Büchereiperspektiven 2/19: Lesen – Erlesen. Wissen aneignen und Welten erweitern
Egal aus welcher Perspektive man es betrachtet: Lesen bietet ungeheures Potenzial. Ob man nun durch Lektüre Wissen erlangt oder unbekannte Erfahrungen fassbar werden – die eigene Welt wird erweitert. In dieser Ausgabe der Büchereiperspektiven finden Sie Lektüreanregungen und Beispiele, wie Sie NutzerInnen zum Lesen animieren können!
Egal aus welcher Perspektive man es betrachtet: Lesen bietet ungeheures Potenzial. Ob man nun durch Lektüre Wissen erlangt oder unbekannte Erfahrungen fassbar werden – die eigene Welt wird erweitert. In dieser Ausgabe der Büchereiperspektiven finden Sie Lektüreanregungen und Beispiele, wie Sie NutzerInnen zum Lesen animieren können!
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LESEN – ERLESEN I LEKTÜREANREGUNGEN
Medienbox
FOTO: BVÖ/LUKAS BECK
Graphic Novels
bieten das
Potenzial, sich
mit (Zeit-)
Geschichte
auseinanderzusetzen
konnten. Um diese schwerwiegenden sowie komplexen
Ereignisse und Zusammenhänge in eine nachvollziehbare
Erzählung bringen zu können, wählen Spottorno und Abril
eine Form, die man durchaus als zeitgenössischen Trend am
Comicmarkt bezeichnen darf: die dokumentarische Graphic
Novel, die einen hohen Authentizitätsanspruch verfolgt.
Ausdeutung: Von innen heraus
Einen dieser Herangehensweise diametral gegenüberstehenden
Ansatz verfolgten im selben Jahr David Polonsky
und Ari Folman, die durch ihren preisgekrönten und Oskar
nominierten Animationsfilm „Waltz with Bashir“ bekannt
wurden. Sie adaptieren „Das Tagebuch der Anne Frank“
und lassen mit einer mit Filmtechnik gespickten Graphic
Novel (Fischer 2017) ein originäres Kunstwerk entstehen,
das nicht dokumentarisch arbeitet, sondern Anne Franks
psychische Innenwelt grafisch auszudeuten versucht.
Obwohl auf der Textebene ein gewissenhaftes Naheverhältnis
zum Original angestrebt wird, werden Annes intimste
Erfahrungen bildästhetisch interpretiert. Ihre emotionale
Verfasstheit wird dadurch ebenso eindrücklich umgesetzt
wie eine informative Außenperspektive, die zum Beispiel die
Wohnraumaufteilung im Querschnitt veranschaulicht. Die
Vielschichtigkeit, die Anne Franks Tagebuch zugrunde liegt,
wird mit einem ebenso vielschichtigen Bildprogramm auf
außergewöhnlich harmonische Weise erweitert und zu einer
neuen Form transferiert, die die Künstler passenderweise
mit „Graphic Diary“ benennen.
An das Tagebuchformat erinnert auch Julia Zejns Erzählweise,
die letztes Jahr in „Drei Wege“ (avant-verlag) drei
lose aneinander geknüpfte Narrative parallel führt und im
Abstand von je fünfzig Jahren Einblicke in das Leben dreier
junger Frauen im Berlin der Jahre 1918, 1968 und 2018
gibt. Ida, Marlies und Selins Lebenssituationen könnten
nicht unterschiedlicher angelegt sein und repräsentieren
zugleich den Zeitgeist ihrer jeweiligen Generation: Während
Ab Jänner 2020 bietet der BVÖ eine Medienbox mit Graphic
Novels zum Verleih an. Informationen unter:
www.bvoe.at/bestellservice
Ida als Hausmädchen die schwierige und von Entbehrungen
geprägte Zeit während des Ersten Weltkriegs miterlebt,
erfährt Marlies fünfzig Jahre später, was es heißt, sich
persönlich sowie gesellschaftlich zu emanzipieren. Obwohl
Selins gegenwärtige Probleme der Überforderung bei gleichzeitiger
Antriebslosigkeit relativ unbedeutend erscheinen,
ist auch ihr Leben sehr genau auf die heutigen Umstände
kalibriert und wird in der feinen Illustration alltäglicher Situationen
zu einer Art Familienalbum. Werden zu Beginn noch
einzelne, ausgedehnte Kapitel entworfen, um die Lebensumstände
zu schildern, beschleunigt sich die Parallelschaltung
in der Mitte zu einer höchst spannenden Gegenüberstellung
von je drei Bildern, die die jeweils aktuellen Formen
von Freizeitgestaltung, Mediengebrauch, Arbeit, Mode oder
Fortbewegungsmittel nebeneinanderstellen und so einen
einfachen wie komplexen Überblick eines 150-jährigen Kosmos
konstruieren.
Spieglung: Vom Einzelnen zum Ganzen
Abschließend sei noch Daria Bogdanskas ´ Graphic Novel
„Von unten“ (avant-verlag 2019) erwähnt, die sich „nur“ auf
ihr eigenes Leben fokussiert und in einem an den klassisch
französischen Comic erinnernden Stil davon erzählt, wie
es ihr vor sechs Jahren dabei erging, als emigrierte Polin
in Malmö Fuß zu fassen und dabei beinahe an korrupten
Arbeitsverhältnissen sowie einem abstrusen Bürokratiesystem
zu scheitern, um sich dann politisch zu engagieren.
Der Titel reiht sich in eine reiche Tradition autobiografischer
Comics, mit ihrem spezifischen Augenmerk auf ihr nächstes
Umfeld geht Bogdanska ´ jedoch einen Schritt weiter und
könnte die Renaissance einer nicht mehr allzu oft anzutreffenden
Form einläuten: die Milieustudie.
Peter Rinnerthaler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der STUBE –
Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur.
Büchereiperspektiven 2/19
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