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Pflege<br />

Zeitung <strong>November</strong> <strong>2022</strong><br />

7<br />

Ein Pflegelohn gegen das Armutsrisiko<br />

Aktuelle VdK-Studie: 73 Prozent der pflegenden Angehörigen müssen bei Dienstleistungen dazubezahlen<br />

Jeder fünfte pflegende Angehörige<br />

ist armutsgefährdet, unter den<br />

pflegenden Frauen ist es sogar<br />

jede Vierte. Das geht aus der vom<br />

Sozialverband VdK in Auftrag gegebenen<br />

Studie des Deutschen<br />

Instituts für Wirtschaftsforschung<br />

Berlin (DIW Berlin) hervor. Der VdK<br />

fordert einen Lohn für pflegende<br />

Angehörige, um das hohe Armutsrisiko<br />

in dieser Personengruppe zu<br />

senken.<br />

Seit 2004 pflegt VdK-Mitglied<br />

Regina Specht* aus Gießen ihren<br />

Mann, der nach einem Schlaganfall<br />

halbseitig gelähmt ist, zu Hause.<br />

Ihr ernüchterndes Resümee<br />

nach über 18 Jahren als pflegende<br />

Angehörige: „Der Staat behandelt<br />

mich, als hätte ich nie gepflegt.<br />

Obwohl ich die Pflege meines<br />

Mannes und zwischenzeitlich<br />

auch die meiner Mutter alleine<br />

bewältige, erhalte ich für die Pflege<br />

keine Rentenpunkte.“ Die dazu<br />

notwendigen Voraussetzungen hat<br />

sie nicht erfüllt.<br />

Armutsrisiko Pflege<br />

Ein weiteres finanzielles Thema<br />

bewegt die 61-Jährige, die aufgrund<br />

der jahrelangen Doppelbelastung<br />

aus Pflege und Beruf mittlerweile<br />

arbeitsunfähig ist: „Das<br />

Pflegegeld meines Mannes hat nie<br />

für die Pflegezusatzkosten ausgereicht.<br />

Ich musste immer aus meinem<br />

Gehalt Geld zuschießen.“<br />

Die Ergebnisse einer Studie, die<br />

die Hochschule Osnabrück auf<br />

Basis einer Online-Befragung unter<br />

56 000 VdK-Mitgliedern zum<br />

Thema der häuslichen Pflege<br />

durchgeführt hat, bestätigen solche<br />

Mit Plakaten mit gealterten Politikern (hier Gesundheitsminister Karl<br />

Lauterbach) macht der VdK Deutschland im Berliner Regierungsviertel<br />

auf seine Nächstenpflege-Kampagne aufmerksam.<br />

persönlichen Eindrücke: 73 Prozent<br />

der befragten Pflegehaushalte<br />

geben an, dass sie zu den Pflegeleistungen<br />

dazubezahlen müssen.<br />

Über 50 Prozent der Befragten<br />

sagen, Dienstleistungen wie den<br />

Pflegedienst, die Tages-, Verhinderungs-<br />

oder Kurzzeitpflege nicht in<br />

Anspruch zu nehmen, weil sie zu<br />

viel dazuzahlen müssten.<br />

Solche Überlegungen und Rechnungen<br />

kennt VdK-Mitglied Karin<br />

Köstner aus Franken leider nur zu<br />

gut. Auf den Euro genau rechnet<br />

sie vor, in welchem Umfang sie für<br />

die häusliche Pflege ihres bettlägerigen<br />

Mannes selbst aufkommen<br />

muss. „Jeden Monat zahle ich auch<br />

bei den Hilfsmitteln dazu: so um<br />

die 35 Euro, um zwei bis drei Packungen<br />

Windeln, meinen Mehrbedarf<br />

an Handschuhen und Unterlagen<br />

zu decken.“<br />

Eine zwei wöchige Kurzzeitpflege<br />

für ihren Mann kann sie nur in<br />

Anspruch nehmen, wenn sie die<br />

monat lichen Entlastungsbeiträge<br />

bündelt, um sich die 900 Euro<br />

Zuzahlung überhaupt leisten zu<br />

können.<br />

Pflegende als Angestellte<br />

Der VdK fordert einen Lohn für<br />

die pflegenden Angehörigen. Der<br />

oft jahrelange Einsatz in der<br />

Nächstenpflege muss endlich besser<br />

anerkannt werden.<br />

Dieser Lohn soll sich nach dem<br />

Pflegegrad des Pflegebedürftigen<br />

und damit nach dem tatsächlichen<br />

Arbeitsaufwand richten. Nach<br />

Foto: Reinhardt & Sommer Fotografen<br />

Berechnungen des DIW Berlin<br />

