25.10.2022 Aufrufe

Flip-Uni2022-S

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Sommer 2022 UNIversalis-Zeitung 13<br />

„Es wäre der größte Irrtum zu meinen, diese Gräuel seien eine Sache der Vergangenheit. Konzentrations- und Vernichtungslager sind die neuesten<br />

und bedeutsamsten Werkzeuge aller totalitären Herrschaftsformen.“ Hannah Arendt<br />

Léon Poliakov: „Vom Hass zum Genozid.<br />

Das Dritte Reich und die Juden“<br />

Bedeutendes Werk der frühen Holocaustforschung<br />

„L<br />

éon Poliakovs Buch<br />

über das Dritte Reich<br />

und die Juden ist das<br />

erste, das die späten<br />

Phasen des Nazi-Regimes strikt<br />

auf der Grundlage von Primärquellen<br />

darstellt. Er hat einen<br />

Blick für das Wesentliche und<br />

verfügt über eine vollständige<br />

und intime Kenntnis der komplizierten<br />

Verwaltungsmaschinerie<br />

Nazi-Deutschlands“, schrieb<br />

Hannah Arendt in ihrer Rezension<br />

des Buches „Breviaire de la<br />

haine. Le III Reich et les Juifs“.<br />

Bald nach der französischen<br />

Originalausgabe 1951 wurde es<br />

in mehrere Sprachen übersetzt,<br />

doch mussten siebzig Jahre vergehen,<br />

bis es nun unter dem Titel<br />

„Vom Hass zum Genozid. Das<br />

Dritte Reich und die Juden“ auf<br />

Deutsch vorliegt. Bewältigt hat<br />

diese Herkulesarbeit der Historiker<br />

und Politologe Ahlrich Meyer<br />

(*1941), emeritierter Professor<br />

der Universität Oldenburg, dem<br />

wir auch die Übertragung von<br />

Serge Klarsfelds bahnbrechender<br />

Recherche „Vichy-Auschwitz“<br />

(1989) verdanken sowie eigene<br />

Forschungen zum Thema, darunter<br />

„Die deutsche Besatzung<br />

in Frankreich 1940-1944. Widerstandsbekämpfung<br />

und Judenverfolgung“.<br />

Schon 1943 hat Léon Poliakov<br />

(1910–1997) begonnen, für sein<br />

Buch zu recherchieren; damals war<br />

er gemeinsam mit Isaac Schneersohn<br />

in der französischen Résistance<br />

aktiv und beteiligte sich mit<br />

rund vierzig anderen Personen an<br />

der sukzessiven Sicherung von Dokumenten<br />

zur NS-Verfolgung. Auf<br />

diese Weise wurde das Centre de<br />

Documentation Juive Contemporaine<br />

(CDJC) in Paris begründet,<br />

das heute Teil der zentralen französischen<br />

Gedenkstätte und Forschungseinrichtung<br />

Mémorial de la<br />

Shoah ist.<br />

Für seine Studie hat Poliakov über<br />

200.000 Dokumente ausgewertet,<br />

darunter Aktenmaterial des „Judenreferats“<br />

der Gestapo, das die NS-<br />

Besatzung 1944 beim Rückzug aus<br />

Paris zurückgelassen hatte, sowie<br />

Dokumente der Parallelinstitution<br />

des Vichy-Regimes, der „Commissariat<br />

Général aux Questions<br />

Juives“ (CGQJ); wichtige Unterstützung<br />

erhielt er durch seinen<br />

SPEZIAL<br />

UNIversalis-Zeitung<br />

IMPRESSUM<br />

Herausgeber:<br />

Art Media Verlagsgesellschaft mbH<br />

Auerstr. 2 • 79108 Freiburg<br />

Telefon: 07 61 / 72 072<br />

e-mail: redaktion@kulturjoker.de<br />

Redaktionsleitung<br />

(V.i.S.d.P):<br />

Christel Jockers<br />

Mitstreiter Joseph Billig. Des Weiteren<br />

verfügte Léon Poliakov über<br />

die kompletten Ermittlungsakten<br />

der Nürnberger Prozesse, da er als<br />

Sachverständiger der französischen<br />

Delegation 1946 bis 1948 beim<br />

Internationalen Gerichtshof der<br />

Alliierten gegen die NS-Führung<br />

mitwirkte. Poliakovs Quellenmaterial<br />

ist mittlerweile vollständig archiviert.<br />

Ahlrich Meyer hat für die<br />

deutsche Ausgabe des Buches zahlreiche<br />

Originale ausgegraben, um<br />

Rückübersetzungen aus dem Französischen<br />

zu vermeiden; auch hat<br />

