November_RhPfalz_November_2022_GESAMT

28.10.2022 Aufrufe

4 Zeitung November 2022 Politik Neue Regelungen zum Hinzuverdienst Bezieherinnen und Bezieher kleiner Erwerbsminderungsrenten werden nicht davon profitieren Ab dem kommenden Jahr können Rentnerinnen und Rentner einfacher dazuverdienen: Die sogenannten Hinzuverdienstgrenzen für Früh- und Erwerbsminderungsrentner entfallen ersatzlos. Der Sozialverband VdK fasst die wichtigsten Fragen und Antworten zusammen. Welche Änderungen sind geplant? Seit 2020 ist es erheblich leichter, neben einer vorgezogenen Altersrente weiterzuarbeiten. Die Hinzuverdienstgrenze wurde in voller Höhe von 6 300 Euro auf das 14-Fache der monatlichen Bezugsgröße angehoben. Damit blieb ein Hinzuverdienst für 2020 von 44 590 Euro anrechnungsfrei. Für die Jahre 2021 und 2022 galten Hinzuverdienste von bis zu 46 060 Euro anrechnungsfrei. Ab dem 1. Januar 2023 soll die Hinzuverdienstgrenze bei Altersrenten vor der Regelaltersgrenze ersatzlos entfallen. Lediglich die Hinzuverdienstgrenze bei der Hinterbliebenenrente ändert sich künftig nicht. Bei der vollen Erwerbsminderungsrente (EM-Rente) wird die Hinzuverdienstgrenze von 6300 Euro zum 1. Januar 2023 abgeschafft. Stattdessen gilt eine jährliche Hinzuverdienstgrenze von drei Achtel der 14-fachen monatlichen Bezugsgröße, solange das Leistungsvermögen von weniger als drei Rentnerinnnen und Rentner können ab 2023 einfacher hinzuverdienen. Stunden täglich beachtet wird. Dies entspricht einer Hinzuverdienstgrenze von 17 823,75 Euro ab dem kommenden Jahr. Bei der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung wird die Hinzuverdienstgrenze sechs Achtel der 14-fachen monatlichen Bezugsgröße betragen. Hier gilt es, das Leistungsvermögen von täglich unter sechs Stunden zu beachten. Dies entspricht den vorläufigen Werten von 35 647,50 Euro. Falls vor Eintritt der Erwerbsminderung ein höheres Einkommen erzielt wurde, gilt hier die höhere individuelldynamische Grenze. Was bleibt gleich? Die Hinzuverdienstgrenze bei der Hinterbliebenenrente verändert Foto: picture alliance/dpa/Wolfram Steinberg sich nicht. Aktuell ist in Westdeutschland ein Nettoeinkommen von 950,93 Euro anrechnungsfrei, in Ostdeutschland ein Einkommen von 937,72 Euro. Der Freibetrag steigt für jedes Kind, das Anspruch auf Waisenrente hat. Übersteigt das Nettoeinkommen den Freibetrag, werden 40 Prozent des übersteigenden Betrages auf die Rente angerechnet. Wie bewertet der VdK den Gesetzentwurf? VdK-Präsidentin Verena Bentele erklärt dazu: „Mit den neuen Regelungen wird ein flexiblerer Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand für einkommensstärkere Rentner ermöglicht. Gleichzeitig muss jedem klar sein, dass von dieser Regelung einkommensschwache Frührentner kaum profitieren. Sie können es sich mit ihren niedrigen Ansprüchen überhaupt nicht leisten, vorzeitig Rente zu beziehen, da diese mit Abschlägen auf die Altersrente verbunden ist.“ Die höhere Hinzuverdienstgrenze verbessert die finanzielle Situation all derjenigen, die trotz ihrer EM-Rente arbeiten können. Allerdings beantragen die Menschen die EM-Rente, weil sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten können. VdK-Präsidentin Bentele fordert daher: „Die ungerechten Abschläge von bis zu 10,8 Prozent auf die Erwerbsminderungsrenten müssen endlich abgeschafft werden. Sie dürfen keine Armutsrenten sein.“ Sind noch Änderungen bei diesem Gesetzentwurf möglich? Bei dem Gesetzentwurf handelt es sich um einen Kabinettsentwurf, der noch im Bundestag und im zuständigen Ausschuss beraten werden muss. Änderungen am Gesetzentwurf sind daher noch möglich. Julia Frediani Patienten in großer Sorge Lieferengpässe bei Medikamenten können fatale Auswirkungen haben Doppelbesteuerung vermeiden VdK: Alterseinkünfte erst ab 2070 voll besteuern Einige Medikamente sind aufgrund von Lieferengpässen oder Lieferstopps zurzeit nicht oder nur in geringen Mengen verfügbar. Werden die Ursachen dafür nicht bald gelöst, stehen Patientinnen und Patienten, die auf eines dieser Arzneimittel angewiesen sind, vor einem großen, häufig sogar lebensbedrohenden Problem. Arzneimittel in einer Apotheke. Bei VdK-Mitglied Petra Porz aus Bad Laasphe (Nordrhein-Westfalen) wurde 2014 ein schweres angeborenes Antikörpermangelsyndrom CVID diagnostiziert. Der Immundefekt zieht bei ihr weitere Organe in Mitleidenschaft, Leukämie wurde als Vorstufe benannt. Um ihren Immun globulinspiegel zu stabilisieren und ihr Infektionsrisiko zu senken, spritzt sie sich wöchentlich 48 Milliliter Immunglobuline aus Blutplasma unter die Haut. Ihr Medikament heißt Cutaquig. Doch im Juni dieses Jahres hat das Schweizer Herstellerunternehmen Octapharma den Verkauf des für Petra Porz alternativ losen Präparats urplötzlich gestoppt. Seitdem schmilzt ihr Vorrat dahin. „Leider habe ich nur noch bis Januar Immun globuline“, klagt sie. „Und dann? Ich habe wahnsinnige Angst, dass der Krebs dann doch ausbrechen wird.