würde ein solcher Lohn insbesondere<br />

Frauen, die bereits ihre Wochenarbeitszeit<br />

reduziert oder ihren<br />

Job ganz aufgegeben haben,<br />

helfen. Auch jüngere Pflegende<br />

unter 65 Jahren sowie Eltern von<br />

pflegebedürftigen Kindern würden<br />

profitieren. Die Armutsgefährdungsquote<br />

dieser Personengruppen<br />

könne auf diese Weise am<br />

wirkungsvollsten gesenkt werden,<br />

so das DIW Berlin.<br />

Erste Erfahrungen mit einem<br />

Pflegelohn wurden bereits im österreichischen<br />

Burgenland gesammelt.<br />

Hier sind pflegende Angehörige<br />

bei der Kommune angestellt,<br />

im Rahmen einer öffentlich geförderten<br />

Beschäftigung wird ihnen<br />

ein Basislohn gezahlt. Innerhalb<br />

der Pflegezeit müssen sie eine Fortbildung<br />

machen und Supervision<br />

in Anspruch nehmen. So soll die<br />

Qualität in der Nächstenpflege<br />

gesichert werden. Die Pflegenden<br />

sind über diese Anstellung hinaus<br />

sozialversichert. So wird das enorme<br />

Armutsrisiko für die Pflegenden<br />

gesenkt.<br />

Zurzeit liegt das durchschnittliche<br />

Einkommen in Deutschland<br />

bei rund 2053 Euro pro Haushalt.<br />

In Pflegehaushalten stehen nur<br />

1821 Euro zur Verfügung. Pflegende<br />

Frauen verfügen sogar über<br />

rund 100 Euro weniger.<br />

Sigrid Hahn aus dem Kreis<br />

Eschwege kümmert sich um ihre<br />

22-jährige behinderte Tochter und<br />

um ihren pflegebedürftigen Vater.<br />

Sie berichtet: „Finanziell schlagen<br />

wir uns so durch. Die Zuzahlungen<br />

für die Pflege sind für mich<br />

nicht einfach zu stemmen. Wenn<br />

ich mehr Geld zur Verfügung hätte,<br />

würde ich mehr Angebote für<br />

meine eigene Entlastung in Anspruch<br />

nehmen.“ Julia Frediani<br />

*Name von der Redaktion geändert<br />

Nach Berechnungen des DIW Berlin kann ein Pflegelohn das Armutsrisiko<br />

erheblich reduzieren (Angaben in Prozent).<br />

Grafik: VdK<br />

„Unsere Mitglieder haben hohen Druck“<br />

Lebhafte Diskussion zur VdK-Forderung nach einem Pflegelohn für die Nächstenpflege<br />

Um die häusliche Pflege zu stärken,<br />

will der Sozialverband VdK<br />

einen Pflegelohn für pflegende<br />

Angehörige. Wie stehen die Parteien<br />

in Berlin zu dieser Forderung?<br />

Dazu diskutierten Vertreterinnen<br />

und Vertreter von SPD, Bündnis 90/<br />

Die Grünen, CDU und der Linken.<br />

Menschen, die zu Hause gepflegt<br />

werden, und ihre Angehörigen<br />

spielen öffentlich kaum eine Rolle.<br />

Die Anerkennung für Nächstenpflege<br />

ist in der Politik zwar<br />

grundsätzlich groß, wird aber wenig<br />

konkret. VdK-Präsidentin Verena<br />

Bentele forderte „Lohn statt<br />

Beifall“ in einer Diskussionsrunde,<br />

zu der der VdK im Anschluss an<br />

die Präsentation der Zahlen des<br />

DIW und der VdK-Pflegestudie<br />

Ende September (siehe Artikel<br />

oben) eingeladen hatte.<br />

Die Bundestagsabgeordneten<br />

Erik von Malottki (SPD), Kordula<br />

Schulz-Asche (Bündnis 90/Die<br />

Grünen), Dr. Hermann-Josef Tebroke<br />

(CDU) und Kathrin Vogler<br />

(Die Linke) waren der VdK-Einladung<br />

gefolgt. Dr. Ines Verspohl,<br />

Leiterin der VdK-Abteilung Sozialpolitik,<br />

leitete die Diskussion.<br />

Kordula Schulz-Asche zeigte<br />

sich von den Ergebnissen der<br />

VdK-Pflegestudie beeindruckt:<br />

„Wir brauchen einen Schutzschirm<br />

Moderiert von Dr. Ines Verspohl, Leiterin der VdK-Abteilung Sozialpolitik (rechts), diskutierten in Berlin: (von<br />

links) Dr. Hermann-Josef Tebroke (CDU), Kordula Schulz-Asche (Bündnis 90/Die Grünen), VdK-Präsidentin Verena<br />

