flip-Joker_2022-11
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NAchhaltig KULTUR JOKER 27<br />
Voll peinlich – Innenansichten von Auto-Schämikern<br />
Fast 40% aller im letzten Jahr zugelassenen Autos sind Firmenwagen. Da sitzen Leute mit überdurchschnittlichen Gehältern<br />
drin, bekommen oft noch den Sprit von der Firma bezahlt und nutzen den Wagen nach Herzenslust privat. So<br />
spart sich der Arbeitgeber Lohnkosten und die Finanzierung wird über die Steuern auf alle umgelegt. Auch auf die, die<br />
sich gar kein Auto leisten können. Viele Privilegierte machen es sich dann im dicke-Karre-Selbstverständnis bequem<br />
„Stell Dir vor Dich sieht einer,<br />
wie Du einen SUV fährst! Wie<br />
peinlich wäre das denn?“ Uli<br />
krümmt sich vor Fremdscham<br />
bei dem Gedanken. Chrissi<br />
setzt noch einen drauf: “Ich<br />
sehe da nur übergewichtige<br />
alte Kerle einsteigen, weiß gar<br />
nicht, warum die Stadtpanzer<br />
ausgerechnet ‚Sports (!) Utility<br />
Vehicle‘ heißen. Andi rümpft<br />
die Nase: „Persönlichkeitsprothese.“<br />
Und Anja feixt: “Kennt<br />
Ihr eigentlich diese SUV-Karikatur<br />
von Martin Perscheid?<br />
‚Warum sich Gedankenleser<br />
besser keinen Geländewagen<br />
kaufen‘?“ Sie zeigt das Bild<br />
in die Runde und alle stellen<br />
sich unter johlendem Gelächter<br />
vor, wie der Nachbar wohl<br />
gucken würde, wenn man ihm<br />
diese Karikatur hinter den<br />
Scheibenwischer seines Stadtpanzers<br />
klemmen würde. Alle<br />
kannten mindestens einen, der<br />
mit „seinem“ SUV vor dem<br />
Haus riesige Flächen zuparkt<br />
– Dienstwagen-Privileg sei<br />
Dank. „Sonst hätte man sowas<br />
doch gar nicht“. Tatsächlich,<br />
Dienstwagen werden mit bis<br />
zu 57 % ihres Kaufpreises von<br />
der Allgemeinheit subventioniert.<br />
Von allen SUV die auf<br />
unseren Straßen fahren, sind<br />
80% Dienstwagen. „Na klasse,<br />
und ich als Krankenschwester<br />
darf das mitbezahlen!“ ärgert<br />
sich Sarah. Chrissis Fantasie<br />
war noch mit den Potenzialen<br />
der Gedankenleser-Karikatur<br />
beschäftigt: “Stell Dir vor, Du<br />
druckst das Bild total groß aus<br />
und wenn die Beifahrertür regennass<br />
ist, pappst Du das Bild<br />
darauf. Und der Typ wundert<br />
sich an der Ampel, warum die<br />
Leute immer so lachen!“<br />
Lars musste zwar lachen, hatte<br />
aber auch Bedenken. Kann<br />
das funktionieren, dass man<br />
Leute so dazu bringt, den eigenen<br />
Überkonsum zu überdenken?<br />
Oder löst man nur Trotz<br />
aus? Das Für und Wider von<br />
Sekundenkleber und Tomatensuppe<br />
im Museum wurde<br />
diskutiert. Den Aufschrei der<br />
Kultivierten hatten alle mitbekommen,<br />
auch derer, die noch<br />
nie ein Museum von innen gesehen<br />
hatten. Von den anderthalb<br />
Millionen Kindern, die<br />
im selben Moment in Nigeria<br />
durch die Klimakrisen verschärften<br />
Überschwemmungen<br />
durch Ertrinken, Krankheit und<br />
Hunger bedroht sind, hatten die<br />
meisten gar nichts mitbekommen.<br />
Eine Randnotiz.<br />
Wie holt man Leute aus der<br />
Komfortzone? Nett sein oder<br />
provokant? Wie war man selbst<br />
früher drauf? Welchen Irrsinn<br />
fanden wir früher „normal“?<br />
Chrissi erinnert sich: als ein<br />
Freund vor Jahren Autos als<br />
„Tötungsmaschinen“ bezeichnet<br />
hat, fand sie das völlig unangemessen,<br />
obwohl jährlich<br />
Tausende im Verkehr verletzt<br />
oder getötet werden. In Holland<br />
begehrten die Eltern auf, bei der<br />
Aktion „Stop de Kindermoord“<br />
wurden in den 1970-ern Autos<br />
buchstäblich auf den Kopf<br />
© Perscheid aus "Der fette Perscheid", Lappan Verlag<br />
gestellt, Holland wurde zum<br />
Fahrradland. In Deutschland<br />
blieb Verkehrstod ‚normal‘.<br />
Chrissi fand das damals völlig<br />
normal, mit der ganzen Familie<br />
Thommy Gottschalk dabei zuzusehen,<br />
wie er samstagabends<br />
freudentrunkenen Wettkönigen<br />
dicke Autos schenken durfte.<br />
Von Greenwash und exakt<br />
festgelegten PR-Drehbüchern<br />
für Auto-Schleichwerbung<br />
im Fernsehen hatte sie noch<br />
nichts gehört. Auch Andi fällt<br />
erst jetzt auf: „Unser Sohn hat<br />
als Teeny mal gesagt, wenn er<br />
groß wäre, würde er ein rotes<br />
Cabrio fahren. Signalrot! Warum<br />
