flip-Joker_2022-11
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4 KULTUR JOKER THEATER Theater<br />
Kaleidoskop einer Spurensuche<br />
„Gottlos“ – Natalja Althausers Regiedebüt feierte im E-Werk Premiere mit dem neu gegründeten Theater Explosiv<br />
Sonja (Natalja Althauser), Michail (Christian Packbier) und Antons Eltern Bea (Sybille Denker)<br />
und Helmut (Georg Blumreiter)<br />
Foto: Alexandre Goebel<br />
Ein Kammerspiel mit zwei<br />
Paaren, ein emotionaler Flächenbrand<br />
befeuert von Alkohol,<br />
Müdigkeit, Frust und<br />
Trauer – das erste Stück der<br />
in Freiburg lebenden Autorin,<br />
Schauspielerin und Regisseurin<br />
Natalja Althauser ist<br />
mehr als ein Psychodrama à<br />
la „Wer hat Angst vor Virginia<br />
Woolf“. Denn hier stellt<br />
das neugegründete Theater<br />
Explosiv vor allem die Frage:<br />
Gibt es einen sinnvollen und<br />
damit gerechten Krieg? Das<br />
ist erschreckend aktuell…<br />
„Gottlos“, so der Titel der rund<br />
80-minütigen, sehr fesselnden<br />
und dichten Inszenierung (Regie<br />
Christian Theil, gefördert<br />
vom Kulturamt und Regierungspräsidium<br />
Freiburg), die<br />
im Kammertheater des E-Werk<br />
Premiere feierte.<br />
Dabei sind die politischen<br />
Ereignisse der Stückentwicklung<br />
nicht erst mit dem Ukraine-Krieg<br />
davon galoppiert:<br />
Althausers Geschichte spielt<br />
im Wohnzimmer eines Paares<br />
nach dem Staatsbegräbnis<br />
ihres Sohnes, der als Bundeswehrsoldat<br />
bei einem Auslandseinsatz<br />
in Afghanistan<br />
gefallen ist. War Anton dort<br />
auf heiliger Mission für das<br />
Gute und Wahre – oder auf der<br />
Flucht vor einem kaputten Elternhaus,<br />
einer unglücklichen<br />
Liebe, der eigenen Orientierungslosigkeit?<br />
War die ganze<br />
Aktion nur ein privat-pervertierter<br />
Heldentraum? Wer hätte<br />
ihn zurückhalten können?<br />
Sinnlose Fragen und Mutmaßungen,<br />
findet sein Vater (Georg<br />
Blumreiter), denn Anton<br />
ist tot. Trotzdem geht es vor<br />
allem im ersten Drittel dieser<br />
packenden Inszenierung darum,<br />
wie das eigentlich war in<br />
Afghanistan: Wer hat die Taliban<br />
gezüchtet und unterstützt?<br />
Warum spielten die Amis<br />
wieder Weltpolizei? Wird<br />
deutsche Freiheit wirklich am<br />
Hindukusch verteidigt? Gut<br />
recherchiert, wenn auch sehr<br />
wortlastig tauscht das Spieler-<br />
Kleeblatt Überzeugungen und<br />
Fakten.<br />
Doch erst mal ist Smalltalk<br />
dran: Auf der Bühne eine bürgerliche<br />
Sofa-Sitzgruppe, aus<br />
dem Off ein Intro-Soundtrack<br />
aus Bombeneinschlägen,<br />
Nachrichten-Sprengseln und<br />
Politiker-Statements. Dann<br />
ein Trauermarsch, Beerdigung<br />
vorbei. Jetzt erst mal einen<br />
Cognac... Antons Eltern Bea<br />
(Sybille Denker) und Helmut<br />
(Georg Blumreiter) wirken<br />
gefasst, das befreundete Paar<br />
Sonja (Natalja Althauser) und<br />
Michail (Christian Packbier)<br />
scheint sensibel und zugewandt.<br />
Doch es gibt von Anfang<br />
an nur drei Sitzplätze,<br />
wie bei der Reise nach Jerusalem<br />
ist immer jemand zu viel.<br />
„Ist doch schön mal wieder ein<br />
bisschen Leben in der Bude“,<br />
kommentiert Oberstudienrat<br />
Helmut. Falscher Satz, falscher<br />
Ort, schon ist die Stimmung<br />
im Eimer. Ab da kippt und eskaliert<br />
die Gruppendynamik:<br />
Schuldzuweisungen, Vorwürfe,<br />
Entgleisungen und Abgründe<br />
– wie sich das für ein Psychodrama<br />
gehört.<br />
Schnelle pointierte Dialoge,<br />
sehr souveränes Schauspiel,<br />
vor allem viele überraschende<br />
Regieideen und immer neue<br />
Puzzles-Stücke halten den<br />
Spannungsbogen: Dass die<br />
Ehe zwischen Helmut und Bea<br />
unglücklich ist, wird schnell<br />
klar, doch welche Rolle spielt<br />
da Bea, die als Internistin bei<br />
Ärzten ohne Grenzen Afrika-<br />
Einsatz nach Afrika-Einsatz<br />
absolvierte und ihre kleine Familie<br />
immer wieder verließ?<br />
Warum lauert sie jetzt betrunken<br />
Michail in der Dusche<br />
auf? Warum wurden Helmuts<br />
Lieblingsplatten zerkratzt, sind<br />
die Buchstaben eine Botschaft<br />
Antons aus dem Jenseits? Was<br />
bedeutet, dass Nachhilfelehrerin<br />
Sonja mit Anton geschlafen<br />
hat? Warum ist sie bis heute<br />
kinderlos? Ist sie wirklich das<br />
