Büchereiperspektiven 2/19: Lesen – Erlesen. Wissen aneignen und Welten erweitern
Egal aus welcher Perspektive man es betrachtet: Lesen bietet ungeheures Potenzial. Ob man nun durch Lektüre Wissen erlangt oder unbekannte Erfahrungen fassbar werden – die eigene Welt wird erweitert. In dieser Ausgabe der Büchereiperspektiven finden Sie Lektüreanregungen und Beispiele, wie Sie NutzerInnen zum Lesen animieren können!
Egal aus welcher Perspektive man es betrachtet: Lesen bietet ungeheures Potenzial. Ob man nun durch Lektüre Wissen erlangt oder unbekannte Erfahrungen fassbar werden – die eigene Welt wird erweitert. In dieser Ausgabe der Büchereiperspektiven finden Sie Lektüreanregungen und Beispiele, wie Sie NutzerInnen zum Lesen animieren können!
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LESEN – ERLESEN I LITERATUR AUS ÖSTERREICH
Erzählkrimis obliegt den Lesenden, die dieser fatalen und
insgeheim auch verletzlichen Frauenfigur schnell verfallen
sind. Eva wickelt alle um den Finger und provoziert Insassen,
Personal und Lesende gleichermaßen. Ihren magersüchtigen
Bruder, der ebenfalls in der Anstalt einsitzt, überredet
sie zu einer Odyssee in die Vergangenheit, um den Vater
(vermeintlich!) zu töten, zu einer Flucht in die Heimatprovinz,
die Angela Lehner als erinnertes, bisweilen sogar verklärtes
Österreich inszeniert.
Literaturtipps
Angela Lehner: Vater unser. Hanser Berlin 2019
Tanja Raich: Jesolo. Blessing 2019
Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land. Klett-Cotta 2019
Ebenfalls lesenswert – zwischen Realität und Imagination:
Sophie Reyer: Mutter brennt. Keiper 2019
Katharina Pressl: Andere Sorgen. Residenz 2019
Wurzeln (zer)schlagen
Wie man „Vater unser“ in der je eigenen, subjektiven Lesart
auch dreht und wendet, die Figuren, die dabei in immer neue
mögliche Konstellationen geschüttelt werden, bleiben die
gleichen. Kein kollektives Sittenbild, sondern eine Familie
und eine Anstalt, die jedoch pars pro toto zu lesen sind.
Diese literarische Entsprechung, dieses Herunterbrechen
vollzieht auch Raphaela
Edelbauer, geboren 1990 in Wien,
die mit „Das flüssige Land“ die
Shortlist des deutschen Buchpreises
erobert hat. Der Unfalltod der
Eltern (auch hier eine Kernfamilie
und ihre provinzielle Heimat) führt
Physikerin Ruth in deren Herkunftsort,
der aber erst gefunden
werden will: Groß-Einland verbirgt
sich labyrinthisch und Ruth muss
erstmal durchs metaphorische
Kaninchenloch fallen. Angekommen
im anachronistischen und
hermetisch verschlossenen Dorf
stößt Ruth bald auf eine groteske
geologische Unterhöhlung des
gesamten Ortes und auf ein Ereignis
im April 1945, als Groß-Einland
hunderte Zwangsarbeiter loszuwerden
hatte. Raphaela Edelbauer
bringt es auf den Punkt: „Wurzeln
schlagen ist dort leichter, wo vie-
FOTO: VICTORIA HERBIG
les im Erdreich verrottet.“ Groß-Einland entpuppt sich als
ein Kafkaeskes Wunderland, über dem eine Gräfin thront,
die Dürrenmatts Claire Zachanassian Ehre macht und Ich-
Erzählerin und Lesende gleichermaßen mit Geschichtsaufarbeitung
und der Theorie von Schwarzen Löchern fordert.
Ruth erkundet so nicht nur die Wurzeln ihrer Familie, sondern
die eines ganzen Dorfes, das während ihres surrealen
Aufenthaltes langsam und wortwörtlich zerbröckelt.
In allen drei Romanen sind es die kleinen Ebenen – die
Paarbeziehung, die Familie, die dörfliche Gemeinschaft –,
die letztlich einen universellen Anspruch zu haben scheinen.
Die Transferleistung auf einen allgemeinen Gesellschaftsbefund
überlassen die jungen Autorinnen aber den
Lesenden, alle drei Erzählerinnen sind unzuverlässig: Andi
verschweigt uns in „Jesolo“ (fast) eine Affäre, Eva belügt in
„Vater unser“ sogar sich selbst und Ruths Blick ist in „Das
flüssige Land“ getrübt von exzessivem Tablettenkonsum.
Unzuverlässiges Erzählen dient hier auch der Verweigerung:
Die Figuren sind nicht gefügig, sie grenzen sich ab von
Zuschreibungen der Vergangenheit, Heimat und Familie –
zumindest in Gedanken.
Auf die Frage nach dem Plan B zum Autorenleben antwortete
Lehner dem „Falter“: „Ich will nicht in die Situation
kommen, einen gefälligen Text schreiben zu müssen.“ Ein
Understatement, denn gerade das ist die Kunst aller drei
Autorinnen: Sie schreiben sperrig und gefällig, avanciert
und nonchalant. Beste Voraussetzungen für einen Generationen-
und Geschlechterwechsel in der österreichischen
Literatur.
Drei junge österreichische
Autorinnen
schreiben sich mit ihren
Werken in die Literaturgeschichte
ein
Christina Pfeiffer-Ulm ist freie Germanistin, vor allem im Bereich
Kinder- und Jugendliteratur, und Lehrerin an einer AHS.
Büchereiperspektiven 2/19
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