promovierte. Sie war einige<br />

Jahre als Apothekerin in öffentlichen<br />

und Krankenhausapotheken in Großbritannien<br />

tätig, absolvierte Auslandsaufenthalte<br />

und lehrte und forschte im<br />

Bereich Clinical Pharmacy an der Robert<br />

Gordon University. Seit Jänner 2<strong>02</strong>1 ist<br />

sie Universitätsprofessorin für Klinische<br />

Pharmazie an der Uni Innsbruck. Zudem<br />

ist sie Gastprofessorin an der Universität<br />

Graz und der Robert Gordon University<br />

und Mitglied der Expert*innengruppe zur<br />

Verschreibung von Generika im österreichischen<br />

Bundesministerium für Soziales,<br />

Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz,<br />

sowie im wissenschaftlichen<br />

Beirat der European Society of Clinical<br />

Pharmacy und der österreichischen Plattform<br />

Patientensicherheit.<br />

Es zeigte sich auch, dass die Patientinnen<br />

und Patienten zwar mit der Behandlung<br />

an sich und mit dem medizinischen<br />

Personal sehr zufrieden waren, in den<br />

Phasen zu Hause allerdings oft mit den<br />

Nebenwirkungen überfordert waren.<br />

Auch ihr Empfinden darüber, ein aktives<br />

Mitbestimmungsrecht zu haben, war oft<br />

nicht vorhanden. „Die Auswirkung der<br />

Medikamentierung auf die Lebensqualität<br />

– nicht die des Krebses selbst – wurde<br />

von allen Befragten als beträchtlich angegeben.<br />

Auch die Betreuungspersonen, die<br />

als Ungeschulte in den Zeiten zu Hause<br />

auch für die Medikamentengabe verantwortlich<br />

waren, fühlten sich oft überfordert“,<br />

erläutert Anita Weidmann.<br />

Insgesamt hat die Studie gezeigt, dass<br />

das System sehr gut funktioniert, Patient*innen<br />

und deren Angehörige aber<br />

teilweise komplett überfordert sind, weil<br />

der Zugang zur Information meist relativ<br />

generisch gehalten wird. Diese Überforderung<br />

führt dazu, dass Patient*innen,<br />

wenn sie zu Hause sind, öfter Ärztinnen<br />

und Ärzte oder die Notaufnahme kontaktieren<br />

und so zusätzlichen Druck auf<br />

das Gesundheitssystem aufbauen.<br />

Individualisierte Information<br />

„Dieser zusätzliche Druck könnte vermieden<br />

werden, wenn man Patient*innen<br />

und Angehörige sowohl bei der Diagnose<br />

als auch bei der Entlassung aus dem<br />

Krankenhaus richtig schult, ihnen genau<br />

erklärt, was auf sie zukommen wird,<br />

welche Medikamente sie bei welchen<br />

Symptomen und Nebenwirkungen verabreichen<br />

können und ab welchem Punkt<br />

sie wieder ärztliche Hilfe in Anspruch<br />

nehmen müssen. Ein individuell zugeschnittenes<br />

Beratungsgespräch könnte<br />

den Patientinnen und Patienten sowie ihren<br />

pflegenden Angehörigen Einiges erleichtern<br />

und am Ende auch das Gesundheitssystem<br />

entlasten“, ist die Klinische<br />

Pharmazeutin überzeugt. Zudem glaubt<br />

Anita Weidmann, dass auch individuelle<br />

Informationsgespräche während der Behandlung<br />

und eine gezieltere Förderung<br />

des Austausches zwischen Patientinnen<br />

und Patienten ihre Erfahrungen mit der<br />

Behandlung verbessern könnten.<br />

„Auch wenn alle in der Krebstherapie<br />

tätigen Ärztinnen und Ärzte sowie das<br />

Pflegepersonal sehr genau wissen, wie es<br />

den Patientinnen und Patienten geht,<br />

glauben wir, mit qualitativen Studien wie<br />

dieser, wissenschaftliche Evidenz zu<br />

schaffen, um die sich stets wandelnden<br />

Erfahrungen der Patient*innen mit ihren<br />

Arzneitherapien festzuhalten, um die Betreuung<br />

in dieser Hinsicht verbessern<br />

und standardisieren zu können. Denn<br />

eine Verbesserung der Erfahrungen der<br />

Patient*innen ist auch für den Behandlungserfolg<br />

wesentlich“, ist Weidmann<br />

überzeugt. <br />

sr<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 35


HOLZBAU<br />

NATURQUARTIER WEISSACHE: Unterberger Immobilien errichtete 2<strong>02</strong>1 in Kufstein Tirols bislang größten Wohnbau in Massivholz.<br />

ÜBERZEUGUNGSARBEIT<br />

Der Holzbau boomt, allerdings nicht bei Großbauten. Das Projekt BIGWOOD will daher Barrieren und<br />

Vorurteile gegenüber dem Einsatz von Holz bei mehrgeschoßigen Gebäuden abbauen.<br />

Es sind spektakuläre Bauten, die es<br />

immer wieder in die Schlagzeilen<br />

schaffen: 84 Meter ragt das Wiener<br />

HoHo in die Höhe, bietet auf knapp<br />

20.000 Quadratmetern Platz für Büros, ein<br />

Fitnessstudio, ein Hotel und ein Restaurant.<br />

Ähnlich aufsehenerregend ist das<br />

Mjøstårnet im norwegischen Brumunddal:<br />

85,5 Meter hoch ist der Wolkenkratzer,<br />

in dem man auch wohnen kann. Und gar<br />

86,6 Meter misst der Ascent Tower in Milwaukee,<br />

USA. Gemeinsam ist ihnen Holz<br />

als Baustoff, sie sind damit die – aktuell<br />

– höchsten Holzhäuser der Welt. Doch es<br />

muss nicht nur Höhe sein. In München<br />

entstand auf dem ehemaligen Gelände<br />

der Prinz-Eugen-Kaserne ein ökologisches<br />

Vorzeigeprojekt: Von den 1.800 Wohnungen<br />

wurden 566 in Holzbauweise gebaut,<br />

die damit das größte zusammenhängende<br />

Holzbauquartier Deutschlands bilden.<br />

Nicht ganz so beeindruckend nimmt<br />

sich im Vergleich dazu das Naturquartier<br />

Weißache in Kufstein aus, doch der Fünfgeschoßer<br />

in Gebäudeklasse 5 ist – abgesehen<br />

von Tiefgarage und Treppenläufen<br />

– ein reiner und damit Tirols größter Vollholzwohnbau.<br />

Wie diese Leuchtturmprojekte zeigen,<br />

eignet sich der nachhaltige Baustoff Holz<br />

für mehrgeschoßige und großvolumige<br />

Gebäude. Die Praxis zeigt aber: Gerade<br />

bei Großbauten, ob im Wohnungsbau<br />

oder bei Geschäftsgebäuden, gibt es noch<br />

zahlreiche Vorurteile, Bedenken und Barrieren.<br />

Diese abzubauen ist Ziel des Interreg-Projekts<br />

BIGWOOD. Geführt von der<br />

Universität Bozen wollen die Projektpartner<br />

– Arbeitsbereich Holzbau der Universität<br />

Innsbruck, proHolz Tirol und der bellunesische<br />

Unternehmerverband Centro<br />

Consorzi – ein überregionales Netzwerk<br />

etablieren, um alle Akteure im Holzbausektor<br />

auf den neusten Stand der Technik<br />

zu bringen.<br />

„Im privaten Sektor hat Bauen mit Holz<br />

in den letzten Jahren – mit einem preisbedingten<br />

Dämpfer 2<strong>02</strong>0 und 2<strong>02</strong>1 – sehr<br />

stark angezogen. Mit BIGWOOD zielen<br />

wir auf die größere Ebene, auf Wohnbauträger<br />

und öffentliche Auftraggeber, ab“,<br />

sagt Anton Kraler vom Arbeitsbereich<br />

Holzbau und erklärt warum: „Auch wenn<br />

es für viele der Traum ist: Wir haben nicht<br />

die Fläche, dass alle in einem Einfamilienhaus<br />

wohnen können. Wir müssen daher<br />

Raum nachhaltig und platzschonend nützen<br />

sowie kompakter und energieeffizienter<br />

bauen.“ Das BIGWOOD-Team will<br />

daher Überzeugungsarbeit leisten – vor<br />

allem aber Lösungen liefen. Helfen soll<br />

dabei ein Vorführmodell der anderen Art:<br />

In einer Koproduktion der Uni Innsbruck<br />

36<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Fotos: Alex Gretter (1), proHolz Tirol (4), Arbeitsbereich Holzbau (1)


