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NAchhaltig KULTUR JOKER 27<br />

Voll peinlich – Innenansichten von Auto-Schämikern<br />

Fast 40% aller im letzten Jahr zugelassenen Autos sind Firmenwagen. Da sitzen Leute mit überdurchschnittlichen Gehältern<br />

drin, bekommen oft noch den Sprit von der Firma bezahlt und nutzen den Wagen nach Herzenslust privat. So<br />

spart sich der Arbeitgeber Lohnkosten und die Finanzierung wird über die Steuern auf alle umgelegt. Auch auf die, die<br />

sich gar kein Auto leisten können. Viele Privilegierte machen es sich dann im dicke-Karre-Selbstverständnis bequem<br />

„Stell Dir vor Dich sieht einer,<br />

wie Du einen SUV fährst! Wie<br />

peinlich wäre das denn?“ Uli<br />

krümmt sich vor Fremdscham<br />

bei dem Gedanken. Chrissi<br />

setzt noch einen drauf: “Ich<br />

sehe da nur übergewichtige<br />

alte Kerle einsteigen, weiß gar<br />

nicht, warum die Stadtpanzer<br />

ausgerechnet ‚Sports (!) Utility<br />

Vehicle‘ heißen. Andi rümpft<br />

die Nase: „Persönlichkeitsprothese.“<br />

Und Anja feixt: “Kennt<br />

Ihr eigentlich diese SUV-Karikatur<br />

von Martin Perscheid?<br />

‚Warum sich Gedankenleser<br />

besser keinen Geländewagen<br />

kaufen‘?“ Sie zeigt das Bild<br />

in die Runde und alle stellen<br />

sich unter johlendem Gelächter<br />

vor, wie der Nachbar wohl<br />

gucken würde, wenn man ihm<br />

diese Karikatur hinter den<br />

Scheibenwischer seines Stadtpanzers<br />

klemmen würde. Alle<br />

kannten mindestens einen, der<br />

mit „seinem“ SUV vor dem<br />

Haus riesige Flächen zuparkt<br />

– Dienstwagen-Privileg sei<br />

Dank. „Sonst hätte man sowas<br />

doch gar nicht“. Tatsächlich,<br />

Dienstwagen werden mit bis<br />

zu 57 % ihres Kaufpreises von<br />

der Allgemeinheit subventioniert.<br />

Von allen SUV die auf<br />

unseren Straßen fahren, sind<br />

80% Dienstwagen. „Na klasse,<br />

und ich als Krankenschwester<br />

darf das mitbezahlen!“ ärgert<br />

sich Sarah. Chrissis Fantasie<br />

war noch mit den Potenzialen<br />

der Gedankenleser-Karikatur<br />

beschäftigt: “Stell Dir vor, Du<br />

druckst das Bild total groß aus<br />

und wenn die Beifahrertür regennass<br />

ist, pappst Du das Bild<br />

darauf. Und der Typ wundert<br />

sich an der Ampel, warum die<br />

Leute immer so lachen!“<br />

Lars musste zwar lachen, hatte<br />

aber auch Bedenken. Kann<br />

das funktionieren, dass man<br />

Leute so dazu bringt, den eigenen<br />

Überkonsum zu überdenken?<br />

Oder löst man nur Trotz<br />

aus? Das Für und Wider von<br />

Sekundenkleber und Tomatensuppe<br />

im Museum wurde<br />

diskutiert. Den Aufschrei der<br />

Kultivierten hatten alle mitbekommen,<br />

auch derer, die noch<br />

nie ein Museum von innen gesehen<br />

hatten. Von den anderthalb<br />

Millionen Kindern, die<br />

im selben Moment in Nigeria<br />

durch die Klimakrisen verschärften<br />

Überschwemmungen<br />

durch Ertrinken, Krankheit und<br />

Hunger bedroht sind, hatten die<br />

meisten gar nichts mitbekommen.<br />

Eine Randnotiz.<br />

Wie holt man Leute aus der<br />

Komfortzone? Nett sein oder<br />

provokant? Wie war man selbst<br />

früher drauf? Welchen Irrsinn<br />

fanden wir früher „normal“?<br />

Chrissi erinnert sich: als ein<br />

Freund vor Jahren Autos als<br />

„Tötungsmaschinen“ bezeichnet<br />

hat, fand sie das völlig unangemessen,<br />

obwohl jährlich<br />

Tausende im Verkehr verletzt<br />

oder getötet werden. In Holland<br />

begehrten die Eltern auf, bei der<br />

Aktion „Stop de Kindermoord“<br />

wurden in den 1970-ern Autos<br />

buchstäblich auf den Kopf<br />

© Perscheid aus "Der fette Perscheid", Lappan Verlag<br />

gestellt, Holland wurde zum<br />

Fahrradland. In Deutschland<br />

blieb Verkehrstod ‚normal‘.<br />

Chrissi fand das damals völlig<br />

normal, mit der ganzen Familie<br />

Thommy Gottschalk dabei zuzusehen,<br />

wie er samstagabends<br />

freudentrunkenen Wettkönigen<br />

dicke Autos schenken durfte.<br />

Von Greenwash und exakt<br />

festgelegten PR-Drehbüchern<br />

für Auto-Schleichwerbung<br />

im Fernsehen hatte sie noch<br />

nichts gehört. Auch Andi fällt<br />

erst jetzt auf: „Unser Sohn hat<br />

als Teeny mal gesagt, wenn er<br />

groß wäre, würde er ein rotes<br />

Cabrio fahren. Signalrot! Warum<br />

nur?“ Und selbst Anja, die<br />