“ Laut Octapharma sind mindestens 20 000 Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Deutschland von dem Lieferstopp betroffen. Auslöser sind Rabattforderungen des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband). Dieser erklärt auf VdK- Anfrage, dass Cutaquig 2020 als Nachfolger des Immunglobulins Gammanorm zu einem deutlich höheren Preis auf den Markt gebracht wurde. Rabattpflicht oder nicht? Streitpunkt ist, ob Octapharma gesetzlichen und privaten Krankenkassen Rabatte einräumen muss, die sich am Preisniveau von 2009 orientieren. Dieser sogenannte Herstellerrabatt wurde vom Gesetzgeber eingeführt, um Preiserhöhungen einzudämmen. Für Octapharma würde ein solcher Rabatt nach eigener Aussage dazu führen, dass das Medikament unter den Herstellungskosten vertrieben werden muss. Daher reagierte das Unternehmen mit einem vorläufigen Foto: picture alliance/dpa/Andreas Arnold Lieferstopp – zulasten von Patientinnen und Patienten wie Petra Porz. Aus Sicht des GKV-Spitzenverbands muss Octapharma „pharmakologisch nachweisen, dass Gründe bestehen, dass der gesetzlich vorgeschriebene Abschlag nicht zum Tragen kommt“. Im Klartext: dass Cutaquig im Vergleich zu Gammanorm eine Neuentwicklung ist und kein wirkstoffgleiches Präparat. Nur dies würde einen höheren Preis rechtfertigen. Einen entsprechenden Nachweis habe das Pharmaunternehmen bisher jedoch nicht geliefert. Probleme mit Lieferengpässen bestehen aber auch bei anderen Medikamenten. Beispielsweise waren gängige Mittel gegen Bluthochdruck und Diabetes oder Schmerzmittel wie Ibuprofen phasenweise bereits nicht erhältlich. Laut dem Deutschen Apothekerverband (DAV) ist der Kostendruck im Gesundheitswesen eine der Ursachen dafür. Mittlerweile findet die Wirkstoffproduktion überwiegend in Fernost statt. Steht die Produktion corona bedingt still, können auch große europäische Hersteller ihre Fertigarzneimittel nicht liefern. Und nicht zuletzt haben die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine zu einer erhöhten Nachfrage geführt, was die Versorgungssituation zeitweise verschärft hat. Der DAV fordert daher unter anderem, die Wirkstoffproduktion nach Europa zurückzuverlagern. Mirko Besch Steuerzahlende sollen ab 2023 ihre Rentenbeiträge komplett absetzen können. Im Gegenzug müssen Rentnerinnen und Rentner nach aktueller Gesetzeslage ihre Alterseinkünfte ab 2040 voll versteuern. Um Fälle von Doppelbesteuerung zu vermeiden, hat das Finanzministerium angekündigt, den Zeitpunkt der vollen Besteuerung zu verschieben. Der Sozialverband VdK fordert, erst im Jahr 2070 damit zu beginnen. Die Reform der Rentenbesteuerung geht auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zurück. Es hatte 2002 entschieden, dass die unterschiedliche Besteuerung von Renten und Pensionen gegen das Gleichbehandlungsgebot verstößt. Deshalb werden Renten künftig wie Pensionen komplett versteuert. Auf die Rentenversicherungsbeiträge müssen hingegen bald keine Steuern mehr gezahlt werden. Das Alterseinkünftegesetz regelt diesen Übergang zur sogenannten nachgelagerten Besteuerung. Der ursprüngliche Stufenplan sah vor, die Rentenbeiträge seit 2005 schrittweise aus der Steuerpflicht herauszunehmen – bis 2025. Dann sollten die Beiträge komplett absetzbar sein. Auf der anderen Seite sollten die Renten zunehmend besteuert werden – bis zur Vollbesteuerung ab dem Jahr 2040. Der Bundesfinanzhof (BFH) sah in diesem Gesetz jedoch für bestimmte Fälle die Gefahr einer verfassungswidrigen Doppelbesteuerung. Betroffen wären vor allem jüngere Menschen, die heute noch keine Rente erhalten. Mit seinem Urteil vom 19. Mai 2021 hatte der BFH die Regierung aufgefordert, das Gesetz zu ändern. Längere Übergangsphase Um dem Urteil Rechnung zu tragen, hat Bundesfinanzminister Christian Lindner angekündigt, die volle Steuerfreiheit der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung von 2025 auf 2023 vorzuziehen. So würden Beitragszahlende 2023 um rund 3,2 Milliarden Euro und 2024 um rund 1,8 Milliarden Euro entlastet. Das Gesetz war bei Redaktionsschluss noch nicht verabschiedet. Das Finanzministerium plant außerdem, den Zeitpunkt der vollständigen Besteuerung der Renten noch zu verschieben – und zwar nach hinten, um die Übergangsphase zu verlängern. Demnach soll der steuerpflichtige Anteil der Renten langsamer steigen als vorgesehen, sodass die Vollbesteuerung erst 2060 erreicht wird. VdK-Präsidentin Verena Bentele geht das nicht weit genug: „Damit niemand vom Fiskus unrechtmäßig doppelt zur Kasse gebeten wird, muss die Vollbesteuerung der Renten aus unserer Sicht bis ins Jahr 2070 gestreckt werden. Nur so lassen sich Einzelfälle von Doppelbesteuerung vermeiden.“ cis 4 RHPfalz Allgemein