HOLZBAU<br />

und der HTL Imst entstand ein transportables<br />

Mock-Up einer Wohnanlage der<br />

Gebäudeklasse 5 in Massivholzbauweise,<br />

anhand dessen Holzlösungen bis ins Detail<br />

anschaulich dargestellt werden.<br />

Holz-Lösungen<br />

„Geht es um Holzbau, hört man vor allem<br />

zwei Vorbehalte: Holz ist hellhörig und<br />

Holz brennt“, weiß Kraler. Kein Wunder<br />

also, dass sich der Holzbauexperte<br />

intensiv mit diesen Themen befasst. Im<br />

Betonbau regelt die Masse des Materials<br />

den Luftschallschutz, vergleichbare Massewerte<br />

mit Holz wären nur mit extrem<br />

dicken Wänden erreichbar – und daher<br />

aufgrund des Raumverlusts wirtschaftlich<br />

nicht umsetzbar. Im Holzbau setzt<br />

man daher auf Mehrschaligkeit. „Ähnlich<br />

wie bei Skirennen. Zwei, drei Fangnetze<br />

hintereinander federn den Sturz eines<br />

Läufers ab“, zieht Kraler einen sportlichen<br />

Vergleich. Mit Feder-Masse-Systemen<br />

lässt sich, so zeigen die Erfahrungen, der<br />

gesetzlich vorgeschriebene, in Österreich<br />

sehr strenge Luftschallschutz einhalten.<br />

„Auch für den Trittschallschutz können<br />

wir Lösungen anbieten“, führt der Wissenschaftler<br />

weiter aus. Um Trittschall zu<br />

vermeiden, benötigt es immer eine Mehrschaligkeit.<br />

Im Betonbau kommt Styrolose<br />

als Schüttmaterial zum Einsatz – für Holz<br />

ist der Kunststoff zu leicht, man bedient<br />

sich daher eines Naturmaterials: Kies.<br />

„Beim mehrgeschoßigen Holzwohnbau<br />

in der Innsbrucker Schützenstraße, den<br />

ich 2006 mitbetreuen durfte, kam erstmals<br />

Kies zum Einsatz. Heute ist es Standard“,<br />

erinnert sich Kraler.<br />

Auf Lösungen kann der Holzbau auch<br />

im Brandschutz verweisen. Holz brennt,<br />

logisch, wenn aber, dann gleichmäßig<br />

und langsam – und dieses Brandverhalten<br />

kann genau berechnet und eingeschätzt<br />

werden. Verlangt etwa die Statik eines Gebäudes<br />

zehn Zentimeter dicke Holzwände<br />

und das Abbrennverhalten des Holzes beträgt<br />

zwei Zentimeter in 30 Minuten, bedeutet<br />

dies, dass mit einer zwölf Zentimeter<br />

dicken Wand die Statik des brennenden<br />

Gebäudes für mindestens eine halbe Stunde<br />

gewährleistet ist. „Brandschutz zielt ja<br />

primär darauf ab, dass ein Gebäude lange<br />

genug stehen bleibt, damit Mensch und<br />

Tier es im Brandfall sicher verlassen können“,<br />

erläutert Kraler: „Es geht um Brandverhalten<br />

und Feuerwiderstand. Dafür<br />

können wir Lösungen bieten.“<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

HOLZBAU-MOCK-UP ON TOUR: Im<br />

Rahmen des Interreg-Projekts BIGWOOD<br />

entstand ein Vorführmodell der anderen<br />

Art. 1 Ein klassisches Rendering zeigt einen<br />

mögliche Wohnanlage der Gebäudeklasse 5<br />

in Massivholzbauweise. 2 Schülerinnen<br />

und Schüler der HTL Imst und proHolz Tirol<br />

konstruierten in Zusammenarbeit mit der<br />

Universität Innsbruck das entsprechende<br />

Mock-Up. 3 + 4 Das Mock-up ist<br />

zerlegbar und zeigt Strukturen wie z.B.<br />

Rahmenbauweise oder Holzschichten 5 Für<br />

Wohnbauträger, Planer und Architekten<br />

werden die angewandten Lösungen<br />

inklusive möglicher Materialien im Detail<br />

präsentiert.<br />

Lösungen für Objekte der Gebäudeklasse<br />

5, die von Kraler und seinen Projektmitarbeitern<br />

Julian Meyer und Benjamin<br />

Wolf intensiv mit Bauträgern sowie<br />

Expertinnen und Experten aus Architektur,<br />

Ingenieurwesen und Holzbau diskutiert<br />

und auch auf Wirtschaftlichkeit<br />

hinterfragt wurden. Das Ergebnis ist ein<br />

Online-Tool, das detaillierte Holzbau-Lösungen<br />

für Wände, Decken, Balkone, Terrassen,<br />

Fensteranschlüsse etc. bietet. „Immer<br />

mit spezieller Berücksichtigung der<br />

Komponenten Statik, Schall- und Brandschutz.<br />

Ein weiteres Augenmerk liegt<br />

auf dem Wärme- und Feuchteschutz“,<br />

beschreibt Kraler das Projektergebnis,<br />

das auch Vorschläge für Beschaffenheit<br />

und Qualität der zu verwendenden Materialien<br />

beinhaltet. Für ihn ist das Tool<br />

eine Argumentationshilfe, um Bedenken<br />

gegen einen mehrgeschoßigen Holzbau<br />

„fachlich fundiert zu entkräften“.<br />

Veranschaulicht werden die Holzbau-<br />

Lösungen mit dem Mock-Up. Das mittels<br />

3D-Druck von Schülerinnen und Schülern<br />

der HTL Imst sowie von proHolz Tirol gebaute<br />

Modell lässt sich leicht zerlegen und<br />

eröffnet so Blicke auf unterschiedliche<br />

Strukturen und Holzschichten, auf die<br />

Rahmenbauweise, auf Fenster, Fassaden<br />

und weitere Details. Mittels QR-Codes auf<br />

Infoflyern, so der Plan, geht‘s dann direkt<br />

zum Online-Tool. Seit Spätherbst 2<strong>02</strong>2 ist<br />

das Mock-Up auf Tour und kommt auf<br />

Veranstaltungen von Projekt- und assoziierten<br />

Partnern wie der HTL Imst oder<br />

dem Netzwerk Passivhaus zum Einsatz –<br />

und soll helfen, Vorurteile, Bedenken und<br />

Barrieren gegenüber mehrgeschoßigem<br />

Holzbau abzubauen.<br />

ah<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 37


WISSENSTRANSFER<br />

DIGITALE<br />

INNOVATIONEN ERARBEITEN<br />

Unternehmen und Organisationen aller Branchen sehen im Bereich Digitalisierung immer mehr<br />

Chancen. Das Institut für Informatik hat mit DIGIT einen Sparringpartner für die Umsetzung innovativer<br />