Öko-Überzeugungstäterin par<br />

excellence gesteht: “Stimmt,<br />

jetzt wo Ihr es sagt: lange bevor<br />

ich den Führerschein gemacht<br />

habe, sah ich mich als Fahrerin<br />

eines offenen Jeeps. So eine Art<br />

Paula Tracey aus Daktari. Mit<br />

Sonne, Wind und Natur drum<br />

herum.“ Sie musste lachen „Ich<br />

weiß gar nicht, wo in unserer<br />

Stadt das hätte sein sollen!“ Die<br />

Jungs wollten im Auto so aussehen<br />

wie Knight Rider, Magnum<br />

oder Starsky und Hutch. Und in<br />

der Grundschule prahlte man<br />

mit der Automarke vom Papa.<br />

Uli musste sich immer rechtfertigen,<br />

weil der Papa gar kein<br />

Auto hatte und sie mit dem Zug<br />

in den Urlaub fuhren. Geizhals,<br />

klarer Fall!<br />

Emotional aufgeladen –<br />

Blech auf Rädern<br />

Aber wann genau hat der<br />

Verstand eingesetzt? Welcher<br />

Schalter im Kopf musste umgelegt<br />

werden, damit Sätze wie<br />

„Stell Dir vor, wie sie guckt,<br />

wenn Du mit einem …..* vorfährst!“<br />

einfach nicht mehr<br />

funktionieren? Anja outet sich:<br />

„Sind wirklich schon alle Hebel<br />

von emotional auf rational<br />

umgelegt? Wir haben noch vor<br />

kurzem über diesen ätzenden<br />

Hochstapler gelästert. Romeo,<br />

der erst protzig mit seinem Alfa<br />

rumfuhr und nach seiner Insolvenz<br />

- ätsch, voll peinlich - mit<br />

„Putzfrauenauto“ gesehen wurde.<br />

Versteht mich nicht falsch,<br />

für den Betrüger Romeo freut’s<br />

mich. Aber wieso funktioniert<br />

ein Wort wie „Putzfrauenauto“,<br />

obwohl es auf so vielen Ebenen<br />

falsch ist? Wer regiert so erfolgreich<br />

in unseren Gehirnzellen,<br />

dass wir das eine kleine Auto<br />

naserümpfend abwerten, während<br />

das andere kleine Auto,<br />

sagen wir ein R4 oder eine<br />

Ente, uns dazu bringt, verklärt<br />

zu grinsen? Sag mal ‚Revolverschaltung‘<br />

zu nem Boomer<br />

und der weint sofort Freudentränen.“<br />

Die Macht des positiven<br />

Feedbacks<br />

Und warum fallen uns so viele<br />

provokante Aktionen ein, um<br />

Menschen aus ihren gewohnten<br />

Denkmustern zu schubsen? Da<br />

wusste Marco eine Geschichte<br />

zu erzählen. Er hatte kürzlich<br />

seine Tochter besucht, die in<br />

London studiert. Ihr zuliebe<br />

war er nicht geflogen, sondern<br />

hatte den Zug genommen. Die<br />

Klimadebatten mit ihr waren<br />

anstrengend, er wollte sich nicht<br />

auch noch bei diesem kurzen<br />

Besuch streiten müssen. Sie<br />

hatte sich längst so viele Fakten<br />

draufgeschafft, da zog er sowieso<br />

immer den Kürzeren. Als er<br />

in London, St Pancras, aus dem<br />

Eurostar stieg, lächelte ihn eine<br />

junge Frau an. Sie hielt ihm einen<br />

kleinen Zettel hin, den er<br />

neugierig annahm, wie alle anderen<br />

Fahrgäste vor ihm in der<br />

Schlange. “Thank you for not<br />

flying!” sagte sie freundlich.<br />

„Danke, dass Sie nicht geflogen<br />

sind. Wenn Sie auf dieser<br />

Strecke mit der Bahn fahren,<br />

sparen Sie 96 % Ihrer Emissionen<br />

ein“ stand darauf. „Da<br />

kannst Du gar nicht anders, Du<br />

musst auch lächeln.“ schildert<br />

Marco. „Und das fühlte sich<br />

gut an, dieses ‚auf der richtigen<br />

Seite der Geschichte stehen‘.<br />

Ich habe das auch sofort meiner<br />

Tochter erzählt. Und jetzt<br />

frage ich mich natürlich, wie<br />

viele in der Schlange genauso<br />

gefühlt haben. Die haben alle<br />

zurückgelächelt und alle haben<br />

den Zettel angenommen.“<br />

Die Autorin, die die Geschichte<br />

nicht völlig frei erfunden<br />

hat, erinnert sich auch an<br />

diese Momente in ihrem Job –<br />

irgendwas mit Ökostrom – als<br />

die Energiewende brummte<br />

und alle Welt die Arbeit und<br />

das Engagement der gesamten<br />

deutschen Energiewende-Szene<br />

fantastisch fand. Himmel<br />

war das damals toll, qua Amt<br />

Everybodys Darling zu sein!<br />

Das müsste doch wieder hinzukriegen<br />

sein. Wir können<br />

doch auch den Aktiven beim<br />

Klimacamp einfach mal den<br />

ausgestreckten Daumen zeigen<br />

und ihnen zurufen “Toll, dass<br />

Ihr da seid!“ Schließlich wollen<br />

wir doch, dass immer mehr<br />

Menschen mitmachen und sich<br />

gerne engagieren. Sich gut dabei<br />

fühlen.<br />

Eva Stegen

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