So hilft der VdK Zeitung November 2022 5 Arbeitsunfähig wegen Gleichgewichtsstörungen VdK Aschaffenburg-Alzenau erwirkt für chronisch krankes Mitglied Erwerbsminderungsrente Dem Einsatz des VdK Aschaffenburg-Alzenau ist es zu verdanken, dass Jutta Löppen-Pohl nun eine Erwerbsminderungsrente bekommt. Die 61-Jährige hatte massive gesundheitliche Beschwerden, doch die Rentenversicherung war der Ansicht, dass sie dem Arbeitsmarkt noch zur Verfügung stehen kann. Erst der Gang vors Sozialgericht brachte den gewünschten Erfolg. Schon 2012 hatte die ehemalige kaufmännische Angestellte ernste gesundheitliche Probleme. „Es begann schleichend“, erinnert sie sich, „mit einem Druckgefühl im Kopf, und mir ist aufgefallen, dass ich mich rechtslastig bewege.“ Anfangs habe sie die Probleme noch weggeschoben, bis sie Ende 2014 kopfüber die Treppe hinunterstürzte. „Ich hatte großes Glück, dass ich mir außer Prellungen und ein paar blauen Flecken nichts zugezogen habe“, sagt sie. Löppen-Pohl ging zum Hausarzt, der sie zu einem HNO-Spezialisten überwies. Dieser fand heraus, dass sie in der Vergangenheit in ihrem rechten Ohr eine Entzündung gehabt hatte, und verordnete ihr ein Medikament. Als sich der Zustand nicht besserte, musste sie bei verschiedenen Fachärzten eine Das Gleichgewichtsorgan sitzt im Innenohr. Es dient dazu, die eigene Kopfposition im Raum zu erfassen. ganze Reihe von Untersuchungen über sich ergehen lassen. Ein Neurologe schickte sie schließlich zur Schwindelambulanz an der Uniklinik Mainz. Dort stellten die Mediziner fest, dass beide Gleichgewichtsorgane irreparabel geschädigt sind. „Bei den Tests konnte ich nicht mehr auf den Zehenspitzen oder den Fersen stehen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren“, erzählt sie. Typisch für eine sogenannte bilaterale Vestibulopathie sind ein unsicherer Gang, starke Schwindelgefühle und Sturzneigung. Die Gangunsicherheit nimmt bei Dunkelheit oder auf unebenem Boden zu. Bei Löppen-Pohl kommt erschwerend hinzu, dass sie auf einem Auge fast keine Sehkraft mehr hat. Dadurch wird es für sie noch schwieriger, das Gleichgewicht zu halten. In tiefes Loch gefallen „Die Diagnose war für mich ein Schock. Ich bin erst einmal in ein tiefes Loch gefallen“, sagt Löppen-Pohl. Dennoch versuchte sie, weiterhin zur Arbeit zu gehen, doch es fiel ihr sehr schwer. „Ich wollte ja arbeiten, ich wollte ja funktionieren“, betont sie. Ihr Foto: imago images/Westend61 Hausarzt riet ihr schließlich, Erwerbsminderungsrente zu beantragen. 2016 stellte sie einen Antrag, der prompt abgelehnt wurde. Mithilfe des VdK legte sie Widerspruch ein. Daraufhin wurde die Rente auf zwei Jahre befristet genehmigt. „Damals sagte mir die Gutachterin, dass es bei meiner Erkrankung kein Problem sei, einen Folgeantrag zu stellen“, berichtet sie. 2019 hatte sich ihr Gesundheitszustand weiter verschlechtert, sodass sich ihr Grad der Behinderung auf 50 erhöhte. Dennoch lehnte dieselbe Gutachterin der Rentenversicherung Nordbayern die Verlängerung der Erwerbsminderungsrente ab und schrieb, dass sie dem Arbeitsmarkt noch mindestens sechs Stunden täglich zur Verfügung stehen könne. Der vom VdK eingelegte Widerspruch wurde abgelehnt. Schließlich blieb nur noch der Klageweg vor dem Sozialgericht. „Für unsere Mandantin war es