Ideen gegründet.<br />

Noch immer landen in Österreich<br />

zu viele Lebensmittel im Abfall.<br />

Im Handel tragen fehlerhafte<br />

Bestandsdaten, nicht optimierte Bestellungen<br />

und zu wenig Flexibilität bei der<br />

Preisbildung zu hohen Abfallmengen bei.<br />

Das Institut für Informatik versucht, gemeinsam<br />

mit dem Handelsunternehmen<br />

MPREIS, mit Mitteln der Datenanalyse<br />

und IT verschiedene Strategien zur Abfallvermeidung<br />

im Frischebereich (Obst,<br />

Gemüse, Molkereiprodukte) zu einem<br />

Gesamtprozess zusammenzufügen. So<br />

soll die Menge der in Filialen vernichteten<br />

Lebensmittel stark reduziert werden.<br />

„Das gemeinsame Projekt mit MPREIS<br />

ist nur ein Beispiel unserer Kooperation<br />

mit Unternehmen“, erzählt Ruth Breu,<br />

Leiterin des Instituts für Informatik der<br />

Mehr Informationen zu DIGIT, dem<br />

Entwicklungszentrum für digitale<br />

I­nnovation finden Sie hier:<br />

http://digit-uibk.at/<br />

Universität Innsbruck. Andere Projekte<br />

laufen derzeit zum Beispiel mit Hollu,<br />

planlicht, Bartenbach, Zumtobel und Riederbau.<br />

Viele dieser Projekte haben interdisziplinären<br />

Charakter und werden in<br />

Kooperation mit anderen Instituten, zum<br />

Beispiel im Bereich Bauingenieurwesen,<br />

Ökologie und Chemie durchgeführt.<br />

Gemeinsame Projekte<br />

Mit dem Entwicklungszentrum für digitale<br />

Innovation DIGIT hat Ruth Breu eine<br />

Plattform initiiert, die den Austausch von<br />

Wissen zwischen Universität sowie Unternehmen<br />

und Organisationen im Bereich<br />

Digitalisierung fördern soll. Die Partner<br />

erhalten Zugang zum Know-how der Forscherinnen<br />

und Forscher in anwendungsorientierten<br />

Bereichen, können Projektvorhaben<br />

verfolgen und sich direkt mit Studierenden<br />

vernetzen. „Wir konnten in den<br />

letzten beiden Jahren die Zahl drittmittelgeförderter<br />

Projekte in Kooperation mit<br />

Unternehmen in Westösterreich signifikant<br />

steigern“, sagt Breu. „Wir führen<br />

aber auch industriefinanzierte Projekte in<br />

Kooperation durch oder erledigen Auftragsforschung.<br />

In den nächsten Jahren<br />

werden wir auch verstärkt Angebote für<br />

die Weiterbildung entwickeln.“ <br />

DIGITAL INNOVATION HUB WEST:<br />

Für klein- und mittelständische Unternehmen<br />

gibt es neben DIGIT die Angebote<br />

des Digital Innovation Hub West. Der DIH<br />

West erleichtert KMUs den Zugang zu<br />

Know-how und Infrastruktur von Hochschulen<br />

und <strong>Forschung</strong>seinrichtungen.<br />

Es ist ein Zusammenschluss von acht<br />

Hochschulen und <strong>Forschung</strong>seinrichtungen<br />

(wissenschaftlichen Einrichtungen mit<br />

Digitalisierungsschwerpunkt) in Salzburg,<br />

Tirol und Vorarlberg, der<br />

drei Standortagenturen sowie<br />

Wirtschaftskammer Tirol und<br />

Industriellenvereinigung Tirol:<br />

https://dih-west.at/<br />

38 zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Foto: MPREIS


WISSENSTRANSFER<br />

DER SCHNEEPROPHET<br />

Künstliche Schneeerzeugung benötigt viel Wasser und Energie. Das<br />

Start-up lumiosys will Skigebieten beim Energiesparen helfen<br />

Werden in Tirol die Schneekanonen<br />

eingeschaltet, schnellt der<br />

Stromverbrauch in die Höhe. Bis<br />

zu 30 Kilowatt benötigt der Betrieb einer<br />

Schneekanone. In großen Skigebieten stehen<br />

mitunter über 1.000 Maschinen zur<br />

Schneeerzeugung. Dafür werden enorme<br />

Mengen an Energie und Wasser benötigt.<br />

Michael Warscher und Ulrich Strasser<br />

vom Institut für Geographie haben gemeinsam<br />

mit ihrem ehemaligen Kollegen<br />

Florian Hanzer das Start-up lumiosys<br />

gegründet, das den Skigebieten beim<br />

Energiesparen helfen will. Mit der von<br />

ihnen entwickelten Software „Schneeprophet“<br />

(www.schneeprophet.at) können<br />

die Kunden über ein Webinterface Daten<br />

zur Schneedecke abrufen. Basierend auf<br />

den aktuellen Wetterprognosen, Schneehöhen-<br />

und Wetterstationsmessungen<br />

KLIMABERICHT FÜR ÖSTERREICH<br />

sowie Beschneiungsdaten aus den Skigebieten<br />

simuliert die Software die Pistenverhältnisse<br />

in der <strong>Zukunft</strong> – detailliert<br />

und hochaufgelöst. Die Betreiber können<br />

so für jeden Punkt auf der Piste und abhängig<br />

von der Beschneiungsstrategie die<br />

Höhe der Schneedecke in den kommenden<br />

zwei Wochen abrufen. Dabei informiert<br />

die Software auch über den mit der<br />

jeweiligen Strategie verbundenen Energieund<br />

Wasserverbrauch. Die Simulationen<br />

lassen sich auch für frühere Zeiten generieren,<br />

um damit beispielsweise Strategien<br />

aus der letzten Saison zu überprüfen.<br />

Im vergangenen Winter wurde die<br />

Software in zwei Skigebieten in Vorarlberg<br />

und Osttirol im Pilotbetrieb eingesetzt.<br />

In diesem Winter geht das Unternehmen<br />

nun auf den Markt und mit den<br />

ersten Kunden in die neue Saison. Viele<br />

Skigebiete sind aufgrund der hohen<br />

Energiekosten und dem Bestreben nach<br />

einem nachhaltigen Betrieb bereits stark<br />

für das Thema sensibilisiert. Die Unternehmensgründer<br />

schätzen das Einsparungspotenzial<br />

der Software konservativ<br />

auf zehn Prozent, in manchen Fällen könne<br />

es aber auch noch deutlich mehr sein.<br />

Jedenfalls leistet die Software einen Beitrag<br />

für einen nachhaltigen Skitourismus<br />

und sorgt für perfekte Pistenbedingungen<br />

bei gleichzeitig minimalem Mitteleinsatz.<br />

Die Universität Innsbruck hält<br />

über die Uni-Holding eine Beteiligung an<br />

dem Start-up. <br />

Mehr als 120 Wissenschaftler*innen erarbeiten in den kommenden drei Jahren einen<br />

neuen, umfassenden Klimabericht für Österreich. „Nur wenige Nationalstaaten erstellen<br />

einen eigenen Klimabericht. Österreich nimmt mit dieser nationalen Analyse eine internationale<br />

Vorreiterrolle ein. Das übergeordnete Ziel des Berichts ist, eine österreichspezifische<br />

Synthese der wissenschaftlichen Erkenntnisse mit nationalen und internationalen Daten zu<br />

erstellen. Es wird in diesem Kontext aber auch darum gehen, Wissenslücken zu definieren.<br />

Daraus erwarte ich mir über diesen Bericht hinaus einen generellen Booster für die Klimaforschung<br />

in Österreich, denn diese interdisziplinäre Zusammenarbeit ist bisher einzigartig“,<br />

sagt Projektleiterin Margreth Keiler vom Institut für Geographie der Universität Innsbruck. Die<br />

Autor*innen streben eine wissenschaftliche Erhebung und Bewertung der bisherigen, aktuellen<br />

und potenziellen künftigen Auswirkungen des Klimawandels in Österreich an.<br />

AQT, das Quanten-Spin-off der Universität<br />

Innsbruck, erhält eine europäische<br />

Innovationsförderung.<br />

QUANTENCOMPUTER<br />

IN DER CLOUD<br />

Der EIC Accelerator ist ein Förderinstrument<br />

des Europäischen Innovationsrates<br />

(EIC) im EU-Rahmenprogramm<br />

Horizon Europe und unterstützt einzelne<br />

Unternehmen bei der Entwicklung und<br />

Skalierung von hochrisikoreichen Innovationen.<br />

Das Innsbrucker Quanten-Spin-off<br />

Alpine Quantum Technologies GmbH<br />

(AQT) erhielt im Oktober diese Förderung<br />

zugesprochen. Das Besondere an den<br />

Finanzierungen im EIC Accelerator ist, dass<br />

sie neben einem Förderanteil zusätzlich<br />

auch einen Eigenkapital-Anteil umfassen<br />

können, eine sogenannte Blended-<br />

Finance- Finanzierung: Der Eigenkapitaleinstieg<br />

erfolgt dabei durch den EIC Fund, der<br />

eigens für diesen Zweck etabliert wurde<br />

und ähnlich wie ein Venture Capital Fonds<br />

funktioniert, aber genau dort unterstützen<br />

soll, wo die private Finanzierungsinitiative<br />

noch nicht ausreicht.<br />

Ziel ist es, dass die allerbesten technologiebasierten<br />

Ideen sehr rasch wachsen<br />

können – und zwar in Europa. Jedes<br />

einzelne Projekt erhält relativ hohe Förderbzw.<br />

Finanzierungsvolumina, damit die<br />

Unternehmen die Produktentwicklung<br />

abschließen und den internationalen<br />

Markteinstieg schaffen können. AQT will<br />

mit der Investition den ersten europäischen<br />

Cloud-Zugang für seine Quantencomputer<br />

realisieren. Mit seinen Systemen<br />

hat AQT bereits relevante Anwendungen<br />

im Bereich der Chemie, Finanzen (Portfolio-Optimierung,<br />

Risiko-Management) und<br />

Cybersecurity umgesetzt.<br />

Fotos: lumiosys (1), AQT (1)<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 39


WISSENSTRANSFER<br />

STATT VORLESUNG INS KINO<br />

Im Oktober 2<strong>02</strong>2 zeigte das 21. INFF – Innsbruck Nature Film Festival<br />

fantastische neue Filme zu den Themen Natur, Umwelt und Nachhaltigkeit.<br />

Die Studierenden wurden aktiv in das<br />

Gespräch eingebunden und so konnten<br />

Standpunkte aus verschiedensten Disziplinen<br />

ausgetauscht werden.<br />

RUND 3.000 Besucherinnen und Besucher sahen sich die 41 Filme aus 25 Ländern an.<br />

