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6 Zeitung <strong>November</strong> <strong>2022</strong> Pflege<br />
Spagat zwischen zwei Welten<br />
VdK-Mitglied berichtet, wie schwer es ist, Pflege und Berufstätigkeit miteinander zu vereinbaren<br />
Viele pflegende Angehörige stehen<br />
vor der Herausforderung, die<br />
Pflege mit ihrem beruflichen Alltag<br />
zu vereinbaren. So auch VdK-Mitglied<br />
Gabriele Mair-Bolland aus<br />
einer kleinen Gemeinde im Landkreis<br />
Dachau: Die 62-Jährige arbeitet<br />
in München und versorgt<br />
gleichzeitig ihren Mann – ein Spagat,<br />
der sie immer wieder an ihre<br />
Grenzen bringt.<br />
Gabriele Mair-Bolland steht noch mitten im Berufsleben und pflegt ihren<br />
Ehemann Klaus. <br />
Foto: Annette Liebmann<br />
Eine Erkrankung hat das Leben<br />
von Klaus Bolland und Gabriele<br />
Mair-Bolland für immer verändert:<br />
2015 wurde bei Klaus Bolland ein<br />
Lymphom im zentralen Nervensystem<br />
entdeckt. Bei der Operation<br />
erlitt er eine Hirnblutung, lag mehrere<br />
Wochen im Koma, und sein<br />
Zustand war lange Zeit kritisch.<br />
Schließlich erholte er sich, ist aber<br />
seither halbseitig gelähmt.<br />
2017 wurde bei ihm dann die<br />
Nervenkrankheit Polyneuropathie<br />
diagnostiziert. Dabei werden Nerven<br />
geschädigt oder unwiederbringlich<br />
zerstört. Die Folgen<br />
können Miss empfindungen, ein<br />
unsicherer Gang und eine eingeschränkte<br />
Motorik sein. Gleichzeitig<br />
bemerkte Gabriele Mair-Bolland,<br />
wie sich die Persönlichkeit<br />
ihres Mannes veränderte. „Auf den<br />
ersten Blick schaut er gesund aus<br />
– aber er hat kognitive Einschränkungen<br />
und kann Gefahren und<br />
sein eigenes Können nicht mehr<br />
richtig einschätzen“, berichtet sie.<br />
In den vergangenen Jahren hat<br />
sich der Zustand von Klaus Bolland<br />
so verschlechtert, dass er<br />
pflegebedürftig wurde. Der 65-Jährige<br />
hat derzeit Pflegegrad 2, eine<br />
Höherstufung mittels telefonischer<br />
Begutachtung ist nur knapp gescheitert.<br />
„Mein Mann braucht<br />
unbedingt einen höheren Pflegegrad.<br />
Er ist nicht dement, aber auch<br />
nicht mehr in der Lage, Verantwortung<br />
für sich zu übernehmen“, sagt<br />
Ga briele Mair-Bolland. Auch motorisch<br />
ist er eingeschränkt: Er<br />
läuft noch mühsam am Gehstock<br />
und nutzt oft einen Rollstuhl.<br />
An zwei Tagen pro Woche kann<br />
die Sozialpädagogin von zu Hause<br />
aus arbeiten und sich um ihn kümmern,<br />
an zwei weiteren Tagen ist<br />
ihr Mann in der Tagespflege. Für<br />
einen dritten Tag hat die Einrichtung<br />
keinen Platz frei. An diesem<br />
Tag ist Klaus Bolland allein.<br />
Blaues Wunder<br />
„Wenn ich dienstags von der Arbeit<br />
nach Hause komme, erlebe ich<br />
manchmal ein blaues Wunder“,<br />
erzählt die 62-Jährige. Mehrfach<br />
ist ihr Mann schon gestürzt und<br />
hat sich dabei das Handgelenk<br />
oder eine Rippe gebrochen. „Einmal<br />
habe ich ihn vor dem Haus auf<br />
dem Boden liegend aufgefunden,<br />
ein andermal ist er mit dem Bus<br />
weggefahren, und ich wusste nicht,<br />
wohin“, schildert sie. „Er ergreift<br />
jede Gelegenheit, um das Haus zu<br />
verlassen – mit zum Teil fatalen<br />
Folgen.“ Hinzu kommt, dass er<br />
wieder mit dem Rauchen angefangen<br />
hat, was wiederum die Polyneuropathie<br />
verschlimmert. Als er<br />
auf Reha war, habe ihn die Klinik<br />
deshalb vorzeitig entlassen mit der<br />
Begründung, das Risiko nicht<br />
übernehmen zu wollen, erzählt sie.<br />
„Stattdessen liegt die Verantwortung<br />
nun ganz bei mir, und ich<br />
muss die Aufpasserin spielen – eine<br />
Rolle, die ich nicht gerne einnehme“,<br />
sagt Mair-Bolland.<br />
Sie wünscht sich, dass zumindest<br />
