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Büchereiperspektiven 2/22: Lesen fördern. Vermittlung für alle Zielgruppen

Lesekompetenz ist die Basis für Bildung, kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe. In dieser Ausgabe finden Sie Vermittlungsangebote für alle Zielgruppen. Die Bedeutung des Vorlesens, der Wert von Mehrsprachigkeit, Möglichkeiten des barrierefreien Lesens, Wege der digitalen Leseförderung und das Zusammenspiel von Lesen, Schreiben und Reden werden thematisiert.

Lesekompetenz ist die Basis für Bildung, kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe. In dieser Ausgabe finden Sie Vermittlungsangebote für alle Zielgruppen. Die Bedeutung des Vorlesens, der Wert von Mehrsprachigkeit, Möglichkeiten des barrierefreien Lesens, Wege der digitalen Leseförderung und das Zusammenspiel von Lesen, Schreiben und Reden werden thematisiert.

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LESEN FÖRDERN I LESEN, REDEN, SCHREIBEN<br />

FOTO: SILATIP/SHUTTERSTOCK.COM<br />

Zielgruppe es geeignet ist. Wir sprechen nicht in dem Sinn<br />

über Literatur, als dass wir analysieren und beschreiben,<br />

wie jemand aus den sprachlichen Mitteln, die uns <strong>alle</strong>n zur<br />