Über 40 Filme wurden heuer auf<br />

dem Innsbruck Nature Film Festival<br />

gezeigt. Die Jury prämierte<br />

Beiträge über eine Freundschaft zwischen<br />

Mensch und Wal, die Machenschaften der<br />

Holzmafia, die ungewisse Suche nach dem<br />

Schneeleoparden und noch einige mehr.<br />

Wieder einmal war die Universität Innsbruck<br />

über ihre Transferstelle aktiv am<br />

Festival beteiligt und organisierte unter<br />

anderem sieben Science Glimpses, bei denen<br />

Wissenschaftler*innen ihre Expertise<br />

mit dem Publikum teilen konnten. Weiterhin<br />

waren Angehörige der Universität in<br />

der Jury aktiv, waren – wieder zusammen<br />

mit dem Land Tirol – am „Boden Preis“<br />

beteiligt und stellten über das Vizerektorat<br />

für <strong>Forschung</strong> den neuen Preis „Agricultural<br />

Biodiversity“ zur Verfügung, der eigens<br />

zum 100-jährigen Bestehen der Gendatenbank<br />

Tirol ausgeschrieben wurde.<br />

Mit dabei war auch ein neues Format,<br />

dass die Studierenden der Uni ins Kino<br />

brachte: der „uibk-studentsday @ INFF“<br />

wurde von Günter Scheide, Mitarbeiter<br />

der Transferstelle und Koordinator der<br />

Zusammenarbeit zwischen Universität<br />

und Filmfestival, konzipiert und ins Leben<br />

gerufen. An einem Montagmorgen<br />

besuchten 100 Studierende der Universität<br />

Innsbruck das Metropolkino für eine<br />

eigens für sie organisierte Vorführung. Gezeigt<br />

wurde der Film „Paradiese aus Menschenhand<br />

– Die Rückkehr der Moore.“<br />

„Ich habe diesen Film ausgewählt, weil<br />

ich der Ansicht bin, dass dieser für viele<br />

Disziplinen Unterschiedliches enthält,<br />

aber insbesondere sehr positive Botschaften<br />

hat und zeigt, dass Moore ein tolles<br />

Habitat sind und Menschen viel Positives<br />

bewirken können“, sagt Günter Scheide.<br />

Nach dem Motto „Statt Vorlesung<br />

ins Kino!“ gab es im Anschluss an die<br />

Filmvorführung eine Diskussionsrunde,<br />

an der sich sechs Professor*innen aus<br />

unterschiedlichen Fachbereichen sowie<br />

ein Vertreter des Landes, verantwortlich<br />

für den Schutz der Moore, beteiligten.<br />

Neues Format<br />

„Bei Experimenten weiß man nie so<br />

richtig, wie sie ausgehen“, sagt Günter<br />

Scheide. „Neue Formate und Ideen auszuprobieren<br />

ist aber das, was die Zusammenarbeit<br />

zwischen Uni und Festival<br />

ausmacht und dafür sorgt, dass wir uns<br />

immer weiterentwickeln. Deswegen wird<br />

es den Students Day im nächsten Jahr<br />

wohl wieder geben und wir fangen jetzt<br />

schon an, uns Gedanken zu machen, wie<br />

wir ihn verbessern können.“<br />

Filmkuratorin Katja Trippel und der<br />

Leiter des Festivals, Johannes Kostenzer,<br />

besuchten die Veranstaltung, um den<br />

Students Day gemeinsam zu eröffnen.<br />

„Ich habe mich sehr gefreut, dass der<br />

neue uibk-studentsday @ INFF geklappt<br />

hat!“, sagt Katja Trippel. „Als Biologe und<br />

Geografin haben Johannes und ich ganz<br />

begeistert den vollen morgendlichen Kinosaal<br />

begrüßt und die Studierenden bestärkt,<br />

dass sie superinteressante und<br />

ebenso wichtige Fächer studieren. Ich<br />

finde es großartig, dass sie den Lernstoff<br />

dank der INFF-Filme auf so coole Art und<br />

Weise präsentiert bekommen. Und wer<br />

weiß, vielleicht weckt es ja bei der einen<br />

oder dem anderen die Lust, selbst in die<br />

Filmwelt einzusteigen…“<br />

FÜR DAS INFF 2<strong>02</strong>3 werden Volunteers<br />

und Mitglieder für die nächste<br />

Nominierungsjury gesucht. Interessierte<br />

können sich unter hello@inff.eu<br />

melden.<br />

40<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Fotos: Mario Kain


KURZMELDUNGEN<br />

HAUS DER PHYSIK<br />

Am Campus Technik der Universität Innsbruck entsteht<br />

ein großes und modernes Zentrum der Naturwissenschaften.<br />

Die sehr erfolgreichen und stetig<br />

wachsenden Physikinstitute der<br />

Universität Innsbruck sind über<br />

verschiedene Standorte verteilt und brauchen<br />

bereits jetzt mehr als den zur Verfügung<br />

stehenden Platz. Bald werden sie in<br />

einem eigenen Haus der Physik zusammenkommen.<br />

Es wird am Campus Technik<br />

der Universität Innsbruck errichtet,<br />

soll mit Wintersemester 2<strong>02</strong>8 in Betrieb<br />

gehen und wird den gestiegenen Ansprüchen<br />

an Universitätsinfrastruktur, insbesondere<br />

in den naturwissenschaftlichen<br />

Fächern, in hervorragender Weise gerecht.<br />

Das Haus der Physik ist für rund 850<br />

Studierende und 500 Mitarbeiter*innen<br />

der Uni Innsbruck konzipiert. Die Bundesimmobiliengesellschaft<br />

investiert<br />

180,8 Millionen Euro in den Universitätsneubau,<br />

an denen sich das Land Tirol mit<br />

drei Millionen Euro beteiligt. Die Investition<br />

wird über Mieten vom Wissenschaftsministerium<br />

refinanziert. Nach Abschluss<br />

des EU-weiten Wettbewerbs, bei dem 40<br />

Architekturbüros eingereicht hatten, präsentierten<br />

Mitte Oktober Wissenschaftsministerium,<br />

Bundesimmobiliengesellschaft,<br />

Universität Innsbruck, Land Tirol<br />

und Stadt Innsbruck das Siegerprojekt.<br />

Auf 25.000 m² sind ein lichtdurchfluteter<br />

Eingangsbereich, ein zweistöckiger<br />

Hörsaal für 300 Personen, Seminar- und<br />

Praktikumsräume, Büros und Laborflächen<br />

vorgesehen. Die Labore nehmen die<br />

größte Fläche im neuen Haus der Physik<br />

ein.<br />

ULTRAKALTE MINI-TORNADOS<br />

Wirbel sind in der Natur allgegenwärtig:<br />

Durch Rühren lassen sich Wasserstrudel<br />

erzeugen. Wird die Atmosphäre<br />

aufgewühlt, können gewaltige Tornados<br />

entstehen. So verhält es sich auch in der<br />

Quantenwelt, nur dass dort viele identische<br />

Wirbel gleichzeitig entstehen – der Wirbel<br />

ist quantisiert. In vielen Quantengasen<br />

konnten solche quantisierten Wirbel bereits<br />

nachgewiesen werden. „Das ist deshalb<br />

interessant, weil solche Wirbel ein klarer<br />

Hinweis für das reibungsfreie Strömen eines<br />

Quantengases – die sogenannte Suprafluidität<br />

– sind“, sagt Francesca Ferlaino<br />

vom Institut für Experimentalphysik der<br />

Universität Innsbruck.<br />

Ferlaino forscht mit ihrem Team an<br />

Quantengasen aus stark magnetischen Elementen.<br />

Für solche dipolaren Quantengase,<br />

in denen die Atome stark wechselwirken,<br />

konnten die Quanten-Wirbel bisher noch<br />

nicht nachgewiesen werden. Die Wissenschaftler*innen<br />

haben nun eine neue<br />

Methode entwickelt: „Wir nutzen die Richtungsabhängigkeit<br />

des Quantengases, dessen<br />

Atome sich wie viele kleine Magnete<br />

verhalten, um das Gas umzurühren“, erklärt<br />

Manfred Mark. Dazu legen die Forscher*innen<br />

ein Magnetfeld so an ihr Quantengas<br />

an, dass dieses zunächst runde, pfannkuchenartig<br />

geformte Gas aufgrund von<br />

Magnetostriktion elliptisch verformt wird.<br />

Indem sie das Magnetfeld drehen, können<br />

die Physiker*innen das Quantengas rotieren<br />

lassen. Bei ausreichend hoher Rotationsgeschwindigkeit<br />

bilden sich entlang des<br />

Magnetfelds auffällige Streifen mit Wirbeln.<br />

Diese sind ein besonderes Charakteristikum<br />

dipolarer Quantengase und wurden nun an<br />

der Universität Innsbruck zum ersten Mal<br />

beobachtet.<br />

NEUER FORSCHUNGSBEREICH: DATA SCIENCE<br />

Im Zuge der weltweit fortschreitenden Digitalisierung und Vernetzung fallen stetig wachsende<br />

Datenmengen an. Für die Verarbeitung und Nutzung dieser Daten werden wissenschaftlich<br />

ausgebildete Fachkräfte sowie neue Methoden und Ansätze benötigt, um wissenschaftlichen<br />

Erkenntnisgewinn und auch die Steigerung der Wertschöpfung zu ermöglichen.<br />

Die Universität Innsbruck hat nun eine Stiftungsprofessur für Data Science eingerichtet, die<br />

Know-how auch für die regionale Wirtschaft bereitstellt. Finanziert wird sie von Innio Jenbacher<br />

GmbH & Co OG, der Industriellenvereinigung Tirol, der TINETZ-Tiroler Netze GmbH, der<br />

Innsbrucker Kommunalbetriebe Aktiengesellschaft und der D. Swarovski KG. Besetzt wurde<br />

die Stelle mit Adam Jatowt, einem Experten im Bereich Natural Language Processing und<br />

Information Retrieval. Vor seinem Ruf nach Innsbruck war Jatowt an der Kyoto University und<br />

am National Institute of Advanced Industrial Science and Technology in Japan tätig.<br />

DICHTEVERTEILUNG eines rotierenden<br />

di polaren Bose-Einstein-Kondensats mit<br />

quantisierten Wirbeln.<br />

Fotos: Filippo Bolognese Images (1), Ella Maru Studio (1)<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 41


ETHNOLOGIE<br />

TIERWOHL ZWISCHEN<br />

STALL UND FORSCHUNG<br />

Nadja Neuner-Schatz über das Verhältnis von Landwirt*innen zu ihren Tieren, den Begriff Tierwohl,<br />

den öffentlichen Tierwohl-Diskurs und über „Forschen zwischen Nähe und Distanz“.<br />

ZUKUNFT: Sie erforschen den Begriff „Tierwohl“<br />

und das Mensch-Tier-Verhältnis in<br />

der Tiroler Landwirtschaft. Können Sie<br />

diese kurz beschreiben?<br />

NADJA NEUNER-SCHATZ: Die Landwirtschaft<br />

in Tirol ist recht klein strukturiert.<br />

Die größten Höfe haben vielleicht 80 bis<br />

100 Rinder, die meisten sind viel kleiner –<br />

Schweinemast gibt es praktisch nicht. Das<br />

geht gerade im Tiroler Oberland auf das<br />

ehemalige Erbsystem zurück, bei dem die<br />

Höfe aufgeteilt wurden. In diesen kleinen<br />

Strukturen ist die Konkurrenz riesengroß,<br />

auch um Flächen und Einfluss. Das merkt<br />

man unter anderem am Nischendasein<br />

der Bio-Landwirt*innen, deren Anliegen<br />

von der Standesvertretung oft nicht mitgetragen<br />

werden.<br />

ZUKUNFT: Und persönlich? Besteht da ein<br />

Bezug zum Thema?<br />

NEUNER-SCHATZ: In der Europäischen Ethnologie<br />

ist es nicht unüblich, eine persönliche<br />

Nähe zu seinem Thema zu haben.<br />

Das hat auch damit zu tun, dass wir Alltagskultur<br />

erforschen. Ich bin auf einem<br />

landwirtschaftlichen Betrieb im Tiroler<br />

Oberland aufgewachsen, habe während<br />

des Studiums Abstand zur Landwirtschaft<br />

gewonnen und lebe jetzt wieder auf einem<br />

kleinen Bauernhof. Dieses Forschen „zwischen<br />

Nähe und Distanz“ wird in meinem<br />

Fach immer wieder thematisiert, es kennzeichnet<br />

auch unsere qualitativen Metho-<br />

42 zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Fotos: Coulorbox.de (1), Andreas Friedle (2)