am Wochenende ab und an jemand<br />
da ist, der sie stundenweise entlastet,<br />
damit sie neue Kraft schöpfen<br />
kann. Denn für sich selbst bleibt<br />
ihr mit Vollzeit- Job, eineinhalb<br />
Stunden Fahrzeit bis zum Arbeitgeber,<br />
der Pflege des Ehemanns,<br />
dem Haushalt und einer betagten<br />
Mutter, die zwischendurch ebenfalls<br />
Unterstützung braucht, nur<br />
wenig Zeit. „Ich fühle mich oft<br />
gestresst“, bekennt sie, „und dann<br />
werde ich ungeduldig meinem<br />
Mann gegenüber, was nicht in Ordnung<br />
ist“. Ein paar Mal hat sie sich<br />
eine Auszeit genommen. „Aber<br />
wenn ich dann weg war, ist immer<br />
etwas Schlimmes passiert.“<br />
Wenn Klaus Bolland in der Tagespflege<br />
ist, fühlt sich seine Frau<br />
beruhigt. „Da weiß ich ihn gut<br />
versorgt“, sagt sie. Gerne hätte sie<br />
noch den dritten Tag abgedeckt,<br />
aber sie steht schon lange auf der<br />
Warteliste. Bisher gibt es keine<br />
Chance, dass mal ein Platz frei<br />
wird. Außerdem hofft sie, dass ihr<br />
Mann bei der nächsten Pflegebegutachtung<br />
Pflegegrad 3 erhält,<br />
damit er mehr Geld für Pflegesachleistung<br />
bekommt. Denn er hat nur<br />
eine niedrige Rente, die bei Weitem<br />
nicht ausreichen würde, um zusätzliche<br />
Pflegeleistungen aus eigener<br />
Tasche zu finanzieren.<br />
<br />
Annette Liebmann<br />
VdK-TV<br />
Auch VdK-TV, das kostenlose Videoportal<br />
des Sozialverbands<br />
VdK, berichtet über den Pflegealltag<br />
des Paares. Der Beitrag ist<br />
ab sofort abrufbar unter<br />
VdK-Videoportal<br />
www.vdktv.de<br />
Keine Angst vor Widerspruch<br />
Oft kann man nach einer Ablehnung doch einen Pflegegrad erreichen<br />
Einkommen oder Entschädigung?<br />
Pflegegeld ist nicht für jeden steuerfrei<br />
Mit einem abgelehnten Pflegegrad<br />
oder einer abgelehnten Höherstufung<br />
muss man sich nicht abfinden.<br />
Im Gegenteil: Es kommt sogar<br />
recht häufig vor, dass Anträge<br />
abgewiesen werden – auch solche,<br />
die eigentlich hätten bewilligt<br />
werden müssen. Der Sozialverband<br />
VdK rät, im Zweifelsfall Widerspruch<br />
einzulegen.<br />
Wer einen Pflegegrad beantragt<br />
hat, erhält einen Termin zur Pflegebegutachtung.<br />
In der Regel besucht<br />
eine Mitarbeiterin oder ein<br />
Mitarbeiter des Medizinischen<br />
Diensts (MD) die Antragstellerin<br />
oder den Antragsteller zu Hause<br />
und stellt ein Gutachten aus.<br />
Während der Corona-Pandemie<br />
hat der MD Pflegebegutachtungen<br />
per Telefon vorgenommen. Dadurch<br />
kam es oft zu Fehleinschätzungen.<br />
Viele Personen wurden zu<br />
niedrig eingestuft. Die Chancen,<br />
bei einem Widerspruch doch noch<br />
einen (höheren) Pflegegrad zu bekommen,<br />
stehen nicht schlecht.<br />
So wurde beispielsweise der Antrag<br />
eines Mitglieds aus Bayern mit<br />
Pflegegrad 1 auf Höherstufung<br />
gleich zweimal abgelehnt – das<br />
erste Mal ohne, das zweite Mal mit<br />
ärztlichen Unterlagen. Schließlich<br />
suchte die 69-Jährige Hilfe beim<br />
VdK. Die Rechtsberaterin stellte<br />
fest, dass das vorgelegte ärztliche<br />
Attest im Gutachten des MD nicht<br />
aufgeführt und auch nicht berücksichtigt<br />
worden ist. Die VdK-Mitarbeiterin<br />
legte Widerspruch ein<br />
Während der Pandemie wurden<br />
Pflegebegutachtungen meist per<br />
Telefon vorgenommen.<br />
und schickte das Attest nochmals<br />
mit. Das Ergebnis: Rückwirkend<br />
wurde der Pflegegrad 3 anerkannt.<br />
Komplexes Verfahren<br />
Bei der Pflegebegutachtung prüft<br />
der MD Kriterien in sechs Bereichen,<br />
die unterschiedlich gewichtet<br />
werden. Dieses Verfahren ist<br />
sehr komplex. Eine Einstufung<br />
oder Ablehnung ist daher nicht<br />
leicht zu verstehen. Auf Wunsch<br />