er in Fußnoten neuere Forschungsergebnisse<br />

und Korrekturen eingearbeitet.<br />

Eine editorische Notiz gibt<br />

zusätzliche Auskünfte, z.B. zu den<br />

Begrifflichkeiten, die sich seit den<br />

Fünfzigerjahren verändert haben;<br />

damals bezeichnete man etwa die<br />

Ermordung der Juden als Genozid,<br />

die Termini Holocaust oder Shoáh<br />

waren noch nicht gebräuchlich.<br />

Léon Poliakov antizipierte die später<br />

von Hans Mommsen formulierte<br />

These von der „kumulativen Radikalisierung“,<br />

als er schrieb: „Es<br />

wäre sicher ein Irrtum anzunehmen,<br />

den Prophezeiungen Hitlers hätten<br />

Für Universität und Hochschulen in Freiburg<br />

Autor*innen dieser Ausgabe:<br />

Pauline Ebert<br />

Dr. Martin Flashar<br />

Dr. Cornelia Frenkel<br />

Julian Hienstorfer<br />

Fabian Lutz<br />

u.a.<br />

Satz/Gestaltung:<br />

Art Media Verlagsgesellschaft mbH<br />

Druck:<br />

Rheinpfalz Verlag und Druckerei<br />

GmbH & Co. KG, Ludwigshafen<br />

Der Nachdruck von Texten und den vom<br />

Verlag gestalteten Anzeigen nur mit ausdrücklicher<br />

Genehmigung des Verlags.<br />

ein genauer Plan und im Voraus<br />

gefasste Entschlüsse zugrunde gelegen.“<br />

Poliakov betont die Prozesshaftigkeit<br />

des Geschehens, hebt als<br />

Antrieb für den antisemitischen<br />

Verfolgungs- und Vernichtungsprozesses<br />

ökonomische Aspekte sowie<br />

den rassistisch und christlich motivierten<br />

Judenhass hervor. Nicht nur<br />

Hitlers Führungsriege und abgerichtete<br />

Psychopathen, die Massaker<br />

im Osten begangen haben, sah<br />

er verantwortlich, sondern die gesamte<br />

deutsche Gesellschaft. „Was<br />

mir damals keine Ruhe ließ“, so<br />

Poliakov, „und sicherlich nicht nur<br />

mir, das (…) waren die Umstände,<br />

unter welchen die Führungsebene<br />

des Dritten Reichs beschlossen hatte,<br />

mich zu töten, ebenso wie Millionen<br />

andere menschliche Wesen.“<br />

Wie kam es zu dieser kaltblütigen<br />

Vernichtungsabsicht? Poliakov versucht<br />

den Zivilisationsbruch greifbar<br />

zu machen, indem er Raub,<br />

Versklavung, Ghettoisierung, Deportationen<br />

und schließlich die<br />

Einrichtung von „Todesfabriken“<br />

chronologisch rekonstruiert. Die<br />

Verbindung zwischen Massenmord<br />

und „Euthanasie“ thematisiert er<br />

ebenso wie das stillschweigende<br />

Einverständnis der Bevölkerung<br />

und die enge Zusammenarbeit deutscher<br />

Dienststellen und NS-Tätergruppen.<br />

Zudem widmet Poliakov<br />

dem jüdischen Widerstand, der von<br />

vielen Historikern bestritten wurde,<br />

ein eigenes Kapitel; dieses ist ebenso<br />

beeindruckend wie das Kapitel<br />

„Vichy-Frankreich als Sonderfall“,<br />

das mit Originaldokumenten – insbesondere<br />

dem Protokoll, das Heinz<br />

Röthke von seiner Unterredung mit<br />

Pierre Laval 1943 (15.8.) anfertigte<br />

– beleuchtet, wie das Gesetz „über<br />

die Aberkennung der französischen<br />

Staatsangehörigkeit“ an Pétain und<br />

Laval scheiterte und der SS-Mann<br />

Röthke feststellen musste, dass für<br />

das Projekt der „Endlösung“ die<br />

ablehnende Haltung der Italiener<br />

zum Hindernis wird und vor allem:<br />

„Die französische Regierung will in<br />

der Judenfrage nicht mehr mitziehen“.<br />

Dies machte die großen Pläne<br />

des Reichssicherheitshauptamts<br />

(RSHA), u.a. in Person von Röthke<br />

und Alois Brunner, nach und nach<br />

zunichte; trotzdem war die Verfolgung<br />

nicht beendet, die Besatzer<br />

setzten sie fort, teils unterstützt von<br />

der „Milice française“, die aber<br />

in der französischen Bevölkerung<br />