ETHNOLOGIE<br />

den. In meinem <strong>Forschung</strong>sfeld erachte<br />

ich die Nähe als hilfreich. Es geht ja immer<br />

auch darum, wie man als Forscherin<br />

vom Feld wahrgenommen wird. Im ländlichen<br />

Umfeld wird der Wissenschaft oft<br />

mit Skepsis begegnet, da ist es gut, nicht<br />

als allzu fremd zu gelten. Ich versuche,<br />

tragfähige <strong>Forschung</strong>sbeziehungen aufzubauen,<br />

was Vertrauen auf beiden Seiten<br />

voraussetzt. Vorwissen und Sprachkenntnisse<br />

mitzubringen ist da sicher von<br />

Vorteil. In der landwirtschaftlichen Praxis<br />

gibt es viele dialektale Ausdrücke für Tätigkeiten<br />

oder Dinge, für die ich gar keine<br />

anderen Wörter oder nur umständliche<br />

Umschreibungen kenne.<br />

ZUKUNFT: Wie genau sieht das <strong>Forschung</strong>sprojekt<br />

also aus?<br />

NEUNER-SCHATZ: Ein erster Schritt war es,<br />

die Tierwohl-Debatte nachzuverfolgen.<br />

Wer ist daran beteiligt, welche Positionen<br />

nehmen die maßgeblichen Akteur*innen<br />

ein? Ich wollte sehen, ob die Alltagswahrnehmung,<br />

dass plötzlich alle über Tierwohl<br />

reden, auch belegbar ist. Dafür habe<br />

ich über 400 Meldungen aus dem Online-<br />

Archiv der österreichischen Presseagentur<br />

APA gesichtet. Die Auswertung zeigt, dass<br />

der Tierwohl-Diskurs ab den 2010er-Jahren<br />

öffentlich wird. Ein spannender Befund:<br />

Die ersten, die über Tierwohl sprechen,<br />

kommen nicht aus der Tierschutzbewegung.<br />

Es ist vor allen anderen die Agrarpolitik,<br />

die Tierwohl in die öffentliche Debatte<br />

um die Nutztierhaltung einbringt.<br />

Was kommt also vom öffentlichen Diskurs<br />

über Tierwohl in der Landwirtschaft an?<br />

Um das herauszufinden, gehe ich klassisch<br />

ethnografisch vor, besuche Rinderbetriebe<br />

in Tirol und führe Gespräche mit den Bauern<br />

und Bäuerinnen.<br />

ZUKUNFT: Was bedeutet Tierwohl denn<br />

überhaupt?<br />

NEUNER-SCHATZ: Es gibt seit etwa 70<br />

Jahren agrarwissenschaftliche und veterinärmedizinische<br />

Definitionen von<br />

Tierwohl, im öffentlichen Diskurs und in<br />

der Politik spielen diese aber kaum eine<br />

Rolle. In diese Lücke springen die Label<br />

und Gütesiegel des Lebensmitteleinzelhandels,<br />

sie versuchen Standards oder<br />

Kriterien zu definieren und ökonomisch<br />

zu verwerten. Die Bauernvertreter*innen<br />

verstehen diese Standards – so das Narrativ<br />

des Diskurses – als überzogene oder<br />

zu wenig abgegoltene Forderungen, die<br />

an ihrer Praxis vorbeigehen. Auffällig ist,<br />

dass sich Konsument*innen oder deren<br />

NADJA NEUNER-SCHATZ studierte<br />

Europäische Ethnologie an der Universität<br />

Innsbruck, untersuchte unter anderem<br />

den Wissensbestand zu Trachten im Ötztal<br />

und erforscht nun im Rahmen ihrer<br />

Dissertation die Bedeutung des Begriffes<br />

„Tierwohl“ für das Mensch-Tier-Verhältnis<br />

in der kleinbäuerlichen Lebensmittelproduktion<br />

in Tirol, ein Projekt, bei dem<br />

Europäische Ethnologie, Human Animal<br />

Studies und Agrarsoziologe ineinandergreifen.<br />

Vertretung im öffentlichen Diskurs kaum<br />

zu Wort melden. Für den deutschen<br />

Sprachgebrauch ist Tierwohl ein neuer<br />

Begriff, der sich anfänglich beispielsweise<br />

in EU-Dokumenten findet, wo das englische<br />

Animal Welfare zuvor als Tierschutz<br />

übersetzt wurde, dann als Tierwohlfahrt,<br />

um schließlich auf Tierwohl verkürzt zu<br />

werden. Animal Welfare wiederum wurde<br />

Mitte der 1960er-Jahre als wissenschaftliches<br />

Konzept im sogenannten „Brambell<br />

Report“ erstmals definiert und vom britischen<br />

Landwirtschaftsministerium in die<br />

Debatte um die intensive Nutztierhaltung<br />

eingebracht. Das geschah als Reaktion auf<br />

die öffentliche Empörung, die Ruth Harrisons<br />

Buch „Animal Machines“ ausgelöst<br />

hatte. Was für die Landwirt*innen damals<br />

wohl ziemlich überraschend war, in<br />

ihrem Verständnis hatten sie den Hunger<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg besiegt. Die<br />

Haltungsbedingungen der Tiere waren ob<br />

der enormen Produktivitätssteigerung in<br />

den Nachkriegsjahren kaum diskutiert<br />

worden.<br />

ZUKUNFT: Wie bewerten Landwirt*innen<br />

in Tirol denn das Wohlergehen ihrer Tiere?<br />

NEUNER-SCHATZ: Die Frage stelle ich immer<br />

und die Antwort ist einstimmig:<br />

„Das sehe ich doch. Ich erkenne doch<br />

auf den ersten Blick, ob es meiner Edelweiß<br />

gut geht oder nicht.“ Das ist auf das<br />

Selbstverständnis der Landwirt*innen<br />

zurückzuführen: Das Wohlergehen der<br />

Tiere liegt für sie in der Qualität ihrer Beziehung,<br />

also darin, ein enges Verhältnis<br />

zu den Tieren zu haben und täglichen<br />

Umgang zu pflegen.<br />

ZUKUNFT: Überschneidet sich dieses<br />

Selbstverständnis mit der wissenschaftlichen<br />

Definition von Tierwohl?<br />

NEUNER-SCHATZ: Das Stichwort dazu liefert<br />

der Nutztier-Ethnologe Christoph<br />

Winckler: Er betrachtet Tierwohl als ein<br />

Zusammenspiel vieler Faktoren. Da spielt<br />

die Mensch-Tier-Beziehung zwar eine<br />

maßgebliche Rolle, aber es sind auch viele<br />

Umgebungsfaktoren wie Weide, Stall und<br />

Nahrung im Spiel. Dazu gibt es viel spannende<br />

<strong>Forschung</strong>, zum Beispiel wie Rinder<br />

auf menschliche Nähe reagieren, oder<br />

ob Kühe sich erschrecken, wenn man zu<br />

laut spricht. Und gleichzeitig ist das der<br />

emotionale Knackpunkt. Vorschriften,<br />

wie groß ein Standplatz sein muss, kann<br />

man festlegen, nachlesen und umsetzen.<br />

Aber eine Beziehung, die man pflegt, lässt<br />

sich nur schwer mit Zahlen bewerten.<br />

Wenn das Wohlergehen der Tiere infrage<br />

gestellt wird, wird aber eben auch diese<br />

Beziehung kritisiert, und dann fühlen<br />

sich viele Landwirt*innen persönlich angegriffen.<br />

ZUKUNFT: Wie wird es mit dem Projekt<br />

nun weitergehen?<br />

NEUNER-SCHATZ: Nach der Förderung<br />

durch den TWF wird mein Projekt mittlerweile<br />

auch durch ein DOC-Stipendium<br />

der ÖAW unterstützt und derzeit arbeite<br />

ich als Universitätsassistentin im Fach<br />

Europäische Ethnologie weiter daran. Es<br />

steht die zweite Feldforschungsphase an,<br />

es wird also noch eine Reihe von Interviews<br />

geben. Dann soll ein schönes Buch<br />

daraus werden.<br />

fo<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 43


PREISE & AUSZEICHNUNGEN<br />

LANDESPREIS FÜR<br />

WISSENSCHAFT<br />

Der Wissenschaftspreis des Landes Tirol ging in diesem Jahr an den<br />

Musikwissenschaftler Federico Celestini. Milijana Pavlović wurde mit dem<br />

Förderpreis ausgezeichnet.<br />

Der mit 14.000 Euro dotierte Tiroler<br />

Landespreis für Wissenschaft 2<strong>02</strong>2<br />

ging an Federico Celestini, Leiter des<br />

Instituts für Musikwissenschaft. „Mit seiner<br />

musikwissenschaftlichen Arbeit trägt Federico<br />

Celestini maßgeblich zur überregionalen<br />

Strahlkraft der <strong>Forschung</strong> am Institut für<br />

Musikwissenschaft bei und prägt den internationalen<br />

musikwissenschaftlichen Diskurs“,<br />

gratulierte Kulturlandesrätin Beate Palfrader<br />

dem Preisträger und zitierte weiters aus dem<br />

Jurypro tokoll: „Hervorzuheben ist insbesondere<br />

die Gründung der <strong>Forschung</strong>sstelle Gustav<br />

Mahler in Innsbruck und Toblach, mit der sich<br />

Innsbruck als Zentrum der internationalen<br />

Mahler-<strong>Forschung</strong> positioniert hat. Die hohe<br />

internationale Reputation des Ausgezeichneten<br />

spiegelt sich auch in zahlreichen Preisen<br />

und Funktionen wider.“ Die Vergabe des Preises<br />

an Celestini wird auch als wichtiges Signal<br />

zur Anerkennung der wissenschaftlichen<br />

Leistungen in einem so genannten „kleinen<br />

Fach“ sowie zur Stärkung der wissenschaftlichen<br />

Zusammenarbeit in der Euregio angesehen.<br />

Federico Celestini studierte Violine sowie<br />

Musikwissenschaft, Literaturwissenschaft und<br />

Ästhetik in Rom. Seit 2011 lehrt und forscht er<br />

als Universitätsprofessor am Institut für Musikwissenschaft<br />

der Universität Innsbruck.<br />

Der mit 4.000 Euro dotierte Förderpreis ging<br />

an Milijana Pavlović, die ebenfalls am Institut<br />

für Musikwissenschaft tätig ist. Sie setzt sich<br />

in ihrer <strong>Forschung</strong> mit dem Zusammenhang<br />

zwischen Musik und Gewalt, dem Holocaust<br />

und Antisemitismus auseinander. Weitere<br />

Schwerpunkte sind Geschlechterforschung<br />

sowie Musik und Literatur. Seit 2<strong>02</strong>1 ist sie<br />

stellvertretende Leiterin der <strong>Forschung</strong>sstelle<br />

Gustav Mahler.<br />

FEDERICO CELESTINI, Beate<br />

Palfrader und Milijana Pavlović<br />

(v. l.) bei der Übergabe der<br />

Auszeichnungen im Innsbrucker<br />

Landhaus. Der Landespreis<br />

für Wissenschaft wird seit<br />

1984 jährlich zur Anerkennung<br />

von hervorragenden Leistungen<br />

auf dem Gebiet der<br />

Wissenschaft von der Tiroler<br />

Landesregierung auf Vorschlag<br />

einer Jury verliehen.<br />

Foto: Land Tirol / Krepper<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 45