unbegreiflich, dass sie mit diesen Einschränkungen noch arbeiten sollte“, sagt VdK-Kreisgeschäftsführerin Kerstin Wilson. Ein neues ärztliches Gutachten bestätigte, dass Löppen-Pohl unter massiven Gleichgewichtsstörungen und Schwindel leidet und nicht mehr arbeiten kann. Hinzu kommen Migräne, Depressionen und Angststörungen. Das Gericht gab der Klägerin Recht. Es sprach Löppen-Pohl rückwirkend ab November 2019 eine unbefristete Erwerbsminderungsrente zu. Außerdem musste ihr die Renten versicherung knapp 7500 Euro Rente nachzahlen. „Es war ein harter Weg, aber er hat sich gelohnt“, resümiert Jutta Löppen-Pohl. Sie hat nach wie vor mit ihrer Erkrankung zu kämpfen, kommt aber in ihrem Alltag damit zurecht. „Ich bin dem VdK sehr dankbar und empfehle ihn gerne weiter.“ Annette Liebmann – Anzeige – Mehr Wahlfreiheit bei Hilfsmitteln LSG stärkt Rechte von Menschen mit Behinderung Foto: picture alliance/Julian Stratenschulte Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat entschieden, dass einem Rollstuhlfahrer das gewünschte elektrische Rollzuggerät finanziert werden muss (Az.: L 16 KR 421/21). Die Krankenkasse hatte ihm zuvor einen günstigeren Elektrorollstuhl angeboten. Mit dem Urteil wird das Wahl- und Wunschrecht von Menschen mit Behinderung bei der Hilfsmittelversorgung gestärkt. Im konkreten Fall war ein 49-jähriger, querschnittsgelähmter Mann bislang mit einem Aktivrollstuhl mit mechanischem Zuggerät (Handbike) versorgt. Da seine Kraft immer mehr nachließ und er unter zunehmenden Schulterschmerzen litt, beantragte er bei seiner Krankenkasse ein elektrisch unterstütztes Zuggerät. Die Kosten dafür beliefen sich auf 8630 Euro. Die Krankenkasse lehnte ab und bot dem Mann stattdessen einen Elektrorollstuhl an. Das elektrisch unterstützte Handbike würde eine „Überversorgung“ bedeuten. Die Das LSG hat seinen Sitz in Celle mit einer Nebenstelle in Bremen. Basismobilität könne auch mit dem Elektrorollstuhl gesichert werden, der nur die Hälfte kostet. Für den Mann war die damit verbundene, rein passive Fortbewegung keine angemessene Alternative. Deshalb klagte er auf Kostenübernahme für das elektrisch unterstützte Rollstuhlzuggerät. Nicht gegen den Willen Das LSG verpflichtete die Krankenkasse zur Übernahme der Kosten für das gewünschte Hilfsmittel. Der querschnittsgelähmte Versicherte könne nicht gegen seinen Willen auf einen rein passiven Elektrorollstuhl verwiesen werden, wenn er lediglich eine elektrische Unterstützung benötige. Nach einer an den Grundrechten orientierten Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen und der UN-Behindertenrechtskonvention sei dem Wunsch- und Wahlrecht des behinderten Menschen „volle Wirkung“ zu verschaffen, so das Gericht. Dem Rollstuhlfahrer müsse „viel Raum zur eigenverantwortlichen Gestaltung der Lebensumstände“ gelassen und die Selbstbestimmung gefördert werden. Der VdK begrüßt, dass das Gericht in seiner Entscheidung das Wunsch- und Wahlrecht gestärkt hat. „Bei Reha-Leistungen muss den berechtigten Wünschen der Versicherten entsprochen werden“, sagt VdK-Präsidentin Verena Bentele. „Das wird viel zu oft vergessen. Doch das Bewusstsein dafür setzt sich auch dank der UN-Behindertenrechtskonvention in der Rechtsprechung langsam durch“, erklärt Bentele. cis 5 RHPfalz Allgemein

