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SPEZIAL<br />
UNIversalis-Zeitung<br />
Für Universität und Hochschulen in Freiburg<br />
ArtMedia Verlag Freiburg Sommer 2022 32. Ausgabe / 18. Jahrgang<br />
Die Klimakatastrophe im Herzen<br />
Ein Unterstützungsangebot will Menschen helfen, die an der Klimakrise leiden<br />
W<br />
ir spüren die Klimakrise,<br />
in unserer<br />
Umwelt, aber auch<br />
in uns selbst. In der Wut vieler<br />
Protestierenden steckt auch die<br />
Angst vor einer Katastrophe, die<br />
es so noch nie gegeben hat. „Climate<br />
Overdose“ heißt ein neues<br />
Freiburger Unterstützungsangebot,<br />
das sich an alle richtet,<br />
„denen die Klimakrise über den<br />
Kopf wächst“. Ein Klimacafé<br />
und eine Gesprächsrunde laden<br />
regelmäßig zum Austausch ein<br />
und geben einer emotionalen<br />
Komponente Raum, die in der<br />
Auseinandersetzung mit dem<br />
Klima selten zur Sprache kommt.<br />
Fabian Lutz hat mit den Psychologiestudentinnen<br />
Marie Roth,<br />
Celina Würth, der Psychologin<br />
Katharina Schatte und mit Dirk<br />
Henn vom Klimaaktionsbündnis<br />
Freiburg gesprochen. Sie alle<br />
wirken hinter und innerhalb von<br />
„Climate Overdose“.<br />
UNIversalis: Wer kam bisher zu euren<br />
Formaten?<br />
Katharina Schatte: Die meisten<br />
Bezahlbare 24-Stunden-Pflege<br />
und Betreuung im eigenen<br />
Zuhause durch liebevolle<br />
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Aus dem Inhalt:<br />
Nachhaltigkeit systemisch<br />
betrachtet3<br />
Nachhaltigkeitskompetenz als<br />
gesellschaftspolitisches Ziel<br />
5<br />
Im Gespräch: Rafia Zakaria,<br />
Autorin 7<br />
Nacktmulle, Alpakas und das<br />
ewige Leben8<br />
Was heißt China auf Chinesisch?<br />
Reich der Mitte!10<br />
Horror der Mutterschaft11<br />
Leon Poliakow: „Vom Hass<br />
zum Genozid. Das Dritte Reich<br />
und die Juden“13<br />
Essen feiert Jubiläum, der<br />
Hagener Impuls bleibt 14<br />
Menschen, die zu uns kommen,<br />
sind im Klimaaktivismus tätig.<br />
Dirk Henn: Druck macht dir das<br />
Thema, wenn es dir bewusst wird.<br />
Das geht zunächst den Menschen<br />
so, die bewusst damit arbeiten, also<br />
zum Beispiel Forstwissenschaften<br />
studieren oder mit Solartechnik zu<br />
tun haben.<br />
UNIversalis: Kommen nicht auch<br />
Menschen zu euch, denen dieser<br />
Druck auch außerhalb eines Klimaaktivismus<br />
bewusst wird? Menschen,<br />
die vielleicht gerade erst auf<br />
die Angst vor einer Klimakatastrophe<br />
stoßen?<br />
Katharina Schatte: In unserer ersten<br />
Gesprächsrunde war jemand,<br />
dem das Thema an sich klar war,<br />
aber der in vielen Bereichen nicht<br />
wusste, wie er entsprechend handeln<br />
soll und deshalb eher verdrängt<br />
hat. Sonst kommen tatsächlich wenig<br />
Leute zu uns, die in einer „Umbruchphase“<br />
sind. Aber natürlich<br />
wäre es schön, wenn sich gerade<br />
solche Menschen in unserem Setting<br />
öffnen würden.<br />
Dirk Henn: Wir sprechen über<br />
eine Situation, in der wir alle stecken.<br />
Die Lebensweise, die wir seit<br />
Jahrzehnten pflegen, hat massive<br />
Folgen für Klima und Umwelt. Es<br />
macht doch keinen Sinn, sich Gedanken<br />
