flip-Joker_2022-11
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Theater theater KULTUR JOKER 7<br />
Lisa Bräuniger in<br />
„What the body?!“<br />
Foto: MiNZ&KUNST Photography<br />
Wenn das Vertraute fremd wird<br />
„What the body?!“ sucht im Theater im Marienbad nach Körperbildern jenseits der Schubladen<br />
Pst, falls Sie frieren, da wäre<br />
etwas für Sie. Die zehn Leuchtstäbe,<br />
die im Kesselhaus des<br />
Theater im Marienbad an der<br />
Decke hängen, wärmen und<br />
Lisa Bräuninger wird Sie eine<br />
gute Stunde lang in Bewegung<br />
halten. Die Schauspielerin,<br />
die auf bemerkenswert hohen<br />
Plateauschnürstiefeln steht<br />
und eine enge grün-schwarze<br />
Pepitahose zum Bowler trägt,<br />
deutet die Richtung an, sie teilt<br />
das Publikum wie Moses das<br />
Meer. Und am Ende wird sogar<br />
getanzt. Denn, wer gerne<br />
tanzt, weiß, so gut kann sich<br />
ein Körper im Sitzen gar nicht<br />
anfühlen.<br />
„What the body?!“ hält sich<br />
mit der Trennung von Zuschauern<br />
und Theater, Stück<br />
und Recherche nicht auf. Die<br />
Tribüne ist abgebaut, das Publikum<br />
versammelt sich zu<br />
Beginn von Bräuningers Solo<br />
in Grüppchen im Theaterraum<br />
und wird sich während der<br />
gut einstündigen Vorstellung<br />
immer wieder neu verteilen,<br />
mal bildet sich eine Schlange,<br />
dann ein Kreis. Die Musik<br />
(Siri Thiermann) pumpt<br />
ordentlich. „What the body?!“<br />
gehört zu jenen Stücken, die<br />
das Theater seinem Ensemble<br />
überantwortet hatte und<br />
die auch für Klassenzimmer<br />
konzipiert sind. Die Monologe<br />
befassten sich mit dem<br />
Klimawandel, was sonst noch<br />
auf den Nägeln brannte oder<br />
was die Schauspielerinnen<br />
und Schauspieler immer schon<br />
einmal machen wollten. Mit<br />
dem gemeinsamen Stück von<br />
Lisa Bräuninger, Anne Wittmiß<br />
und Anna Fritsch, das<br />
kaum mehr als ein Mikro und<br />
einen Lautsprecher braucht,<br />
schließt die Reihe. „What the<br />
body?!“ ist nicht allein das übliche<br />
Pubertätsdrama, bei dem<br />
der eigene Körper fremd wird,<br />
sich verändert, weiblicher oder<br />
männlicher wird, es beruht auf<br />
Interviews, die die drei Frauen<br />
mit Schülerinnen und Schülern<br />
geführt haben. Es scheint als<br />
ob der Pubertätshormoncocktail<br />
auf fluide Identitäten trifft.<br />
Da werden mathematische<br />
Formeln zur Volumenberechnung<br />
von Brüsten zitiert, dann<br />
wiederum probiert die Protagonistin<br />
einen Sport-BH an,<br />
aus dem sie eigentlich herausgewachsen<br />
ist, um ihre Oberweite<br />
abzubinden. Bräuninger<br />
fordert einzelne Zuschauer<br />
zur direkten Interaktion auf:<br />
Guck‘ mal, guck‘ weg. Teenager<br />
brauchen einfach viel Aufmerksamkeit.<br />
Die Kommentare der Heranwachsenden<br />
und Jugendlichen<br />
werden immer wieder unterbrochen<br />
von Betrachtungen<br />
aus dem Tierreich, genauer<br />
von Delphinen. Delphine heißt<br />
es da einmal stoßen alle zwei<br />
Stunden ihre äußeren Hautzellen<br />
ab oder Delphine bekommen<br />
in Gefangenschaft<br />
Depressionen. Das ist ein<br />
bisschen so als schaute man<br />
zwischendurch ein Tiervideo,<br />
das – wenig überraschend –<br />
die eigenen Befindlichkeiten<br />
spiegelt. Und auf diese Spiegelungen<br />
zielt „What the body?!“<br />
ja ab. Dass es keine Distanz<br />
zwischen Bühne und Publikum<br />