Bentele, Erik von Malottki (SPD) und Kathrin Vogler (Die Linke). <br />

Foto: Reinhardt & Sommer Fotografen<br />

für pflegende Angehörige. Wir wissen<br />

aber viel zu wenig über diese<br />

Gruppe. Was wir wissen: Sie brauchen<br />

mehr Unterstützung.“ Sie<br />

bedauerte, dass auch der Koalitionsvertrag<br />

an dieser Stelle zu wenig<br />

Ziele nennt.<br />

Dr. Hermann-Josef Tebroke sagte,<br />

dass die Pflegedebatte viel zu<br />

stark an der stationären Pflege<br />

ausgerichtet ist. „Es muss Verbesserungen<br />

innerhalb des Systems<br />

geben, zum Beispiel mehr Pflegegeld.“<br />

Ein Modell wie den vom<br />

VdK vorgeschlagenen Pflegelohn<br />

lehnte er ab. Es dürfe nicht „zu viel<br />

Staat“ geben. Stattdessen müsse<br />

mehr Unterstützung, etwa im Ehrenamt,<br />

geschaffen werden. Er<br />

sieht zudem das sensible familiäre<br />

Gefüge gefährdet, wenn Nächstenpflege<br />

„kommerzialisiert“ wird,<br />

also zum Job, der bezahlt wird.<br />

„Es ist Wahnsinn, was diese<br />

Menschen leisten“, sagte Erik von<br />

Malottki im Hinblick auf die Ergebnisse<br />

der VdK-Pflegestudie. Die<br />

Last dürfe nicht einfach bei den<br />

Familien hängen bleiben. „Es ist<br />

eine staatliche Aufgabe, alles zu<br />

tun, um die persönlichen und gesellschaftlichen<br />

Folgeschäden<br />

durch die hohe Belastung zu vermeiden.“<br />

Kathrin Vogler stimmt der<br />

VdK-Forderung nach einem Pflegegehalt<br />

zu: „Das schafft Zuverlässigkeit.“<br />

In einem ersten Schritt<br />

müsse es aber erst einmal den<br />

überfälligen Inflationsausgleich<br />

beim Pflegegeld geben.<br />

Doch ob das Pflegegeld, das den<br />

Pflegebedürftigen zusteht, an die<br />

Angehörigen weitergegeben wird,<br />

liegt im eigenen Ermessen, so der<br />

Einwand von Verena Bentele. Ein<br />

Pflegelohn käme zuverlässig bei<br />

den Angehörigen an. Die Kommunen<br />

müssten viel stärker in die<br />

Pflicht genommen werden, forderte<br />

sie. Wenn diese als Arbeitgeber<br />

auftreten, wie dies im österreichischen<br />

Modellprojekt der Fall ist,<br />

schaffe das mehr Wertschätzung<br />

für die Nächstenpflege.<br />

Als Vertreterin einer Regierungspartei<br />

kündigte Kordula Schulz-<br />

Asche eine Erhöhung des Pflegegelds<br />

an. Eine Anhebung der<br />

Rentenpunkte für Nächstenpflege<br />

schien ihr nicht realistisch. Erik<br />

von Malottki ergänzte: „Es wird in<br />

der Koalition nur umgesetzt, was<br />

auch von außen deutlich eingefordert<br />

wird.“ Deshalb appellierte er<br />

an den VdK: „Bitte mischen Sie<br />

sich ein!“ Verena Bentele versprach:<br />

„Das tun wir. Unsere Mitglieder<br />

haben hohen Druck.“<br />

Der österreichische Pflegelohn<br />

hat auf jeden Fall Interesse geweckt:<br />

Kordula Schulz-Asche will<br />

im Gesundheitsausschuss anregen,<br />

sich das Projekt im Burgenland<br />

einmal vor Ort anzuschauen.<br />

Dr. Bettina Schubarth<br />

Informationen<br />

Eine Zusammenfassung des<br />

Symposiums und der Pressekonferenz<br />

finden Sie hier:<br />

www.vdk.de/symposium<br />

7 RHPfalz<br />

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