nur?“ Und selbst Anja, die<br />
Öko-Überzeugungstäterin par<br />
excellence gesteht: “Stimmt,<br />
jetzt wo Ihr es sagt: lange bevor<br />
ich den Führerschein gemacht<br />
habe, sah ich mich als Fahrerin<br />
eines offenen Jeeps. So eine Art<br />
Paula Tracey aus Daktari. Mit<br />
Sonne, Wind und Natur drum<br />
herum.“ Sie musste lachen „Ich<br />
weiß gar nicht, wo in unserer<br />
Stadt das hätte sein sollen!“ Die<br />
Jungs wollten im Auto so aussehen<br />
wie Knight Rider, Magnum<br />
oder Starsky und Hutch. Und in<br />
der Grundschule prahlte man<br />
mit der Automarke vom Papa.<br />
Uli musste sich immer rechtfertigen,<br />
weil der Papa gar kein<br />
Auto hatte und sie mit dem Zug<br />
in den Urlaub fuhren. Geizhals,<br />
klarer Fall!<br />
Emotional aufgeladen –<br />
Blech auf Rädern<br />
Aber wann genau hat der<br />
Verstand eingesetzt? Welcher<br />
Schalter im Kopf musste umgelegt<br />
werden, damit Sätze wie<br />
„Stell Dir vor, wie sie guckt,<br />
wenn Du mit einem …..* vorfährst!“<br />
einfach nicht mehr<br />
funktionieren? Anja outet sich:<br />
„Sind wirklich schon alle Hebel<br />
von emotional auf rational<br />
umgelegt? Wir haben noch vor<br />
kurzem über diesen ätzenden<br />
Hochstapler gelästert. Romeo,<br />
der erst protzig mit seinem Alfa<br />
rumfuhr und nach seiner Insolvenz<br />
- ätsch, voll peinlich - mit<br />
„Putzfrauenauto“ gesehen wurde.<br />
Versteht mich nicht falsch,<br />
für den Betrüger Romeo freut’s<br />
mich. Aber wieso funktioniert<br />
ein Wort wie „Putzfrauenauto“,<br />
obwohl es auf so vielen Ebenen<br />
falsch ist? Wer regiert so erfolgreich<br />
in unseren Gehirnzellen,<br />
dass wir das eine kleine Auto<br />
naserümpfend abwerten, während<br />
das andere kleine Auto,<br />
sagen wir ein R4 oder eine<br />
Ente, uns dazu bringt, verklärt<br />
zu grinsen? Sag mal ‚Revolverschaltung‘<br />
zu nem Boomer<br />
und der weint sofort Freudentränen.“<br />
Die Macht des positiven<br />
Feedbacks<br />
Und warum fallen uns so viele<br />
provokante Aktionen ein, um<br />
Menschen aus ihren gewohnten<br />
Denkmustern zu schubsen? Da<br />
wusste Marco eine Geschichte<br />
zu erzählen. Er hatte kürzlich<br />
seine Tochter besucht, die in<br />
London studiert. Ihr zuliebe<br />
war er nicht geflogen, sondern<br />
hatte den Zug genommen. Die<br />
Klimadebatten mit ihr waren<br />
anstrengend, er wollte sich nicht<br />
auch noch bei diesem kurzen<br />
Besuch streiten müssen. Sie<br />
hatte sich längst so viele Fakten<br />
draufgeschafft, da zog er sowieso<br />
immer den Kürzeren. Als er<br />
in London, St Pancras, aus dem<br />
Eurostar stieg, lächelte ihn eine<br />
junge Frau an. Sie hielt ihm einen<br />
kleinen Zettel hin, den er<br />
neugierig annahm, wie alle anderen<br />
Fahrgäste vor ihm in der<br />
Schlange. “Thank you for not<br />
flying!” sagte sie freundlich.<br />
„Danke, dass Sie nicht geflogen<br />
sind. Wenn Sie auf dieser<br />
Strecke mit der Bahn fahren,<br />
sparen Sie 96 % Ihrer Emissionen<br />
ein“ stand darauf. „Da<br />
kannst Du gar nicht anders, Du<br />
musst auch lächeln.“ schildert<br />
Marco. „Und das fühlte sich<br />
gut an, dieses ‚auf der richtigen<br />
Seite der Geschichte stehen‘.<br />
Ich habe das auch sofort meiner<br />
Tochter erzählt. Und jetzt<br />
frage ich mich natürlich, wie<br />
viele in der Schlange genauso<br />
gefühlt haben. Die haben alle<br />
zurückgelächelt und alle haben<br />
den Zettel angenommen.“<br />
Die Autorin, die die Geschichte<br />
nicht völlig frei erfunden<br />
hat, erinnert sich auch an<br />
diese Momente in ihrem Job –<br />
irgendwas mit Ökostrom – als<br />
die Energiewende brummte<br />
und alle Welt die Arbeit und<br />
das Engagement der gesamten<br />
deutschen Energiewende-Szene<br />
fantastisch fand. Himmel<br />
war das damals toll, qua Amt<br />
Everybodys Darling zu sein!<br />
Das müsste doch wieder hinzukriegen<br />
sein. Wir können<br />
doch auch den Aktiven beim<br />
Klimacamp einfach mal den<br />
ausgestreckten Daumen zeigen<br />
und ihnen zurufen “Toll, dass<br />
Ihr da seid!“ Schließlich wollen<br />
wir doch, dass immer mehr<br />
Menschen mitmachen und sich<br />
gerne engagieren. Sich gut dabei<br />
fühlen.<br />
Eva Stegen