Nr. 85 - Winter 2022-2023
Flusstourismus, Canal du Rhône à Sète, Pays de Gex, Astrotourismus, Notre-Dame de Paris, Picasso, Gâteau aux noix, Wein ... und viel mehr!
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FRANKREICH HEUTE Kultur / Serie<br />
bezeichnete man seine letzten Bilder als dekadent und<br />
überholt. Das, was heute abläuft, ist ebenfalls heftig,<br />
manchmal übertrieben und oft ungerecht. Es geht um<br />
biografische Aspekte, um die Person des Künstlers, im<br />
Wesentlichen – wenn nicht sogar ausschließlich – um seine<br />
Beziehung zu Frauen. Diese Diskussionen können wir<br />
nicht ignorieren. Die Informationen, die in sozialen Netzwerken<br />
kursieren, zwingen uns dazu, unsere Komfortzone<br />
zu verlassen. Sie zwingen uns, unsere Gewohnheiten,<br />
unsere Überzeugungen abzulegen. Wie die meisten Besucher<br />
des Museums gehöre ich zu einer Altersgruppe,<br />
die Picasso immer als einen der großen Kreativen der<br />
modernen Kunst betrachtete, als einen ihrer Wegbereiter,<br />
einen wunderbaren Maler, einen Erfinder von Formen. In<br />
dieser Beziehung besitzt er für mich und viele andere eine<br />
besondere Aura. Dennoch verstehe ich absolut, dass man<br />
den « Meister der modernen Kunst » heute mit anderen<br />
Augen sehen kann. Um sich eine eigene Meinung bilden<br />
zu können, muss man allerdings objektive Informationen<br />
besitzen, die von Fachleuten überprüft und für korrekt befunden<br />
wurden; man muss diese Informationen im richtigen<br />
Kontext beurteilen. Dafür ist es meiner Ansicht nach<br />
wichtig, Picassos Werk zu zeigen, zu erklären, vielleicht<br />
sogar zu entschlüsseln. Soziale Medien kommunizieren<br />
in der Regel nur lückenhafte Informationen für das Verständnis<br />
dieser Kunst und vor allem können sie nicht das<br />
vermitteln, was die physische Betrachtung eines Originalwerks<br />
vermittelt. Folglich besteht eine echte Gefahr, dass<br />
die « Person Picasso » durch die derzeitigen Diskussionen<br />
bei jüngeren Menschen dauerhaft<br />
Schaden erleidet. Ich glaube,<br />
dass es wichtig ist, in diesem<br />
Kontext objektive Antworten<br />
zu geben.<br />
Wie wollen Sie konkret an dieser<br />
Debatte teilnehmen und solche objektiven<br />
Antworten geben?<br />
Bevor man Antworten geben<br />
kann, muss man sich meines<br />
Erachtens nach zunächst<br />
offen für Dialog zeigen. Man<br />
darf keine Angst vor Fragen<br />
haben, im Gegenteil. Deshalb<br />
haben wir im Museum eine<br />
Veranstaltungsreihe kreiert, die polemische Fragestellungen<br />
in Bezug auf Picasso thematisiert, diejenigen<br />
eingeschlossen, die in den vergangenen Jahren in den<br />
Social Media diskutiert wurden. Jeden Monat laden wir<br />
bedeutende Persönlichkeiten wie Forscher, Künstler,<br />
Schriftsteller und Kunsthistoriker ins Museum ein, die<br />
vor einem ausgewählten Publikum über Themen wie<br />
« Muss man Werk und Autor trennen? », « Die Sexualität<br />
in der Kunst », « Kunst und Gewalt » oder « Die Frage des<br />
Postkolonialismus bei Picasso » diskutieren. In diesem<br />
Rahmen arbeiten wir mit Studentengruppen aus Universitäten<br />
und Hochschulen – unter anderem École du Louvre,<br />
École des Beaux-Arts, Institut für Politikwissenschaften<br />
– zusammen. Diese bilden gemeinsam mit einem Teil<br />
der Mitarbeiter das Publikum dieser Debatten. Dahinter<br />
steht der Gedanke, einen regen Austausch zwischen den<br />
Teilnehmern zu schaffen. Uns wiederum soll der kollektive<br />
Gedankenaustausch neue Hilfsmittel und Argumente<br />
an die Hand geben. Die Debatten werden aufgezeichnet<br />
und im kommenden Sommer im nationalen Radiosender<br />
France Culture ausgestrahlt.<br />
Die Sammlung im Picasso-Museum ist immerhin die weltweit<br />
bedeutendste Sammlung dieser Art. Sie haben beschlossen, noch<br />
mehr aus diesem Bestand zu zeigen, also noch mehr Werke aus<br />
dem Depot zu holen …<br />
Ja, ich habe mich verpflichtet, die Sammlung so umzustrukturieren,<br />
dass mehr davon zu sehen ist und die<br />
Menschen auf diese Weise mehr über Picasso erfahren.<br />
Angesichts bestimmter Vorwürfe in den sozialen Medien<br />
ist es zweifellos sinnvoll, die Subtilität und Komplexität<br />
seines Werkes zu zeigen. Dafür wollen wir mithilfe unseres<br />
außerordentlichen Bestands an Zeichnungen den<br />
Kreativitätsprozess aufzeigen, radikale Werke ausstellen,<br />
um den Erfindungsgeist und den revolutionären Charakter<br />
seines Schaffens spüren zu lassen und auch die Archive mit<br />
Manuskripten und Werken öffnen, die Picasso als Dichter<br />
zeigen. Das sind nur einige Beispiele. Man darf sich<br />
nicht darauf beschränken, sich anhand einiger Zeilen im<br />
Internet eine Meinung zu bilden. Ich glaube, es ist wichtig,<br />
sich Picasso auf neue Art anzunähern,<br />
ihn aus anderen Blickwinkeln<br />
zu betrachten, um eine<br />
Verbindung zu uns, zur heutigen<br />
Zeit herzustellen. Wenn Annie<br />
Cohen-Solal (Anm. d. Red.:<br />
Autorin des Buches « Un étranger<br />
nommé Picasso, Fayard, 2021,<br />
siehe Frankreich erleben <strong>Nr</strong>. 84)<br />
auf den weitgehend unbekannten<br />
Status Picassos als Ausländer<br />
eingeht, zeigt sie, dass<br />
dieser selbst mit Polizeigewalt<br />
konfrontiert war, wie sie junge<br />
Eine der Prioritäten des Musée Picasso ist es,<br />
junge Menschen zum Besuch zu animieren.<br />
Menschen auch heute teilweise<br />
erfahren. Das ist ebenfalls eine<br />
Facette von Picasso. Wir entwickeln daher eine Reihe von<br />
Sonderausstellungen über den Einfluss des Künstlers im<br />
weiteren Sinne. Im Februar <strong>2023</strong> zeigen wir beispielsweise<br />
Werke der schwarzen amerikanischen Künstlerin Faith<br />
Ringgold, die der Harlem-Renaissance zuzuordnen ist und<br />
sich mit der Figur Picassos auseinandersetzte.<br />
Man könnte sagen, die Person Picasso ist in der Beziehung<br />
zu Frauen anachronistisch und sexistisch. Der Ende<br />
des 19. Jahrhunderts im Süden Spaniens geborene Maler<br />
war seinen Gefährtinnen gegenüber sehr besitzergreifend<br />
und eifersüchtig, manchmal manipulatorisch oder gar<br />
78 · Frankreich erleben · Herbst <strong>2022</strong>