schickt die Pflegekasse den Betroffenen<br />
das Gutachten des MD zusammen<br />
mit dem Bescheid zu.<br />
Widerspruch einlegen dürfen nur<br />
die oder der Betroffene selbst oder<br />
Foto: imago images/McPHOTO<br />
eine bevollmächtigte Person. Das<br />
Schreiben kann kurz und formlos<br />
erfolgen und sollte innerhalb von<br />
vier Wochen per Einschreiben oder<br />
Fax bei der Pflegekasse eingehen.<br />
Der Widerspruch sollte auf jeden<br />
Fall begründet sein. Auch nach<br />
dieser Frist sind noch nicht alle<br />
Chancen vertan: Bis zu vier Jahre<br />
kann ein Fall rückwirkend geprüft<br />
werden, wenn man einen Rechtsanwalt<br />
oder den Sozialverband<br />
VdK einschaltet.<br />
Bei einem Widerspruch überprüft<br />
die Pflegekasse ihr Gutachten.<br />
Meist wird ein Zweitgutachten erstellt.<br />
Dieses kann nochmals nach<br />
Aktenlage erfolgen, auf Wunsch<br />
aber auch durch einen Hausbesuch<br />
des MD. Es ist ratsam, sich auf diesen<br />
Termin gründlich vorzubereiten.<br />
Dazu gehört, im alten Gutachten<br />
nochmals zu überprüfen, ob<br />
alle körperlichen, geistigen und<br />
psychischen Einschränkungen berücksichtigt<br />
wurden. Außerdem ist<br />
es hilfreich, alle medizinischen<br />
Dokumente anzufordern, die neu<br />
dazugekommen sind.<br />
Bringt auch das Zweitgutachten<br />
keinen Erfolg, besteht die Möglichkeit,<br />
beim Sozialgericht Klage<br />
einzureichen. Auch hier gilt eine<br />
Frist von einem Monat. Allerdings<br />
sollte man den VdK dabei zurate<br />
ziehen.<br />
Der Sozialverband VdK ist seinen<br />
Mitgliedern gerne in allen<br />
Fragen rund um die Pflege sowie<br />
bei einem Widerspruchsverfahren<br />
behilflich. Annette Liebmann<br />
Einnahmen müssen in Deutschland<br />
grundsätzlich versteuert werden.<br />
Das Pflegegeld bildet jedoch eine<br />
Ausnahme. Dennoch gibt es Fälle,<br />
in denen es beim Finanzamt angeben<br />
werden muss.<br />
Anspruch auf Pflegegeld haben<br />
alle Pflegebedürftigen ab Pflegegrad<br />
2, die zu Hause gepflegt werden<br />
und Kombileistungen oder gar<br />
keine Pflegesachleistungen beziehen.<br />
Mit dem Pflegegeld sollen sie<br />
in der Lage sein, den Personen, die<br />
sich um sie kümmern, eine Aufwandsentschädigung<br />
zu bezahlen.<br />
Da das Pflegegeld eine Sozialleistung<br />
ist, ist es für die Pflegebedürftigen<br />
selbst steuerfrei. Geben<br />
sie es an pflegende Angehörige<br />
weiter, müssen diese ebenfalls keine<br />
Steuern darauf entrichten. Zu<br />
den Angehörigen zählen neben<br />
den Partnern, Geschwistern, Eltern<br />
und Kindern auch Nichten<br />
und Neffen, Tanten und Onkel,<br />
Schwägerinnen und Schwager sowie<br />
Pflegeeltern und Pflegekinder.<br />
Steuerfrei bleibt das Pflegegeld<br />
auch für Menschen, die zwar nicht<br />
zur Verwandtschaft zählen, aber<br />
eine enge Beziehung zur oder zum<br />
Pflegebedürftigen haben und sich<br />
verpflichtet fühlen, sich um sie<br />
oder ihn zu kümmern. Das sollte<br />
man sich vom Finanzamt jedoch<br />
bestätigen lassen.<br />
Alle anderen Personen müssen<br />
das Pflegegeld in ihrer Einkommensteuererklärung<br />
angeben.<br />
Darunter fallen Privatpersonen,<br />
die nicht mit der oder dem Pflegebedürftigen<br />
verwandt oder befreundet<br />
sind, sowie alle Personen,<br />
die die Pflege erwerbsmäßig betreiben<br />
und mit denen ein Vertrag<br />
geschlossen wurde. Vorsicht: Auch<br />
Pflegepersonen, die vom Angehörigen<br />
für dessen Pflege mehr als<br />
nur das Pflege geld bekommen,<br />
müssen diese Einkünfte beim Finanzamt<br />
anzeigen. <br />
ali<br />
Das Pflegegeld ist als Aufwandsentschädigung für Nahestehende gedacht.<br />
Foto: imago images/Westend61<br />
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Allgemein