flip-Joker_2022-11
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KUNST KULTUR JOKER 17<br />
Einblick in Grauzonen<br />
Das Kunstmuseum Basel beleuchtet mit der Schau „Zerrissene Moderne“ die schwierige Seite der eigenen<br />
Sammlungsgeschichte<br />
Pablo Picasso: „La Famille Soler“, 1903, Öl auf Leinwand<br />
© Succession Picasso / ProLitteris, Zürich<br />
Marc Chagall: „Winter“, 19<strong>11</strong>/1912, Aquarell und Deckfarbe auf Pappe<br />
© ProLitteris, Zürich<br />
Die Entscheidung war nicht<br />
unumstritten. Doch sie fiel.<br />
Joseph Gantner, Mitglied der<br />
Basler Kunstkommission,<br />
nannte das Ganze eine „masslose<br />
Schweinerei“, wie es jetzt<br />
in der Ausstellung „Zerrissene<br />
Moderne“ nachzulesen ist. Der<br />
Kunsthistoriker und Dozent<br />
war 1933 aus Frankfurt in die<br />
Schweiz zurückgekehrt, nachdem<br />
sich die Nationalsozialisten<br />
zunehmend in die Belange seiner<br />
Arbeitsstätte, der Frankfurter<br />
Kunstakademie, eingemischt<br />
hatten. Worüber die Kunstkommission<br />
1939 derart temperamentvoll<br />
diskutierte, war der<br />
Ankauf mehrere Kunstwerke<br />
aus der Beschlagnahme „Entartete<br />
Kunst“. Es ging einerseits<br />
um einen Sonderkredit der<br />
Basler Regierung über 50.000<br />
Franken, andererseits um die<br />
grundsätzliche Ausrichtung<br />
Elfriede Lohse-<br />
Wächtler: „Lissy“,<br />
1931, Bleistift<br />
und Aquarell<br />
auf Papier<br />
© Privatsammlung<br />
Städel Museum<br />
Frankfurt am Main<br />
des Kunstmuseum Basel, um<br />
eine Abwägung zwischen einer<br />
als „norddeutsch“ wahrgenommenen<br />
und der französischen<br />
Kunst. Und ein bisschen auch<br />
um Moral. Paul Westheim, renommierter<br />
Kunstkritiker, Autor<br />
und Jude, zeigte noch einen<br />
anderen Weg auf: die Museen<br />
hätten auch bei den Künstlern<br />
und Galeristen im Exil Werke<br />
kaufen können und so diese<br />
und nicht etwa die Rüstungsindustrie<br />
der Nationalsozialisten<br />
unterstützen können. Denn für<br />
manche ging es um Bilder, für<br />
andere um Leben.<br />
Georg Schmidt, 1939 frisch<br />
auf dem Direktorenposten des<br />
Kunstmuseums Basel, war von<br />
einem robusten Pragmatismus<br />
geleitet. Schon sein Vorgänger<br />
Otto Fischer war an Ankäufen<br />
von 1937 für „entartet“ erklärten<br />
Werken des deutschen Expressionismus<br />
interessiert. Schmidt<br />
hatte viele weiße Wände<br />
im Neubau des Kunstmuseums<br />
Basel und ihm bot sich mit der<br />
Versteigerung „Moderne Meister<br />
aus deutschen Museen“ bei<br />
der Luzerner Galerie Fischer<br />
eine wohl historische Gelegenheit.<br />
Hätte er sich anders<br />
entschieden, wäre das Kunstmuseum<br />
Basel heute ein anderes.<br />
Seitdem gehören Franz<br />
Marcs „Tierschicksale“ ebenso<br />
zur Sammlung wie Paul Klees<br />
„Villa R“, Marc Chagalls „Die<br />
Prise. Rabbiner“ oder Otto<br />
Dix‘ „Bildnis der Eltern“. Im<br />
Kunstmuseum Basel machte<br />
man noch mehr – wie die Ausstellung<br />