darüber zu machen, wer auf<br />
der einen und wer auf der anderen<br />
Seite steht. Menschen haben nur<br />
verschiedene Vorlieben, mit denen<br />
sie ökologisch über die Stränge<br />
schlagen, ob Ernährung, Mobilität<br />
oder die wunderbare, schlecht gedämmte<br />
Altbauwohnung.<br />
UNIversalis: Was wollt ihr diesen<br />
Menschen mit eurem Angebot bieten?<br />
Katharina Schatte: Wir wollen<br />
zunächst einen Raum für Gefühle<br />
und Gedanken öffnen, für die Überwältigung,<br />
die sich einstellt, wenn<br />
man sich mit der Klimakatastrophe<br />
auseinandersetzt. Diese Überwältigung<br />
kann sich bei der einen<br />
Person schon einstellen, wenn sie<br />
einen entsprechenden Artikel liest,<br />
bei der anderen nach langjährigem<br />
klimapolitischem Engagement. Wir<br />
wollen einen Raum schaffen, der<br />
zwischen Verdrängung und Lösungssuche<br />
liegt.<br />
UNIversalis: Lösungssuche klingt<br />
doch sehr produktiv.<br />
Katharina Schatte: Manche Menschen<br />
versuchen so intensiv nach<br />
Lösungen zu suchen, dass sie emotional,<br />
aber auch energetisch an ihre<br />
Grenzen kommen, bis an den Rand<br />
eines Burn-Outs. Bei uns geht es um<br />
das, was die Auseinandersetzung<br />
mit dem Menschen macht, ohne,<br />
dass wir gleich wissen müssen, wie<br />
das Ganze aufzulösen ist. Natürlich<br />
können auch Lösungen entstehen,<br />
aber das ist nicht unser Fokus.<br />
UNIversalis: Unter dem Begriff<br />
„Doomscrolling“ wird diskutiert,<br />
inwiefern Menschen im Netz von<br />
einer Schreckensnachricht zur anderen<br />
scrollen und sich so negativ<br />
überwältigen. Ist überwältigender<br />
Medienkonsum ein Thema, das euch<br />
beschäftigt?<br />
Marie Roth: Für mich hat das Thema<br />
viel mit Selbstfürsorge zu tun.<br />
News zur Klimakatastrophe sind ja<br />
Den Tod vor Augen. Sorgevoller Klimaprotest<br />
Auslagern<br />
Aufbewahren<br />
Abstellen<br />
blau = C:100 | M:20 | Y:0 | Y: 0 | K: 0<br />
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jederzeit abrufbar. Selbstfürsorge<br />
wäre, sich zu fragen, wie oft und<br />
wie lange man sich dem aussetzt.<br />
Es ist in jedem Fall gesund zu lernen,<br />
die eigenen Grenzen ziehen zu<br />
können. Das ist ein Mittelweg zwischen<br />
dem Ansatz, sich aktiv mit<br />
der Klimakatastrophe zu beschäftigen<br />
und dem, die eigene Psyche zu<br />
schützen.<br />
Katharina Schatte: Für unsere<br />
Formate ist Selbstfürsorge ein ganz<br />
wichtiger Aspekt. Selbstfürsorge<br />
ermöglicht, in der Auseinandersetzung<br />
mit der Klimakatastrophe<br />
handlungsfähig zu bleiben. Vor<br />
einigen Wochen haben wir einmal<br />
über das Stressnotfallprogramm gesprochen.<br />
Das setzt auch ein, wenn<br />
man sich mit diesem Thema beschäftigt.<br />
Man bekommt einen Tunnelblick<br />
und ist nicht mehr wirklich<br />
aufnahmefähig. Man kann Informationen<br />
zwar noch lesen, aber nicht<br />
mehr integrieren. Das einzige Ziel<br />
ist, aus der Situation herauszukommen.<br />
Sonst überschreitet man die<br />
eigenen Grenzen und Ressourcen<br />
und kann auch nicht mehr kreativ<br />
und verbindlich Lösungen finden.<br />
UNIversalis: Was macht ihr, wenn<br />
