Nr. 85 - Winter 2022-2023
Flusstourismus, Canal du Rhône à Sète, Pays de Gex, Astrotourismus, Notre-Dame de Paris, Picasso, Gâteau aux noix, Wein ... und viel mehr!
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FRANKREICH HEUTE Kulturerbe & Wissenschaft<br />
Links: Um das Innere<br />
der Kathedrale vor Wind<br />
und Regen zu schützen,<br />
wurde ein riesiger<br />
« Regenschirm » installiert.<br />
Unten: Martine Regert,<br />
Forschungsleiterin<br />
am Centre National<br />
de la Recherche<br />
Scientifique (CNRS).<br />
Rechts: Durch die Löcher<br />
im teilweise zerstörten<br />
Gewölbe fällt Licht ins<br />
Innere von Notre-Dame.<br />
Von der Orgelempore<br />
aus bietet sich ein noch<br />
nie zuvor gesehenes<br />
Bild der Kathedrale.<br />
Martine Regert, erinnern Sie sich an den Augenblick,<br />
als Sie vom Brand von Notre-Dame de Paris erfahren<br />
haben?<br />
Ja, und zwar ganz genau. Diesen Moment werde ich<br />
mein Leben lang nicht vergessen. Ich befand mich im<br />
TGV, auf dem Weg von Nizza, wo sich mein Forschungslabor<br />
befindet, nach Paris. Es zwar ungefähr 23 Uhr.<br />
Während der Fahrt hatte ich gearbeitet. Kurz<br />
vor dem Eintreffen in Paris, wollte ich noch<br />
schnell auf dem Laptop ein paar Nachrichten<br />
im Internet ansehen. Da sah<br />
ich ein Foto der brennenden Kathedrale.<br />
Im ersten Moment sagte ich<br />
mir, dass dies nicht möglich sei.<br />
Wie vermutlich die meisten Menschen,<br />
war ich bei diesem Anblick<br />
fassungslos und zutiefst bewegt<br />
zugleich. Sie müssen wissen, ich<br />
hatte einige Jahre in Paris im V. Arrondissement<br />
gelebt und von meinem<br />
Fenster aus blickte ich damals genau<br />
auf die beiden Türme der Westfassade von<br />
Notre-Dame und den Vierungsturm. Das Bild<br />
hatte ich damals vor Augen, und dann sagte ich mir,<br />
dass ich es vielleicht nie wieder sehen würde ...<br />
Diese Gefühle teilten Sie damals mit vielen Menschen nicht<br />
nur in Frankreich, sondern auf der ganzen Welt. In der<br />
Wissenschaftsgemeinde standen aber sehr schnell, als der erste<br />
Schock vorbei war, die Telefone nicht mehr still ...<br />
Genau. Ich glaube, wir Wissenschaftler verspürten<br />
sofort ein großes Bedürfnis, uns auszutauschen. Zunächst<br />
ging es vorwiegend um Informationen. Jeder versuchte,<br />
so viel wie möglich über das Ausmaß des Feuers und die<br />
Schäden zu erfahren, um in der Folge dann unsere Reaktionen<br />
und unser Wissen weiterzugeben. Vor allem<br />
ging es sehr schnell darum, eine Erkenntnis zu vermitteln:<br />
Angesichts dieses entsetzlichen Brandes musste<br />
das geringste « Überbleibsel », das kleinste Stück eines<br />
verkohlten Balkens, jedes noch so winzige Trümmerteil<br />
unbedingt in Sicherheit gebracht, identifiziert und konserviert<br />
werden, um es untersuchen zu können. Das war<br />
unseres Erachtens wesentlich. Im Grunde war es eine sehr<br />
akademische Reaktion. Als Spezialistin für Archäologie<br />
bin ich in dieser Beziehung sowieso sehr sensibilisiert: In<br />
meinem Fachbereich weiß man besonders gut, welchen<br />
Wert selbst kleinste Kleinigkeiten haben, sobald<br />
sie als historische Überreste gelten. Bei archäologischen<br />
Ausgrabungen muss man<br />
in der Regel zuerst etwas zerstören, um<br />
Untersuchungen machen zu können.<br />
Doch bei Notre-Dame war alles<br />
anders: Hier hat das fürchterliche<br />
Feuer zu einer schrecklichen Zerstörung<br />
geführt, die es uns erlauben<br />
sollte, die Kirche auf noch nie da<br />
gewesene Weise zu untersuchen. Das<br />
war vollkommen unerwartet.<br />
War das eine Premiere für die Welt der Forschung?<br />
Nein, mir fällt zum Beispiel der tragische<br />
Brand des Museums von Rio im September 2018 ein.<br />
In wenigen Stunden war alles verbrannt: Sammlungen,<br />
Archive, wissenschaftliche Arbeiten von unschätzbarem<br />
Wert. Aber das Unglück von Notre-Dame war absolut<br />
außergewöhnlich. Durch sein Ausmaß, aber auch durch<br />
die Herausforderung, die dadurch für die Wissenschaft<br />
entstand. Und leider glaube ich inzwischen, dass solche<br />
dramatischen Ereignisse, die eine Weiterentwicklung der<br />
Forschung provozieren, immer alltäglicher werden. Wir<br />
leben in einer Zeit, in der sich bestimmte Phänomene<br />
beschleunigen und den ganzen Globus zum Forschungsobjekt<br />
machen: Klima, Trockenheit, Küstenerosion,<br />
Umweltkatastrophen ... Solche Ereignisse sind eine Aufforderung<br />
zu analysieren, zu verstehen. Aus ihnen leiten<br />
sich zentrale Themen für Untersuchungen ab, nicht nur<br />
für die Lehre als solche, sondern für die Zukunft unserer<br />
62 · Frankreich erleben · Herbst <strong>2022</strong>