ideale Paar mit Michail, wie<br />
Helmut behauptet, der wenig<br />
später betrunken und verzweifelt<br />
Sonja fast vergewaltigt?<br />
War Anton religiös? Am Ende<br />
wird er per Videobotschaft aus<br />
dem Camp zu erleben sein.<br />
Es ist das Kaleidoskop einer<br />
Spurensuche, ein Gewirr roter<br />
Fäden ohne Anfang und Ende,<br />
vielschichtig, bewegt und bewegend.<br />
Nicht alles ist logisch,<br />
fesselnd und relevant aber unbedingt.<br />
Chapeau!<br />
Marion Klötzer<br />
Als Paar zusammenleben<br />
ohne verheiratet zu sein? Null<br />
Problem heutzutage. Nicht<br />
so in dem 2005 erstmals auf<br />
Ein turbulenter Spaß<br />
Klassische Screwball-Komödie auf der Alemannischen Bühne<br />
Deutsch (Maria Harpner,<br />
Anatol Preissler) inszenierten<br />
Stück „Job Suey: Kein Dinner<br />
für Sünder“ des Briten Edward<br />
Taylor. Das ist hanebüchen<br />
konstruiert: Haufenweise absurde<br />
Entscheidungen, Zufälle<br />
und Missverständnisse. Dazu<br />
gibt’s schrullige Charaktere in<br />
pikanten Hierarchie-Verwirblungen.<br />
So wird eine klassische<br />
Screwball-Komödie draus:<br />
Schnell, schräg und voller Dialogwitz,<br />
zumal auf der in lindgrüner<br />
Folklore tapezierten<br />
Alemannischen Bühne (Ausstattung:<br />
Alexander Albiker)<br />
sechs ziemlich sinnfreie Türen<br />
für rasante Auf- und Abgänge<br />
sorgen und so das Genre parodieren.<br />
Unter dem Titel „E Ma kunnt<br />
selte ellai“ (in Mundart übertragen<br />
von Lissy Lücke) feierte<br />
das hellwache Laien-Ensemble<br />
jetzt Premiere – ein turbulenter<br />
Spaß auch für das Publikum.<br />
Vor allem weil Hausregisseur<br />
Martin Mayer hier alle Männerrollen<br />
mit Frauen besetzt<br />
und andersrum, was altbackene,<br />
im Original ziemlich dick<br />
aufgetragene Geschlechtsstereotype<br />
aushebelt und für erfrischende<br />
Irritationen sorgt.<br />
So kommt es, dass zwei Business-Frauen<br />
im Wohnzimmer<br />
Scotch kübeln, während sich in<br />
der Küche Männer tummeln,<br />
die alle helfen wollen... – Die<br />
Story ist krude: Tanja Waldhaus<br />
(Sandra Jettkandt) arbeitet<br />
als Führungskraft eines<br />
Börsenunternehmens und erwartet<br />
zum Abendessen ihre<br />
Oberchefin samt Gemahl auf<br />
deren Tour durch „The Länd“.<br />
Klar will Tanja „a richtig gude<br />
idruck mache“. Da gibt’s nur<br />
ein Problem: Hannelore Huppenberger<br />
ist auch Präsidentin<br />
des Vereins gegen moralischen<br />
Frevel und kündigt in ihrer<br />
Belegschaft rigoros allen, die<br />
nicht verheiratet sind. – Wär<br />
im Prinzip kein Ding, nur<br />
macht Tanjas Freund Hendrik<br />
(Martin Maier) statt Hampelmann<br />
die Drama-Queen und<br />
so muss Tanja ganz schnell<br />
einen Ersatz finden, der auch<br />
noch kochen kann.<br />
In ihrer Verzweiflung bleib<br />
nur der Putzmann – mit Joachim<br />
Mast der eigentliche Star<br />
des Abends: Ein schriller Vogel,<br />
der den Schnabel nicht halten<br />
kann, ein Clown mit Chaos-Potential<br />
und den Allüren<br />
eines alternden Rockstars, der<br />
sich seine Show gut bezahlen<br />
lässt. Herrlich! Auf eine verrückte<br />
Art läuft der Abend mit<br />
den Huppenbergers (Neuzugang<br />
Gerlinde Lorenz, Bernd<br />
Geiger) dann erstaunlich gut,<br />
zumal Putzmann Ernst sich<br />
als Naturtalent mit goldenem<br />
Riecher für lukrative Aktienkäufe<br />
zeigt. Leider versagt er<br />
in der Küche komplett und die<br />
Gäste bekommen Cornflakes<br />
mit Wollmäusen zum Aperitif,<br />
während sein Kaugummi<br />
irgendwo im Nudelwasser<br />
schwimmt. Aber dann kommt<br />
nicht nur Hendrik reumütig<br />
zurück um für Tanja den Ehemann<br />
zu mimen, sondern auch<br />
ihr überengagierter Assistent<br />
Torsten (Felix Zapf). Der will<br />
eigentlich Schauspieler werden,<br />
da passt solche Mission<br />
perfekt.<br />
Drei Lovers statt eines braven<br />
Ehemanns, das ist für die<br />
„Madonna der Börse“ ganz<br />
klar Sodom und Gomorrha.<br />
Schon zetert sie was von Skandal,<br />
Unzucht und Kündigung<br />
– aber da hat einer des Trios<br />
noch einen Trumpf in der Tasche...<br />
Gut gemacht, gut gespielt<br />
– lustiges Familienstück!<br />
Jedes Wochenende bis zum<br />
28. Januar, je 20.15 Uhr. Alemannische<br />
Bühne, Freiburg.<br />
Marion Klötzer