PREISE & AUSZEICHNUNGEN<br />

BIRTH-AWARD<br />

Christian Huck vom<br />

Institut für Analytische<br />

Chemie und Radiochemie<br />

wurde von der<br />

US-amerikanischen<br />

wissenschaftlichen<br />

Gesellschaft für<br />

Nah-Infrarot-Spektroskopie<br />

CNIRS mit dem Gerald-Birth-Award<br />

ausgezeichnet. Huck arbeitet seit Jahren an<br />

der Optimierung und der Kalibrierung analytischer<br />

Messverfahren wie der Nah-Infrarot-<br />

Spektroskopie und der Raman-Spektroskopie.<br />

Zum Einsatz kommt diese Expertise in<br />

Projekten zur Qualitätssicherung im Lebensmittelbereich,<br />

im Bereich pharmazeutischer<br />

Pflanzenwirkstoffe, in der Landwirtschaft<br />

und in der Biomedizin.<br />

HERVORRAGENDE LEHRE<br />

Ende September wurde<br />

vom Bundesministerium<br />

für Bildung,<br />

Wissenschaft und<br />

<strong>Forschung</strong> in Wien der<br />

„Ars Docendi“ – der<br />

österreichische Staatspreis<br />

für exzellente<br />

Lehre – vergeben. Marina Hilber, Assistenzprofessorin<br />

am Institut für Geschichtswissenschaften<br />

und Europäische Ethnologie, erhielt<br />

für ihre Lehrveranstaltung „<strong>Forschung</strong>slabor:<br />

Ausstellungsprojekt – Medizingeschichte im<br />

Montafon“ einen Anerkennungspreis. Im<br />

Rahmen der Lehrveranstaltung nahmen die<br />

Studierenden nicht nur die Rolle der Ausstellungsmacher*innen<br />

ein und erarbeiteten relevante<br />

medizin-historische Inhalte, sondern<br />

konnten auch gestalterisch bei der museologischen<br />

Konzeption aktiv werden.<br />

PROMOTIONSPREIS<br />

Im September hat die<br />

Deutsche Bunsen-Gesellschaft<br />

Christina<br />

Maria Tonauer vom<br />

Institut für Physikalische<br />

Chemie in<br />

Anerkennung ihrer<br />

exzellenten Grundlagenarbeit<br />

zur „Spektroskopie von Eis“ als effizientem<br />

Druck- und Temperaturmarker für<br />

Exoplaneten-Benchmarking-Experimente mit<br />

dem Agnes-Pockels-Promotionspreis 2<strong>02</strong>2<br />

ausgezeichnet. Die Preisverleihung fand im<br />

Rahmen der Bunsen-Tagung an der Justus-<br />

Liebig-Universität in Gießen statt.<br />

MARTIN RINGBAUER will mit Qudits das volle Potenzial gespeicherter Ionen ausnutzen.<br />

STARTING GRANT<br />

Martin Ringbauer erhielt für seine experimentelle <strong>Forschung</strong> zu<br />

neuartigen Quantencomputern einen ERC Starting Grant.<br />

Solange wir zurückdenken können,<br />

arbeiteten Computer mit null<br />

und eins. Diese binäre Art der Informationsverarbeitung<br />

war so erfolgreich,<br />

dass Computer aus dem täglichen<br />

Leben nicht mehr wegzudenken sind<br />

und nun auch eine neue Generation von<br />

Computern, basierend auf der Quantenmechanik,<br />

nach diesem binären Vorbild<br />

entwickelt wird. „Die Bausteine heutiger<br />

Quantencomputer können allerdings<br />

deutlich mehr als nur Null und Eins,“<br />

erklärt Martin Ringbauer. Die Innsbrucker<br />

Quantencomputer arbeiten etwa<br />

mit einzelnen gefangenen Ionen, die<br />

jeweils acht mögliche Zustände haben:<br />

„Zwingt man dem Quantencomputer<br />

die gewohnte binäre Rechenweise auf,<br />

so verschenkt man wertvolle Rechenleistung.“<br />

Für diese experimentelle <strong>Forschung</strong><br />

zu neuartigen Quantencomputern erhielt<br />

Ringbauer im Sommer einen Starting<br />

Grant des Europäischen <strong>Forschung</strong>srats<br />

(ERC). Die mit rund 1,5 Millionen<br />

Euro dotierte Förderung ist die höchste<br />

Auszeichnung für erfolgreiche Nachwuchswissenschaftler*innen<br />

in Europa.<br />

In seinem ERC-Projekt will Ringbauer<br />

einen Quantencomputer auf Basis sogenannter<br />

Quantum Digits, kurz Qudits,<br />

konstruieren, um das volle Potenzial der<br />

gespeicherten Ionen ausnutzen zu können.<br />

„Mit Qudits zu rechnen, ist nicht<br />

nur natürlicher für die Hardware, sondern<br />

auch ideal für viele der Anwendungen,<br />

für die wir Quantencomputer entwickeln,“<br />

sagt der Physiker. Mit dem<br />

neuen Quantencomputer möchte Ringbauer<br />

beispielsweise fundamentale Effekte<br />

in der Teilchenphysik untersuchen,<br />

um ein besseres Verständnis für unser<br />

Universum zu entwickeln. <br />

MARTIN RINGBAUER (*1990 in Wien)<br />

studierte an der Universität Wien Physik<br />

und Mathematik. 2016 promovierte er<br />

in der experimentellen Quantenphysik<br />

in der Arbeitsgruppe von Andrew<br />

White an der University of Queensland in<br />

Australien. Nach einem PostDoc an der<br />

Heriot-Watt University in Schottland kam<br />

er 2018 als Erwin-Schrödinger-Fellow in<br />

die Arbeitsgruppe von Rainer Blatt an der<br />

Universität Innsbruck.<br />

46 zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Fotos: Uni Inns bruck (1), Theresa Nairz (1), BMBWF / Martin Lusser (1), Blickfang (1)


PREISE & AUSZEICHNUNGEN<br />

EHRENKREUZ<br />

FÜR EVA LAVRIC<br />

Die Romanistin Eva Lavric wurde mit dem österreichischen<br />

Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse ausgezeichnet.<br />

ENDE OKTOBER überreichte Rektor Tilmann Märk die Auszeichnung an Eva Lavric.<br />

Eva Lavric ist eine Wissenschaftlerin<br />

und Universitätslehrerin von<br />

großem internationalen Renommee<br />

und mit einer großen thematischen<br />

Bandbreite“, betonte Rektor Tilmann<br />

Märk bei der Verleihung der Auszeichnung:<br />

„Zusammenfassend lässt sich feststellen,<br />

dass Eva Lavrics <strong>Forschung</strong>sleistung,<br />

<strong>Forschung</strong>sbreite und <strong>Forschung</strong>stiefe<br />

beeindruckend ist und dass sie Außergewöhnliches<br />

für die Verbindung von<br />

Theorie und Praxis geleistet hat.“ In Vertretung<br />

des Bundespräsidenten konnte<br />

Märk ihr die höchste Auszeichnung für<br />

EVA LAVRIC (*1956 in Wien) studierte<br />

an der Universität Wien Lehramt für Germanistik<br />

und Romanistik, danach unterrichtete<br />

sie vier Jahre an verschiedenen<br />

Schulen. 1983 begann ihre Universitätslaufbahn<br />

als Assistentin am Institut für<br />

Romanische Sprachen der Wirtschaftsuniversität<br />

Wien, wo sie sich 1998 habilitierte.<br />

Ab 2003 war sie als Professorin für<br />

Romanische Sprachwissenschaft an der<br />

Universität Innsbruck tätig.<br />

Wissenschaftler*innen in Österreich verleihen,<br />

das österreichische Ehrenkreuz<br />

für Wissenschaft und Kunst I. Klasse.<br />

Der Leiter des Instituts für Romanistik,<br />

Paul Danler, bedankte sich bei Lavric<br />

für ihren unermüdlichen Einsatz für das<br />

Institut, ihre innovativen Ideen nicht nur<br />

in <strong>Forschung</strong> und Lehre, sondern auch<br />

im Bereich der Institutsleitung, die sie<br />

mehrere Jahre innehatte und für die Öffentlichkeitsarbeit,<br />

die Lavric mit ausgesprochenem<br />

Elan und Schwung über<br />

viele Jahre prägte. Der Studiendekan der<br />

Philologisch-kulturwissenschaftlichen<br />

Fakultät, Gerhard Pisek, würdigte Lavrics<br />

außerordentliches Engagement und<br />

betonte die schier unerschöpfliche Energie,<br />

mit der sie innovative Lehrveranstaltungen<br />

leitete und an Projekten mitwirkte.<br />

Pisek unterstrich insbesondere die<br />

Vielfalt an ansprechenden Themen, von<br />

der Linguistik des Fußballs über Unternehmenskommunikation<br />

und Linguistic<br />

Landscaping bis hin zur sprachlichen<br />

Gestaltung von Weinverkostungen, mit<br />

denen Lavric Studierende immer wieder<br />

motivieren und begeistern konnte.<br />

STIPENDIUM<br />

Mit einem<br />

L’ORÉAL-UNESCO<br />

Österreich Stipendium<br />

FOR WOMEN<br />

IN SCIENCE wurde<br />

Ende November Larissa<br />

Traxler vom Institut<br />

für Molekularbiologie<br />

ausgezeichnet. Sie forscht seit einem<br />

Jahr als Postdoc in der Arbeitsgruppe von<br />

Jerome Mertens und untersucht, wie der<br />

zelluläre Zuckerstoffwechsel neurodegenerative<br />

Krankheiten fördert.<br />

Vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft<br />

und <strong>Forschung</strong> erhielt Larissa<br />

Traxler in diesem Jahr außerdem einen<br />

Award of Excellence, den Staatspreis für<br />

die besten Dissertationen in Österreich.<br />

MEILENSTEIN<br />

Wie kann Quanteninformation<br />

über lange<br />

Strecken transportiert<br />

werden? Matthias<br />

Bock aus der <strong>Forschung</strong>sgruppe<br />

um<br />

Rainer Blatt hat in<br />

seiner Doktorarbeit<br />

an der Universität des Saarlandes nicht<br />

weniger als einen Meilenstein in der Quantenforschung<br />

gesetzt: Er ermöglichte es,<br />

die Quanteneigenschaften eines Atoms und<br />

eines Photons über 20 Kilometer herkömmliche<br />

Glasfaser hinweg zu verschränken: ein<br />

neuer Rekord – bislang war dies weltweit<br />

nur über 900 Meter gelungen. Dafür wurde<br />

er mit dem Eduard-Martin-Preis ausgezeichnet.<br />

EISKALTE EXPERIMENTE<br />

Bei der Arbeit mit Helium-Nanotröpfchen<br />

sind Wissenschaftler*innen<br />

des Instituts<br />

für Ionenphysik und<br />

Angewandte Physik<br />

auf ein überraschendes<br />

Phänomen gestoßen:<br />

Treffen die ultrakalten Tröpfchen<br />

auf eine harte Oberfläche, verhalten sie<br />

sich wie Wassertropfen. Ionen, mit denen<br />

sie zuvor dotiert wurden, bleiben so beim<br />

Aufprall geschützt und werden nicht neutralisiert.<br />

Der Erstautor dieser Arbeit, Paul<br />

Martini, wurde dafür von der Österreichischen<br />

Physikalischen Gesellschaft mit dem<br />

Fritz-Kohlrausch-Preis ausgezeichnet.<br />

Fotos: Uni Inns bruck (1), IQOQI (1), Privat (2)<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 47