„Zerrissene Moderne“<br />
zeigt. Man ließ sich aus dem<br />
Depot in Berlin-Schönhausen<br />
Werke zur Ansicht nach Basel<br />
liefern. Zwei derjenigen, die<br />
nach Deutschland zurückgesandt<br />
wurden, sind verschollen.<br />
Doch seit dem Debakel um<br />
die Sammlung Bührle in Zürich,<br />
ist die Gewissheit, dass<br />
die Bilder durch den Basler<br />
Ankauf gerettet wurden, in der<br />
Schweiz ziemlich getrübt. Am<br />
Kunstmuseum Basel hat man<br />
dieses düstere Kapitel der eigenen<br />
Sammlungsgeschichte mit<br />
größter Sorgfalt aufgearbeitet.<br />
Neben den Werken, deren Provenienz<br />
lückenlos belegt wird,<br />
sind viele Dokumente zu sehen,<br />
unter anderem die sogenannte<br />
Harry-Fischer-Liste, in der auf<br />
482 Seiten 16.558 aus deutschen<br />
Museen beschlagnahmte<br />
Werke aufgeführt werden, aber<br />
auch den Luzerner Auktionskatalog<br />
mit Bemerkungen von<br />
Georg Schmidt. Der Kunstmuseumsdirektor<br />
war gut vorbereitet,<br />
noch vor der Auktion<br />
war er nach Berlin gereist, um<br />
zu schauen, welche Arbeiten<br />
für einen Ankauf in Frage kamen.<br />
Schmidt korrespondierte<br />
im April 1939 mit zwei der vier<br />
Kunsthändler, die vom Propagandaministerium<br />
beauftragt<br />
waren: Karl Buchholz und Hildebrand<br />
Gurlitt. Über Gurlitt<br />
kam etwa der Kauf von Marcs<br />
„Tierschicksale“ zustande. Die<br />
Schau zeigt aber auch, welche<br />
Verbreitung der Expressionismus<br />
und die Moderne in europäischen<br />
und amerikanischen<br />
Museen durch den Verkauf<br />
„verwertbarer“ Kunst durch die<br />
Nazis fanden. Und dass in der<br />
Nachkriegszeit Künstlerinnen<br />
und Künstler wie Conrad Felixmüller,<br />
Jeanne Mammen und<br />
Jankel Adler erst langsam rezipiert<br />
wurden. Die Klassifikation<br />
der Nationalsozialisten in „verwertbare“<br />
und „nicht verwertbare“<br />
Kunst hatte einen langen<br />
Effekt.<br />
Tatsächlich gibt die Schau<br />
„Zerrissene Moderne“ einen<br />
18.<strong>11</strong>.<strong>2022</strong> – 14.1.2023<br />
Einblick in viele Grauzonen.<br />
Eine gehört zu Ernst Barlachs<br />
Bronzeskulptur „Schwebender<br />
Engel“ von 1927, die 1937 aussortiert<br />
und 1941 eingeschmolzen<br />
wurde. Nicht nur schwor<br />
Barlach Hitler 1934 im „Aufruf<br />
der Kulturschaffenden“ Treue,<br />
sondern der Freund, der 1939<br />
heimlich einen Abguss vom<br />
Gipsmodell nahm, war Bernhard<br />
A. Böhmer, einer der<br />
Kunsthändler, die am Geschäft<br />
der Nazis mit der Kunst beteiligt<br />
war. Die Werke sind in der Ausstellung<br />
immer auch Objekte<br />
der Geschichte.<br />
Zerrissene Moderne. Die Basler<br />
Ankäufe „entarteter“ Kunst.<br />
Kunstmuseum Basel, St. Alban-<br />
Graben 16, Basel. Di-So 10-18<br />
Uhr, Mi 10-20 Uhr. Bis 19. Februar<br />
2023.<br />
Annette Hoffmann<br />
GALERIE ALBERT BAUMGARTEN<br />
Freiburg • Kartäuserstraße 32<br />
Di–Fr 15–19Uhr / Sa <strong>11</strong>–14Uhr<br />
www.galerie-baumgarten.de