FRANKREICH HEUTE Kulturerbe & Wissenschaft Links: Um das Innere der Kathedrale vor Wind und Regen zu schützen, wurde ein riesiger « Regenschirm » installiert. Unten: Martine Regert, Forschungsleiterin am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS). Rechts: Durch die Löcher im teilweise zerstörten Gewölbe fällt Licht ins Innere von Notre-Dame. Von der Orgelempore aus bietet sich ein noch nie zuvor gesehenes Bild der Kathedrale. Martine Regert, erinnern Sie sich an den Augenblick, als Sie vom Brand von Notre-Dame de Paris erfahren haben? Ja, und zwar ganz genau. Diesen Moment werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Ich befand mich im TGV, auf dem Weg von Nizza, wo sich mein Forschungslabor befindet, nach Paris. Es zwar ungefähr 23 Uhr. Während der Fahrt hatte ich gearbeitet. Kurz vor dem Eintreffen in Paris, wollte ich noch schnell auf dem Laptop ein paar Nachrichten im Internet ansehen. Da sah ich ein Foto der brennenden Kathedrale. Im ersten Moment sagte ich mir, dass dies nicht möglich sei. Wie vermutlich die meisten Menschen, war ich bei diesem Anblick fassungslos und zutiefst bewegt zugleich. Sie müssen wissen, ich hatte einige Jahre in Paris im V. Arrondissement gelebt und von meinem Fenster aus blickte ich damals genau auf die beiden Türme der Westfassade von Notre-Dame und den Vierungsturm. Das Bild hatte ich damals vor Augen, und dann sagte ich mir, dass ich es vielleicht nie wieder sehen würde ... Diese Gefühle teilten Sie damals mit vielen Menschen nicht nur in Frankreich, sondern auf der ganzen Welt. In der Wissenschaftsgemeinde standen aber sehr schnell, als der erste Schock vorbei war, die Telefone nicht mehr still ... Genau. Ich glaube, wir Wissenschaftler verspürten sofort ein großes Bedürfnis, uns auszutauschen. Zunächst ging es vorwiegend um Informationen. Jeder versuchte, so viel wie möglich über das Ausmaß des Feuers und die Schäden zu erfahren, um in der Folge dann unsere Reaktionen und unser Wissen weiterzugeben. Vor allem ging es sehr schnell darum, eine Erkenntnis zu vermitteln: Angesichts dieses entsetzlichen Brandes musste das geringste « Überbleibsel », das kleinste Stück eines verkohlten Balkens, jedes noch so winzige Trümmerteil unbedingt in Sicherheit gebracht, identifiziert und konserviert werden, um es untersuchen zu können. Das war unseres Erachtens wesentlich. Im Grunde war es eine sehr akademische Reaktion. Als Spezialistin für Archäologie bin ich in dieser Beziehung sowieso sehr sensibilisiert: In meinem Fachbereich weiß man besonders gut, welchen Wert selbst kleinste Kleinigkeiten haben, sobald sie als historische Überreste gelten. Bei archäologischen Ausgrabungen muss man in der Regel zuerst etwas zerstören, um Untersuchungen machen zu können. Doch bei Notre-Dame war alles anders: Hier hat das fürchterliche Feuer zu einer schrecklichen Zerstörung geführt, die es uns erlauben sollte, die Kirche auf noch nie da gewesene Weise zu untersuchen. Das war vollkommen unerwartet. War das eine Premiere für die Welt der Forschung? Nein, mir fällt zum Beispiel der tragische Brand des Museums von Rio im September 2018 ein. In wenigen Stunden war alles verbrannt: Sammlungen, Archive, wissenschaftliche Arbeiten von unschätzbarem Wert. Aber das Unglück von Notre-Dame war absolut außergewöhnlich. Durch sein Ausmaß, aber auch durch die Herausforderung, die dadurch für die Wissenschaft entstand. Und leider glaube ich inzwischen, dass solche dramatischen Ereignisse, die eine Weiterentwicklung der Forschung provozieren, immer alltäglicher werden. Wir leben in einer Zeit, in der sich bestimmte Phänomene beschleunigen und den ganzen Globus zum Forschungsobjekt machen: Klima, Trockenheit, Küstenerosion, Umweltkatastrophen ... Solche Ereignisse sind eine Aufforderung zu analysieren, zu verstehen. Aus ihnen leiten sich zentrale Themen für Untersuchungen ab, nicht nur für die Lehre als solche, sondern für die Zukunft unserer 62 · Frankreich erleben · Herbst <strong>2022</strong>
Frankreich erleben · Herbst <strong>2022</strong> · 63