So hilft der VdK<br />

Zeitung <strong>November</strong> <strong>2022</strong><br />

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Arbeitsunfähig wegen Gleichgewichtsstörungen<br />

VdK Aschaffenburg-Alzenau erwirkt für chronisch krankes Mitglied Erwerbsminderungsrente<br />

Dem Einsatz des VdK Aschaffenburg-Alzenau<br />

ist es zu verdanken,<br />

dass Jutta Löppen-Pohl nun eine<br />

Erwerbsminderungsrente bekommt.<br />

Die 61-Jährige hatte massive gesundheitliche<br />

Beschwerden, doch<br />

die Rentenversicherung war der<br />

Ansicht, dass sie dem Arbeitsmarkt<br />

noch zur Verfügung stehen kann.<br />

Erst der Gang vors Sozialgericht<br />

brachte den gewünschten Erfolg.<br />

Schon 2012 hatte die ehemalige<br />

kaufmännische Angestellte ernste<br />

gesundheitliche Probleme. „Es begann<br />

schleichend“, erinnert sie sich,<br />

„mit einem Druckgefühl im Kopf,<br />

und mir ist aufgefallen, dass ich<br />

mich rechtslastig bewege.“ Anfangs<br />

habe sie die Probleme noch weggeschoben,<br />

bis sie Ende 2014 kopfüber<br />

die Treppe hinunterstürzte. „Ich<br />

hatte großes Glück, dass ich mir<br />

außer Prellungen und ein paar<br />

blauen Flecken nichts zugezogen<br />

habe“, sagt sie.<br />

Löppen-Pohl ging zum Hausarzt,<br />

der sie zu einem HNO-Spezialisten<br />

überwies. Dieser fand heraus,<br />

dass sie in der Vergangenheit<br />

in ihrem rechten Ohr eine Entzündung<br />

gehabt hatte, und verordnete<br />

ihr ein Medikament. Als sich der<br />

Zustand nicht besserte, musste sie<br />

bei verschiedenen Fachärzten eine<br />

Das Gleichgewichtsorgan sitzt im Innenohr. Es dient dazu, die eigene Kopfposition im Raum zu erfassen.<br />