ZWISCHENSTOPP INNS BRUCK<br />

FELSENFESTE<br />

ÜBERZEUGUNGEN<br />

Der amerikanische Philosoph Scott Hill untersucht am Institut für<br />

Christliche Philosophie verschiedene Formen von Meinungsresilienz.<br />

Und lebt hier in Innsbruck seinen Traum.<br />

Scott Hill ist im Juli mit seiner Familie<br />

nach Innsbruck gekommen,<br />

um für zwei Jahre im Rahmen des<br />

Euregio-Projekts Resilient Beliefs: Religion<br />

and Beyond als Postdoktorand zu<br />

forschen. Sowohl am Institut für Christliche<br />

Philosophie als auch in seiner dörflichen<br />

Wohnumgebung in der Nähe von<br />

Innsbruck fühlt er sich schon sehr wohl.<br />

„Das ist wahrscheinlich die beste Zeit<br />

meines Lebens“, meint er dankbar. „Ich<br />

werde wohl nie wieder einen Job haben,<br />

der mir so viel Zeit für die <strong>Forschung</strong><br />

lässt, wie ich aktuell habe.“<br />

Die Gelegenheit, all seine Kräfte in die<br />

<strong>Forschung</strong> und ins Schreiben investieren<br />

zu können, war einer der Gründe, warum<br />

sich Scott Hill dafür entschieden hat,<br />

seine Lehraufträge in den USA, unter<br />

anderem an der University of Massachusetts<br />

Amherst und der Auburn University,<br />

auszusetzen und an die Universität<br />

Innsbruck zu kommen. Aber auch die<br />

spannenden und inspirierenden Gespräche<br />

mit Katherine Dormandy und<br />

Winfried Löffler, die das Euregio-Projekt<br />

leiten, sowie die guten Erfahrungen<br />

von anderen Postdocs aus seinem Umfeld<br />

mit dem Innsbrucker Institut für<br />

Christliche Philosophie haben ihn dazu<br />

bewogen, seine Zelte in den Vereinigten<br />

Staaten abzubrechen. Außerdem glaubt<br />

Scott Hill zutiefst an das Projekt, in das<br />

er mehrere seiner <strong>Forschung</strong>sinteressen<br />

einfließen lassen kann.<br />

Aliens & Verschwörungstheorien<br />

Es sind vor allem verschiedene erkenntnistheoretische<br />

und ethische Fragestellungen,<br />

die Hill in Verbindung mit<br />

resilienten Meinungen beschäftigen. –<br />

Resiliente Meinungen sind Meinungen<br />

oder Überzeugungen, die Menschen auf<br />

keinen Fall aufgeben, sondern im Gegenteil<br />

vehement gegen Einwände und<br />

Gegengründe verteidigen. – Ein Thema,<br />

an dem Scott Hill in diesem Zusammenhang<br />

arbeitet, sind Verschwörungstheorien:<br />

Wie man sozialwissenschaftliche<br />

Erkenntnisse dazu vermittelt und wie<br />

die Wissenschaft mit Verschwörungstheorien,<br />

mit Verschwörungstheoretikern<br />

und ihren Anhängern umgeht und<br />

umgehen soll. „Ein anderes Thema, das<br />

mich interessiert, sind Aliens“, erzählt<br />

der Philosoph. „Wissenschaftler lehnen<br />

es ab, Dinge mit Außerirdischem zu erklären.<br />

Natürlich haben sie damit recht.<br />

Was ich aber wissen möchte, ist zum<br />

Beispiel, was passieren müsste, um diese<br />

Überzeugung rational zu überwinden“,<br />

erläutert er. Scott Hill stellt aber auch<br />

die moralische Verantwortung des Menschen<br />

gedanklich auf die Probe. „Einige<br />

Philosophen sind der Meinung, die Vorstellung,<br />

dass wir moralisch verantwortlich<br />

sind, sei so tief in uns verwurzelt,<br />

dass wir nicht in der Lage sind, diese<br />

aufzugeben“, erklärt er einen weiteren<br />

Ausgangspunkt seiner philosophischen<br />

Überlegungen. „Ich will wissen, ob das<br />

stimmt und welche Folgen sich daraus<br />

ergeben.“ Aber auch Fragen wie „Kann<br />

ich als Individuum durch mein Verhalten,<br />

zum Beispiel durch vegane Ernährung,<br />

einen Unterschied machen?<br />

Ist man schuldig, wenn man durch<br />

sein Kaufverhalten Massentierhaltung<br />

unterstützt? Kann man Schuldgefühlen<br />

trauen?“ zählen zu den <strong>Forschung</strong>sinteressen<br />

von Scott Hill. Nicht zuletzt<br />

denkt er über die Frage nach, wie viel<br />

freier Wille bleibt, wenn man an Gottes<br />

schöpferisches Wirken glaubt. „Alle<br />

diese Fragen fallen in den Themenkreis<br />

resilienter Überzeugungen, und ich bin<br />

sehr dankbar, daran arbeiten zu können“,<br />

betont er.<br />

„Die Zeit hier Innsbruck ist<br />

wahrscheinlich die beste meines<br />

Lebens. Ich werde wohl nie<br />

wieder einen Job haben, der mir<br />

so viel Zeit für die <strong>Forschung</strong><br />

lässt, wie ich aktuell habe.“<br />

Philosophische Gespräche führt Scott<br />

Hill im Übrigen nicht nur gerne in universitären<br />

Räumen, sondern auch beim<br />

Wandern. „Manchmal organisieren Kolleginnen<br />

und Kollegen Almwanderungen.<br />

Es gibt nichts Besseres, als zu wandern<br />

und dabei zu philosophieren und<br />

dann gutes Essen und ein Bier oben auf<br />

der Alm zu genießen“, schwärmt er und<br />

kann schon jetzt auf viele schöne Erinnerungen<br />

zurückblicken.<br />

ef<br />

48 zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Foto: Andreas Friedle


SPRUNGBRETT INNS BRUCK<br />

GEBURTSHILFE IN ST. GALLEN<br />

Barbara Weber hat sich 2009 als erste Informatikerin an der Uni Innsbruck habilitiert.<br />

Heute ist sie Professorin an einer der führenden Wirtschaftsuniversitäten in Europa.<br />