weder eine breite Basis hatte, noch<br />

eine antisemitische Hysterie auslösen<br />

konnte.<br />

„Vom Haß zum Genozid“ ist ein<br />

Buch, das der Ideologieproduktion<br />

entgegenwirkt, indem es die Vorgänge<br />

genau darlegt und u.a. zeigt,<br />

wie wenig es angebracht ist, in unserer<br />

Beziehung zur Vergangenheit<br />

nur das zu beachten, was auf den<br />

ersten Blick sichtbar ist, nämlich<br />

die Deportationen. Denn in dem<br />

von den Nazis besetzten Europa ist<br />

Frankreich das Land, in dem die<br />

jüdische Bevölkerung proportional<br />

am wenigsten Verluste erlitten hat.<br />

Auch Poliakovs Mitstreiter Isaac<br />

Schneersohn, Gründer des Centre<br />

de documentation Juive Contemporaine<br />

(CDJC), hat am Ende des<br />

Krieges festgehalten: „Nach Beurteilung<br />

des Archivmaterials, das<br />

wir gesichert haben, aber auch ausgehend<br />

von unserer persönlichen<br />

Erfahrung, können wir sagen, dass<br />

die französische Bevölkerung zwei<br />

Drittel der Juden in Frankreich gerettet<br />

hat.“ Die Grauenhaftigkeit<br />

der Shoah darf die Erinnerung an<br />

den (Rettungs-)Widerstand und die<br />

komplexen Machtkämpfe zwischen<br />

Besatzern, Kollaborations-Regime<br />

und Bevölkerung nicht ausgrenzen,<br />

damit die Gesamtzusammenhänge<br />

erkennbar bleiben; Poliakov leistet<br />

dazu einen wichtigen Beitrag. Er<br />

scheint prädestiniert gewesen zu<br />

sein, die historischen Ereignisse<br />

nicht einseitig wahrzunehmen; als<br />

Kind war er 1920 mit seinen Eltern<br />

dem sowjetrussischen Machtbereich<br />

entflohen und aus St. Petersburg<br />

nach Paris gelangt, im Zuge<br />

der NS-Besatzung Frankreichs sah<br />

er sich erneut auf der Flucht. Einzelheiten<br />

dazu enthalten seine autobiographischen<br />

Aufzeichnungen<br />

„St. Petersburg – Berlin – Paris:<br />

Memoiren eines Davongekommenen“.<br />

Wichtig bleibt zu erwähnen,<br />

dass Poliakov, gemeinsam mit<br />

dem Holocaustüberlebenden Joseph<br />

Wulf (1912-1974), der in West-Berlin<br />

lebte, zwischen 1955 und 1958<br />

drei Dokumentenbände zu NS-<br />

Tätergruppen veröffentlicht hat. In<br />

puncto Erinnerungsarbeit bot sich<br />

für Wulf jedoch in Deutschland ein<br />

vergleichsweise wenig günstiges<br />

Forschungsklima; in Frankreich<br />

waren Überlebende und NS-Gegner<br />

besser vernetzt und konnten, wie<br />

Poliakov, schon gegen Kriegsende<br />

eine Aufarbeitung der Verbrechen<br />

beginnen.<br />

• Léon Poliakov. Vom Hass zum<br />

Genozid. Das Dritte Reich und<br />

die Juden. Aus dem Französischen<br />

übersetzt, herausgegeben und<br />

mit einem Nachwort von Ahlrich<br />

Meyer. 599 S. Ed. Tiamat 2021<br />

• Ders. St. Petersburg – Berlin – Paris:<br />

Memoiren eines Davongekommenen.<br />

Ed. Tiamat. Berlin 2019<br />

Weiterführende Literatur<br />

• Meyer, Ahlrich (Hg.). Der Blick<br />

des Besatzers. Propaganda-Photographie<br />

der Wehrmacht aus Marseille<br />

1942-1944. Vorwort Serge<br />

Klarsfeld. Ed. Temmen 1999<br />

• ders. Die deutsche Besatzung<br />

in Frankreich 1940-1944. Widerstandsbekämpfung<br />

und Judenverfolgung.<br />

WB. Darmstadt 2000<br />

• ders. Täter im Verhör. Die „Endlösung“<br />

der Judenfrage in Frankreich<br />

1940-1944. Darmstadt 2005<br />

• ders. Täter und Opfer der „Endlösung“<br />

in Westeuropa. Paderborn<br />

2010<br />

• Meinen, Insa/Meyer, Ahlrich. Verfolgt<br />

von Land zu Land. Jüdische<br />

Flüchtlinge in Westeuropa 1938-<br />

1944. Unter Mitarbeit von Jörg<br />

Paulsen. Ferdinand Schöningh Verlag.<br />

Paderborn 2013<br />

Cornelia Frenkel

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!