ganze Reihe von Untersuchungen<br />

über sich ergehen lassen.<br />

Ein Neurologe schickte sie<br />

schließlich zur Schwindelambulanz<br />

an der Uniklinik Mainz. Dort<br />

stellten die Mediziner fest, dass<br />

beide Gleichgewichtsorgane irreparabel<br />

geschädigt sind. „Bei den<br />

Tests konnte ich nicht mehr auf<br />

den Zehenspitzen oder den Fersen<br />

stehen, ohne das Gleichgewicht zu<br />

verlieren“, erzählt sie. Typisch für<br />

eine sogenannte bilaterale Vestibulopathie<br />

sind ein unsicherer<br />

Gang, starke Schwindelgefühle<br />

und Sturzneigung. Die Gangunsicherheit<br />

nimmt bei Dunkelheit<br />

oder auf unebenem Boden zu. Bei<br />

Löppen-Pohl kommt erschwerend<br />

hinzu, dass sie auf einem Auge fast<br />

keine Sehkraft mehr hat. Dadurch<br />

wird es für sie noch schwieriger,<br />

das Gleichgewicht zu halten.<br />

In tiefes Loch gefallen<br />

„Die Diagnose war für mich ein<br />

Schock. Ich bin erst einmal in ein<br />

tiefes Loch gefallen“, sagt Löppen-Pohl.<br />

Dennoch versuchte sie,<br />

weiterhin zur Arbeit zu gehen,<br />

doch es fiel ihr sehr schwer. „Ich<br />

wollte ja arbeiten, ich wollte ja<br />

funktionieren“, betont sie. Ihr<br />

Foto: imago images/Westend61<br />

Hausarzt riet ihr schließlich, Erwerbsminderungsrente<br />

zu beantragen.<br />

2016 stellte sie einen Antrag,<br />

der prompt abgelehnt wurde. Mithilfe<br />

des VdK legte sie Widerspruch<br />

ein. Daraufhin wurde die Rente<br />

auf zwei Jahre befristet genehmigt.<br />

„Damals sagte mir die Gutachterin,<br />

dass es bei meiner Erkrankung<br />

kein Problem sei, einen Folgeantrag<br />

zu stellen“, berichtet sie.<br />

2019 hatte sich ihr Gesundheitszustand<br />

weiter verschlechtert, sodass<br />

sich ihr Grad der Behinderung<br />

auf 50 erhöhte. Dennoch lehnte<br />

dieselbe Gutachterin der Rentenversicherung<br />

Nordbayern die Verlängerung<br />

der Erwerbsminderungsrente<br />

ab und schrieb, dass sie<br />

dem Arbeitsmarkt noch mindestens<br />

sechs Stunden täglich zur<br />

Verfügung stehen könne. Der vom<br />

VdK eingelegte Widerspruch wurde<br />

abgelehnt. Schließlich blieb nur<br />

noch der Klageweg vor dem Sozialgericht.<br />

„Für unsere Mandantin<br />

war es unbegreiflich, dass sie mit<br />

diesen Einschränkungen noch arbeiten<br />

sollte“, sagt VdK-Kreisgeschäftsführerin<br />

Kerstin Wilson.<br />

Ein neues ärztliches Gutachten<br />

bestätigte, dass Löppen-Pohl unter<br />

massiven Gleichgewichtsstörungen<br />

und Schwindel leidet und nicht<br />

mehr arbeiten kann. Hinzu kommen<br />

Migräne, Depressionen und<br />

Angststörungen. Das Gericht gab<br />

der Klägerin Recht. Es sprach<br />

Löppen-Pohl rückwirkend ab <strong>November</strong><br />

2019 eine unbefristete Erwerbsminderungsrente<br />

zu. Außerdem<br />

musste ihr die Renten versicherung<br />

knapp 7500 Euro Rente<br />

nachzahlen.<br />

„Es war ein harter Weg, aber er<br />

hat sich gelohnt“, resümiert Jutta<br />

Löppen-Pohl. Sie hat nach wie vor<br />

mit ihrer Erkrankung zu kämpfen,<br />

kommt aber in ihrem Alltag damit<br />