gibt, ist programmatisch.<br />
Wir sollen den eigenen Körper<br />
erfahren, doch was wichtiger<br />
ist, wer durch den Raum läuft<br />
und tanzt, wird zum Komplizen<br />
des Textes. Ist man jenseits<br />
der Pubertät – wie das Premierenpublikum<br />
im Marienbad<br />
‒ kann das schnell etwas Unangemessenes<br />
bekommen. Sie<br />
erwarten an dieser Stelle ja<br />
auch keine Tipps, wie wir den<br />
Winter überstehen können.<br />
Oder?!<br />
Annette Hoffmann<br />
Von Sehnsucht und Aufbruch<br />
Standing Ovations für „LOVETRAIN2020“ des israelischen Choreografen Emanuel Gat im Theater Freiburg<br />
Bombastisch-berührendbezaubernde<br />
Bilderflut, tolle<br />
Musik ausschließlich von der<br />
britischen New-Wave-Band<br />
Tears For Fears und vierzehn<br />
fantastische Tänzer*innen<br />
– am Ende von LOVE-<br />
TRAIN2020 des israelischen<br />
Choreografen Emanuel Gat<br />
gab es im Großen Haus des<br />
Theater Freiburgs Standing<br />
Ovations. - Vielleicht auch,<br />
weil es genau diese prallbunte<br />
Poesie und mitreißende<br />
Lebensfreude ist, die so fehlt<br />
in diesen Tagen, Monaten,<br />
Jahren der schlechten Nachrichten…<br />
Meterhohe Lichtsäulen<br />
öffnen sich auf der Bühne,<br />
Theaternebel wabert, Beat<br />
wummert und aus dem Off<br />
tönt das eingängige „Say<br />
what you want“ aus „The<br />
Hurting“ – noch irritierend<br />
leise und dumpf – offensichtlich<br />
geht es dem 1969 geborenen<br />
Emanuel Gat bei allem<br />
Wiedererkennungswert<br />
von „Shout“, „Mad-World“,<br />
„Every wants to Rule The<br />
World oder „Sowing The<br />
Seeds of Love“ nicht um Musik-Bebilderung.<br />
Vielmehr<br />
triggern diese siebzig Minuten<br />
ein Lebensgefühl, das<br />
von Sehnsucht und Aufbruch<br />
erzählt. Dynamik und Ausdruck<br />
changieren zwischen<br />
hymnisch und zart, wild und<br />
verspielt, sind so divers wie<br />
die Compagnie, die in den<br />
Arbeiten von Emanuel Gat<br />
auch Raum und Freiheit für<br />
individuelle Interpretationen<br />
hat. Das ist spürbar: Selten<br />
wirkt ein Ensemble so lebendig<br />
und spontan.<br />
Auf der Bühne im Großen<br />
Haus tragen Männer wie<br />
Frauen voluminöse Kleider<br />
und Röcke in bauschigraffinierter,<br />
schillernder<br />
Vielschichtigkeit, mal als<br />
kostbar-aufwendige Roben<br />
und Togen, dann wieder in<br />
wilder Schürzen-Manier<br />
wie nach einer Explosion im<br />
Altkleider-Container (Kostümdesign<br />
Thomas Bradley).<br />
Gold und Blau, Dunkelrot<br />
und Grün – alles wogt, ist<br />
Augenschmaus. So wie das<br />
Licht-Design (Emanuel Gat),<br />
das den Raum nach oben öffnet,<br />
immer wieder biblische<br />
Gemälde-Settings schafft<br />
mit scharfen Schatten, steingrauen<br />
Wolkenformationen,<br />
geheimnisvollen Pyramiden-<br />
Perspektiven. Konventionell<br />
inszenierter Ästhetizismus<br />
also? Dazu gibt es zu viele<br />
Stile und Brüche, schälen<br />
sich aus den kraftvollen,<br />
komplexen Gruppenchoreografien<br />
immer wieder ganz<br />
unterschiedliche Soli heraus,<br />
am Ende hat man alle<br />
vierzehn Tanzenden gesehen<br />
und erlebt. Ein magisches<br />
Erlebnis – und damit eine<br />
tolle Spielzeit-Eröffnung für<br />
den Tanz.<br />
Marion Klötzer<br />
DIE SCHÖNEN<br />
MUSIKTHEATER IM E-WERK<br />
Das wahre Leben der<br />
FLORENCE FOSTER JENKINS<br />
SOUVENIR<br />
18.NOV - 17. DEZ<br />
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