Verfügung stehen, etwas Neues macht, in einer eigenen,<br />

unverwechselbaren Sprachmelodie.<br />

Man kann jede beliebige Stelle aus einem literarischen<br />

Text nehmen, die einen berührt, und versuchen, in Worte zu<br />

fassen, warum sie einem gefällt und zwar jenseits der Thematik,<br />

des Inhalts, sondern vornehmlich die sprachlichen Mittel.<br />

Aus welcher Perspektive wird erzählt? Wie wird mit Zeit<br />

umgegangen? Wie werden Sinneswahrnehmungen geschildert?<br />

Wie ist der Wortschatz? Ist die Sprache knapp oder<br />

ausschweifend, nüchtern, bewertend, banal, brutal, bildlich?<br />

Wie wird Atmosphäre geschaffen? Gibt es viele Details oder<br />

wird kursorisch erzählt? Wird die Perspektive der Figur transzendiert?<br />

Gibt es Leerstellen, Lücken im Text – und was<br />

macht das mit mir als Leserin und als Leser? Wo ergeben<br />

sich Zusammenhänge? Wo fehlen Informationen? Wird die<br />

Deutung vorweggenommen, etwas vom weiteren Verlauf der<br />

Handlung verraten? Wie ist der Pulsschlag, die Melodie? Wo<br />

wird langsam erzählt, wo schnell? Werden Motive wiederholt,<br />

variiert? Was hält die Geschichte zusammen?<br />

Vom <strong>Lesen</strong> zum Schreiben<br />

Schult man seine Beobachtungen an Texten, gewinnt man<br />

nach und nach etwas <strong>für</strong> die eigene Schreibpalette hinzu.<br />

Schreibt man selbst, verändert sich wiederum der Blick auf<br />

die Literatur. Dabei geht es nicht darum, die eigenen Vorbilder<br />

zu kopieren, sondern wie sie zu sehen. Man erlernt<br />

die Techniken, das Handwerkszeug – um es dann wieder zu<br />

vergessen oder besser: sich davon zu befreien.<br />

Wenn ich schreibe, denke ich nicht an all diese Dinge.<br />

Ich entscheide mich <strong>für</strong> einen Anfang, arbeite mit Notizen<br />

und Bildern, gesammeltem, abgehorchtem Leben, eigenen<br />

Erfahrungen, Erinnerungen, und taste mich vorwärts. Ich<br />

weiß bis zuletzt nicht, ob sich das Geschriebene zu einer<br />

kohärenten Welt fügt. Jemand, der schreibt, lebt mit diesem<br />

Risiko, und muss dieses Risiko während des Schreibens<br />

vergessen.<br />

Es gibt jedoch Übungen, Haltungen und Umgebungen,<br />

die das Entstehen von Texten begünstigen. Aus meiner<br />

Erfahrung heraus ist es vor <strong>alle</strong>m die Stille. Wir müssen<br />

leise sein, „damit das Dazwischen selbst sprechen kann“<br />

schreibt Marica Bodrozic. ˇ ´ Nur dann können wir überrascht<br />

werden und reproduzieren nicht nur Überkommenes,<br />

Gewusstes, selbst Erfahrenes.<br />

Wie aber kommt man ins Schreiben hinein?<br />

Das wichtigste ist: Kontinuität herstellen, Rituale etablieren.<br />

John Updike sagte, „die Wonnen des Nichtschreibens“<br />

seien so groß, „dass man, wenn man einmal damit anfängt,<br />

nie wieder einen Stift in die Hand nimmt.“ Wenn der Kopf<br />

voll ist und die Zweifel zu laut werden, kann es helfen,<br />

bewusst in die Stille zu gehen. In den Kursen im bifeb am<br />

Wolfgangsee üben wir das, indem wir minutenlang umhergehen<br />

und versuchen, im Körper präsent zu sein, oder uns<br />

auf unsere Sinne konzentrieren – statt uns nur den Dauerschlaufen<br />

des Denkens zu überlassen.<br />

In einem zweiten Schritt geht es darum, Vertraute zu<br />

suchen, die Feedback geben, damit wir einen Text mithilfe<br />

ihrer Rückmeldungen überarbeiten können. Ein literarischer<br />

Text braucht in den meisten Fällen lange, sehr lange,<br />

bis er fertig ist. Ich lebe über Jahre mit einem Manuskript,<br />

gehe wieder und wieder über die Zeilen, bis der Zeitpunkt<br />

da ist, es Erstleserinnen und Erstlesern zu geben. Dann<br />

folgt, mit deren Rückmeldungen und Anmerkungen, die<br />

erneute Überarbeitung. Bei jeder Fassung des Textes füge<br />

ich Nuancen hinzu oder gehe in die Reduktion – je nachdem.<br />

Besonders die Unbestimmtheitsstellen eines Textes<br />

sind wichtig. Erzählen ist eine selektive Tätigkeit; Momente<br />

eines Lebens werden erfasst, in ihrer Dichte und Gleichzeitigkeit<br />

der Ereignisse, Gedanken, Erinnerungen. Das, was<br />

ausgespart wird, rekonstituiert sich beim <strong>Lesen</strong>. Die Leserinnen<br />

und Leser füllen diese Leerstellen, man sollte ihnen<br />

ruhig etwas zutrauen. Denn dieses In-Beziehung-Treten ist<br />

das Glück des <strong>Lesen</strong>s.<br />

Es geht nicht darum, <strong>alle</strong>s zu können, und auch nicht<br />

um richtig und falsch: Es gibt eine Schönheit und Logik<br />

in der Sprache, die nichts mit grammatischer Korrektheit<br />

zu tun hat. Ein guter Text hat seine eigenen Maßstäbe,<br />

jenseits von Vereinfachungen und gefälligen Deutungen.<br />

Das Schreiben ist ein Erkenntnisvorgang, ein Spiel, ohne<br />

zu frühe Absicht. Es ist die Suche nach einem spontanen<br />

Ausdruck in der Sprache, die Suche nach etwas Neuem.<br />

Und die Lust, andere Haltungen, Sichtweisen auszuprobieren<br />

– zunächst einmal auf dem Papier.<br />

Iris Wolff ist Autorin und leitet einen Fortbildungskurs des BVÖ zum<br />

literarischen Schreiben <strong>für</strong> Bibliothekar:innen.<br />

www.iris-wolff.de<br />

<strong>Büchereiperspektiven</strong> 2/<strong>22</strong><br />

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