zurecht. „Ich bin dem VdK sehr<br />

dankbar und empfehle ihn gerne<br />

weiter.“ Annette Liebmann<br />

– Anzeige –<br />

Mehr Wahlfreiheit bei Hilfsmitteln<br />

LSG stärkt Rechte von Menschen mit Behinderung<br />

Foto: picture alliance/Julian Stratenschulte<br />

Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen<br />

(LSG) hat entschieden,<br />

dass einem Rollstuhlfahrer<br />

das gewünschte elektrische<br />

Rollzuggerät finanziert werden<br />

muss (Az.: L 16 KR 421/21). Die Krankenkasse<br />

hatte ihm zuvor einen<br />

günstigeren Elektrorollstuhl angeboten.<br />

Mit dem Urteil wird das<br />

Wahl- und Wunschrecht von Menschen<br />

mit Behinderung bei der<br />

Hilfsmittelversorgung gestärkt.<br />

Im konkreten Fall war ein<br />

49-jähriger, querschnittsgelähmter<br />

Mann bislang mit einem Aktivrollstuhl<br />

mit mechanischem Zuggerät<br />

(Handbike) versorgt. Da seine<br />

Kraft immer mehr nachließ und er<br />

unter zunehmenden Schulterschmerzen<br />

litt, beantragte er bei<br />

seiner Krankenkasse ein elektrisch<br />

unterstütztes Zuggerät. Die Kosten<br />

dafür beliefen sich auf 8630 Euro.<br />

Die Krankenkasse lehnte ab und<br />

bot dem Mann stattdessen einen<br />

Elektrorollstuhl an. Das elektrisch<br />

unterstützte Handbike würde eine<br />

„Überversorgung“ bedeuten. Die<br />

Das LSG hat seinen Sitz in Celle mit<br />

einer Nebenstelle in Bremen.<br />

Basismobilität könne auch mit<br />

dem Elektrorollstuhl gesichert<br />

werden, der nur die Hälfte kostet.<br />

Für den Mann war die damit<br />

verbundene, rein passive Fortbewegung<br />

keine angemessene Alternative.<br />

Deshalb klagte er auf Kostenübernahme<br />

für das elektrisch<br />

unterstützte Rollstuhlzuggerät.<br />

Nicht gegen den Willen<br />

Das LSG verpflichtete die Krankenkasse<br />

zur Übernahme der Kosten<br />

für das gewünschte Hilfsmittel.<br />

Der querschnittsgelähmte Versicherte<br />

könne nicht gegen seinen<br />

Willen auf einen rein passiven<br />

Elektrorollstuhl verwiesen werden,<br />

wenn er lediglich eine elektrische<br />

Unterstützung benötige.<br />

Nach einer an den Grundrechten<br />

orientierten Auslegung der gesetzlichen<br />

Bestimmungen und der<br />

UN-Behindertenrechtskonvention<br />

sei dem Wunsch- und Wahlrecht<br />

des behinderten Menschen „volle<br />

Wirkung“ zu verschaffen, so das<br />

Gericht. Dem Rollstuhlfahrer müsse<br />

„viel Raum zur eigenverantwortlichen<br />

Gestaltung der Lebensumstände“<br />

gelassen und die Selbstbestimmung<br />

gefördert werden.<br />

Der VdK begrüßt, dass das Gericht<br />

in seiner Entscheidung das<br />

Wunsch- und Wahlrecht gestärkt<br />

hat. „Bei Reha-Leistungen muss<br />

den berechtigten Wünschen der<br />

Versicherten entsprochen werden“,<br />

sagt VdK-Präsidentin Verena Bentele.<br />

„Das wird viel zu oft vergessen.<br />

Doch das Bewusstsein dafür<br />

setzt sich auch dank der UN-Behindertenrechtskonvention<br />

in der<br />

Rechtsprechung langsam durch“,<br />

erklärt Bentele.<br />

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