Im Jahr 2019 hatte eine deutliche<br />

Mehrheit des St. Galler Stimmvolks<br />

eine IT-Bildungsoffensive des schweizerischen<br />

Kantons gutgeheißen. Daraufhin<br />

wurde an der Universität St. Gallen<br />

(HSG) ein Informatik-Fachbereich etabliert,<br />

an dessen Aufbau die Tirolerin Barbara<br />

Weber maßgeblich beteiligt ist. Sie<br />

kam 2019 als Lehrstuhlinhaberin für den<br />

Fachbereich Software Engineering aus<br />

Dänemark in die Schweiz und ist Gründungsdekanin<br />

der neu etablierten School<br />

of Computer Science an der Universität<br />

St. Gallen. Seit dem Vorjahr wird hier ein<br />

Master in Computer Science angeboten<br />

und in diesem Jahr wurden auch die ersten<br />

Bachelorstudierenden begrüßt.<br />

Barbara Weber profitiert in ihrer neuen<br />

Funktion von Erfahrungen, die sie<br />

als junge Wissenschaftlerin bei der Etablierung<br />

des Informatik-Schwerpunkts<br />

an der Universität Innsbruck sammeln<br />

konnte. Nach ihrem BWL-Studium befasste<br />

sie sich in ihrer Doktorarbeit<br />

schwer punktmäßig mit einem Thema aus<br />

der Wirtschaftsinformatik und wechselte<br />

2004 an das hier kurz zuvor gegründete<br />

Institut für Informatik. „Ich konnte miterleben,<br />

wie die Informatik innerhalb von<br />

zehn Jahren rapide gewachsen ist und im<br />

Jahr 2011 aus zwei Instituten mit 130 Angestellten<br />

bestand, zahlreiche interdisziplinäre<br />

Kooperationen mit anderen Fachbereichen<br />

der Universität vorweisen und<br />

beeindruckende Summen an Drittmitteln<br />

lukrieren konnte“, erzählt Weber. „Diese<br />

Erfahrungen sind in meiner derzeitigen<br />

Rolle aus vielerlei Hinsicht wertvoll. An<br />

der School of Computer Science haben<br />

wir 2<strong>02</strong>2 mittlerweile 13 Professorinnen<br />

und Professoren und an die 80 Mitarbeitende.“<br />

Software für Anwender<br />

Mit Tirol verbindet sie noch ihre Familie,<br />

aber auch beruflich gibt es nach wie<br />

vor Kontakte: „Ich habe weiterhin aktive<br />

<strong>Forschung</strong>szusammenarbeiten mit der<br />

Wirtschaftsinformatik, mit einzelnen<br />

Kolleginnen und Kollegen und ehemaligen<br />

Mitarbeitenden stehe ich in Kontakt<br />

und versuche generell die Entwicklungen<br />

aus der Ferne mitzuverfolgen“, sagt<br />

Weber. Wissenschaftlich beschäftigt sich<br />

die Informatikerin mit flexiblen prozessorientierten<br />

Informationssystemen und<br />

der Verständlichkeit für den Endverbraucher.<br />

Zurzeit arbeitet sie an neuroadaptiven<br />

Softwaresystemen, die den<br />

emotionalen und kognitiven Zustand<br />

von Nutzer*innen berücksichtigen. Anhand<br />

der gesammelten Daten richten sich<br />

die Systeme selbstständig neu aus und<br />

integrieren dabei auch das „Internet der<br />

Dinge“. Weber untersucht, wie Applikationen<br />

nutzergerechter gestaltet werden<br />

können, um den Endverbraucher in personalisierter<br />

Form in seinen Bedürfnissen<br />

zu unterstützen. Die Unterstützung von<br />

Benutzern steht auch im Zentrum eines<br />

vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten<br />

Projekts. Darin möchte Weber<br />

ein umfassendes Verständnis dafür erlangen,<br />

wie Analysten Process-Mining in der<br />

Praxis durchführen, d. h. den „Prozess<br />

des Process-Mining“, um methodische<br />

Anleitungen und operative Unterstützung<br />

zu entwickeln, die Neulingen bei<br />

der Analyse wirksam helfen.<br />

BARBARA WEBER (*1977) studierte an<br />

der Universität Innsbruck Betriebswirtschaftslehre<br />

und promovierte 2003 im<br />

Fachbereich Wirtschaftsinformatik. Von<br />

2004 bis 2016 arbeitete sie am Institut<br />

für Informatik der Uni Innsbruck und<br />

leitete hier im Arbeitsbereich Quality<br />

Engineering einen eigenen <strong>Forschung</strong>sbereich<br />

zur flexiblen IT-Unterstützung von<br />

Geschäftsprozessen und Arbeitsabläufen.<br />

2009 habilitierte sie sich als erste Frau<br />

an der Universität Innsbruck für das Fach<br />

Informatik.<br />

In den nächsten Jahren möchte Weber<br />

den Aufbau der Informatik an ihrer Universität<br />

weiter vorantreiben. „Das beinhaltet,<br />

St. Gallen als Informatik-Standort in<br />

Lehre und <strong>Forschung</strong> zu etablieren, internationale<br />

Sichtbarkeit unserer <strong>Forschung</strong><br />

zu erreichen, gleichzeitig aber auch eine<br />

positive Wirkung für die Region zu erzielen,<br />

sodass die Informatik an der Universität<br />

St. Gallen als Erfolgsgeschichte wahrgenommen<br />

wird“, blickt Weber in die <strong>Zukunft</strong>.<br />

Nach ihrer Zeit als Dekanin – sie hat<br />

gerade ihre zweite Amtsperiode begonnen<br />

– plant Weber ab Mitte 2<strong>02</strong>4 ein Sabbatical<br />

und freut sich schon jetzt auf mehr Zeit für<br />

spannende <strong>Forschung</strong>.<br />

cf<br />

Foto: Universität St. Gallen (HSG)<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 49


ESSAY<br />

REGULIEREN JENSEITS<br />

DER GRENZE<br />

Der Jurist Andreas Th. Müller über das Völkerrecht als Recht zu<br />

Koordinierung von näher oder ferner gelegenen Nachbarn.<br />

„Das ‚moderne‘<br />

Völkerrecht, gerne<br />

mit dem 1648<br />

geschaffenen<br />

Westfälischen System<br />

in Verbindung<br />

gebracht, geht von der<br />

souveränen Gleichheit<br />

der Staaten aus,<br />

gesteuert vom Leitbild<br />

der ‚Arena‘, nicht des<br />

‚Turmes‘.“<br />

ANDREAS TH. MÜLLER<br />

(*1977) studierte Philosophie<br />

und Rechtswissenschaften<br />

an der Universität Innsbruck.<br />

Beide Studien schloss er 2003<br />

mit dem Magister ab, zudem<br />

2009 den Master of Laws an<br />

der Yale Law School. Der Promotion<br />

2010 an der Universität<br />

Innsbruck folgte 2016 die<br />

Habilitation. Müller lehrt und<br />

forscht seit 2005 in Innsbruck,<br />

seit 2018 ist er Universitätsprofessor<br />

am Institut für Europarecht<br />

und Völkerrecht.<br />

Für das Völkerrecht spielen Staatsgrenzen<br />

eine entscheidende Rolle. Denn<br />

während die Grenzen eines Staates den<br />

äußeren Rahmen für seine nationale Rechtsordnung<br />

bilden, ist das Völkerrecht jenes<br />

Recht, das jenseits dieser Grenzen reguliert:<br />

im Verhältnis inter nationes, zwischen den<br />

Staaten, international.<br />

In der Bedeutung der Grenzen manifestiert<br />

sich die Territorialität des heutigen Völkerrechts.<br />

In seinem Zentrum stehen Staaten als<br />

Territorialsubjekte, d. h. als Rechtssubjekte,<br />

die dadurch charakterisiert sind, dass sie sich<br />

über einen Teil der Erdoberfläche erstrecken.<br />

Das war nicht immer so, verstand sich das<br />

Völkerrecht doch lange mehr als Recht inter<br />

reges, also zwischen Monarchen.<br />

Das „moderne“ Völkerrecht, gerne mit<br />

dem 1648 geschaffenen Westfälischen System<br />

in Verbindung gebracht, geht von der souveränen<br />

Gleichheit der Staaten aus, gesteuert<br />

vom Leitbild der „Arena“, nicht des „Turmes“<br />

(Douglas M. Johnston). Es versteht sich von<br />

daher im Kern als Recht zu Koordinierung<br />

von näher oder ferner gelegenen Nachbarn.<br />

Vor allem nach 1945 sind dem Völkerrecht<br />

neben diesen horizontalen auch vermehrt<br />

vertikale Funktionen zugewachsen, etwa die<br />

Ansiedlung des Monopols legaler Gewaltausübung<br />

beim UN-Sicherheitsrat. Wie gerade<br />

der Überfall Russlands auf die Ukraine<br />

schmerzlich bewusst macht, steht das Völkerrecht<br />

gegenwärtig in beiderlei Hinsicht auf<br />

dem Prüfstand. Dies enthebt es freilich nicht<br />

seiner Hauptaufgabe: des permanenten Ringens<br />

um Zähmung und Kontrolle politischer<br />

und militärischer Macht durch von der Staatengemeinschaft<br />

gemeinsam angenommene<br />

Regeln.<br />

Aber auch jenseits der Kardinalfrage von<br />

Krieg und Frieden ist das Völkerrecht als<br />

Recht „jenseits der Grenze“ gefordert. Nur<br />

einige wenige Herausforderungen seien genannt:<br />

Während ein Staat über das, was innerhalb<br />

seiner Grenzen geschieht, abgesehen etwa<br />

von universalen Menschenrechtsstandards,<br />

frei disponieren kann, gilt es zu regeln, wie die<br />

„Governance“ von Räumen jenseits der Summe<br />

der Staatsgebiete erfolgen soll: Welches<br />

Regime gilt für die Weltmeere, namentlich für<br />

den für die wirtschaftliche Ausbeutung immer<br />

attraktiver werdenden Tiefseeboden? Wer entscheidet<br />

über die Polarregio nen, die durch die<br />

Eisschmelze immer mehr Begehrlichkeiten<br />

auf sich ziehen? Und als völkerrechtliche Frage<br />

par excellence: Welche Rechtsregeln gelten<br />

jenseits der planetaren Grenze, also im Weltraum?<br />

Schon seit Jahrzehnten ist ein space law<br />

im Aufbau begriffen, das sich gegenwärtig vor<br />

allem mit Fragen von Weltraummüll und der<br />

Regulierung der immer wichtiger werdenden<br />

privaten Weltraumnutzer beschäftigt. Dass<br />

sich funktional verwandte Fragen in einem anderen<br />

„entgrenzten“ Raum stellen, wird nicht<br />

überraschen. Denn auch der „Cyberraum“<br />

generiert fundamentale Herausforderungen.<br />

Als Kehrseite von Globalisierung, komplexen<br />

Lieferketten, erhöhter Mobilität und intensiviertem<br />

Austausch auf allen Ebenen<br />

stellt sich auch immer mehr die Frage, wie<br />

sehr die „westfälische“ Grundprämisse des<br />

Völkerrechts, dass es nämlich eine Vielzahl<br />

grundsätzlich selbstständiger und räumlich<br />

einigermaßen klar abgegrenzter Staaten gibt,<br />

noch trägt. In verschiedensten Zusammenhängen<br />

wird nach der völkerrechtlichen Relevanz<br />

von „extraterritorialen“ Phänomenen<br />

gefragt: angefangen von militärischen Auslandseinsätzen,<br />

traditioneller, aber auch Cyber-Spionage<br />

über Wirtschaftssanktionen,<br />

Plattformregulierung im Ausland, Migrationsströme<br />

bis hin zu Treibhausgasemissionen.<br />

Keine Herausforderung markiert die<br />

Grenze des Denkens und Handelns in Grenzen<br />

so deutlich wie jene des Klimawandels.<br />

Denn hier sind alle zugleich Täter und Opfer,<br />

freilich in ganz unterschiedlichem Maße und<br />

mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten, zu<br />

Klimaschutz und Klimaanpassung beizutragen.<br />

Hier, soweit sind sich die meisten einig,<br />

wird man nur durch intensivierte globale Zusammenarbeit<br />

vorwärts kommen. Hier ist das<br />

Völkerrecht, mit all seinen Grenzen, einmal<br />

mehr unverzichtbar. <br />

50 zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Foto: privat


52 zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Foto: Andreas Friedle

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