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Sommer 2022 UNIversalis-Zeitung 11<br />

Horror der Mutterschaft<br />

Jessica Linds fantastischer Roman „Mama“ erzählt von der Angst im Kinderwunsch<br />

Der Wald als Ort einer unheimlichen Schwangerschaft<br />

Foto: Fez Brook / Pexels<br />

E<br />

in Paar geht in den<br />

Wald, um ein Kind zu<br />

zeugen und geht verloren.<br />

Dazwischen Beziehungsängste,<br />

unheimliche<br />

Begegnungen mit der Natur und<br />

Zeitsprünge. Jessica Linds Roman<br />

gestaltet Mutterschaft zum<br />

leisen Horror, aber auch zur archaischen<br />

Einheit – und streift<br />

damit zeitgenössische Debatten<br />

um Schwangerschaftsangst und<br />

schwierige Mutterrollen.<br />

„Dann fängt Josef an, über ihre<br />

Zukunft zu reden. Über das Kind,<br />

das er Raupe nennt. Immer, wenn<br />

er das sagt, hat sie einen Parasiten<br />

vor Augen, der an ihr nagt und von<br />

ihr zehrt, bis er groß genug ist,<br />

sich zu verpuppen und aus ihr herauszubrechen<br />

wie aus einem Kokon.“<br />

Amira fürchtet ihre Schwangerschaft<br />

und die Geburt ihres<br />

Kindes. Zunächst noch treibende<br />

Kraft hinter der Entscheidung, mit<br />

ihrem Mann Josef endlich ein Kind<br />

zu haben, bekommt sie kurz vor<br />

der Geburt kalte Füße. Im urigen<br />

Waldhaus, das beide für die Zeugung<br />

des Kindes und während der<br />

Schwangerschaftszeit beziehen,<br />

wird das süße Baby zum Para-<br />

siten, der eigene Körper wandelt<br />

sich vom warmen Nest zum Wirtskörper.<br />

Tokophobie, Schwangerschaftsphobie<br />

nennt die Weltgesundheitsorganisation<br />

die Angst,<br />

die Amira vor ihrer Geburt erlebt.<br />

Und dann das Trauma. Plötzlich<br />

steht Amira, im einen Moment<br />

noch schwanger, ihrer kleinen<br />

Tochter auf einer Lichtung gegenüber.<br />

An eine Geburt, an keine<br />

noch so erschreckende, kann sich<br />

Amira nicht erinnern. Das Erleben<br />

einer erfolgten Geburt als traumatisch<br />

gehört zu den Symptomen der<br />

Tokophobie. Plötzlich ist da das<br />

„fremde Mädchen“ auf Josefs Arm.<br />

Zwischen Amiras Schwangerschaft<br />

und der Existenz des Kleinkinds<br />

scheinen nur Momente vergangen<br />

zu sein. Traumata hinterlassen Lücken.<br />

Und aus der Lücke schlüpft<br />

ein Kind.<br />

Regretting Motherhood<br />

Unter dem Titel „Regretting Motherhood“<br />

veröffentlichte der beliebte,<br />

öffentlich-rechtlich finanzierte<br />

YouTube-Kanal „Die Frage“<br />

am 26. Mai 2020 ein Gespräch mit<br />

Sabrina. Sabrina bereut, ein Kind<br />

bekommen zu haben. Wie für Amira<br />

war Sabrinas Kind zunächst<br />

Wunschkind. Als das Kind aber<br />

endlich auf der Welt war, fehlten<br />

jegliche „Muttergefühle“. Zwar<br />

liebt Sabrina ihr Kind, will aber<br />

keine Sorgefunktion übernehmen.<br />

Die Frau erscheint im Video anonymisiert,<br />

auch ist Sabrina nicht<br />

ihr wirklicher Name. Erkannt werden<br />

möchte sie nicht. Zu groß ist<br />

der Erwartungsdruck gegenüber<br />

Müttern, ihre Kinder zu lieben<br />

und aufopferungsvoll für sie da zu<br />

sein, zu groß das Stigma der „Rabenmutter“.<br />

Liest man einige der Kommentare<br />

unter dem Video, das über eine<br />

halbe Millionen Aufrufe hat, sieht<br />

man, wie emotional aufgeladen<br />

das Thema ist – und wie befreiend<br />

die Aussprache Sabrinas für viele<br />

wirkt. Eine Person muss „kotzen“<br />

angesichts der mütterlichen Selbstaufgabe,<br />

die sie als sexistische Erwartung<br />

gegenüber Frauen liest:<br />

das Kinderbekommen, die bedingungslose<br />

Liebe zum Kind, das<br />

Ignorieren der Schmerzen. Auch<br />

die Protagonistin von Jessica Linds<br />

Roman kann den Mutmachsprüchen<br />

ihrer Hebamme Carina nicht<br />

vertrauen. Das tiefe Vertrauen, das

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