ihr bei einem Menschen feststellt,<br />
dass sein Stressnotfallprogramm<br />
kein Ende findet? Ich nehme an, die<br />
Grenze zwischen großer Angst und<br />
psychischer Erkrankung kann bei<br />
manchen Menschen, die euch aufsuchen,<br />
bereits überschritten sein.<br />
Katharina Schatte: Den Fall hatten<br />
wir bisher noch nicht, aber<br />
natürlich haben wir uns darüber<br />
bereits intensiv ausgetauscht. Aber<br />
ich bin keine approbierte Psychotherapeutin<br />
und wir sind explizit<br />
kein therapeutisches Angebot. Wir<br />
haben aber Kontakte, auf die wir die<br />
Leute jederzeit verweisen können.<br />
Die Psychologists for Future haben<br />
beispielsweise ein Beratungsteam,<br />
das übergangsweise tätig wird.<br />
UNIversalis: Hat der Ansatz, das<br />
Befinden von Individuen während<br />
der Klimakatastrophe zu betrachten,<br />
eine längere Geschichte oder<br />
betretet ihr mit eurem Angebot<br />
Neuland?<br />
Dirk Henn: Vor vier Jahren haben<br />
britische Psycholog*innen<br />
und Therapeut*innen begonnen,<br />
darüber zu diskutieren, wie mit<br />
der Angst umzugehen ist, die viele<br />
Menschen vor dem Verlust ihrer<br />
Lebensgrundlagen empfinden. Wie<br />
begegnet man einem Problem, das<br />
so umfassend und nicht zu klären<br />
ist? Das Thema ist tabuisiert. Die<br />
Klimakatastrophe ist ein Tabu, ähnlich<br />
wie der Tod. Ein walisischer<br />
Schweizer hat vor einigen Jahren<br />
das Todescafé gegründet, um dort<br />
über das zu sprechen, über das man<br />
in unserer Kultur nicht sprechen<br />
darf. So ein Format wurde für das<br />
Thema Klimakatastrophe auch in<br />
Großbritannien gegründet. Mit<br />
dem Klimacafé hast du einen Ort,<br />
an dem du frei und offen über die<br />
Klimakatastrophe und ihre Abgründe<br />
sprechen kannst.<br />
UNIversalis: Zu diesen Abgründen<br />
gehört auch die Angst, die viele<br />
Menschen empfinden. Ist die eigentlich<br />
schon erforscht?<br />
Dirk Henn: Von dieser spezifischen<br />
Angst, genannt „Eco Anxiety“,<br />
habe ich bisher vor allem in der<br />
englischsprachigen Literatur gelesen.<br />
Sonst kenne ich außerhalb Englands<br />
nur zwei Forscher aus Wien,<br />
die auch zu diesem Phänomen arbeiten.<br />
Ich selbst bin Mitglied bei<br />
der CPA, der Climate Psychology<br />
Alliance, ein Zusammenschluss von<br />
Psycholog*innen, Psychotherapeut*innen<br />
und Klimaaktivist*innen, die zu<br />
dieser Frage arbeiten. Ein weiterer<br />
wichtiger Vertreter sind die bereits<br />
erwähnten Psychologists for Future.<br />
Dass das Thema mit dieser Aufmerksamkeit<br />
begleitet wird, ist aber<br />
eher neu.<br />
UNIversalis: Mit den Initiativen<br />
kommen wir zu eurem Programm<br />
zurück und damit zum Umgang<br />
mit der Angst vor der Klimakrise.<br />
Wie nähert ihr euch dieser Angst<br />
in euren zwei Formaten an? Nutzt<br />
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ihr bestimmte Techniken? Der Veranstaltungsort<br />
der Gesprächsrunde<br />
im Tibet Kailash Haus lässt an Meditation<br />
denken.<br />
Katharina Schatte: Einen konfessionellen<br />
Bezug zum Tibet<br />
Kailash Haus haben wir nicht. Die<br />
Raumsuche ging über persönliche<br />
Kontakte. In der Gesprächsrunde<br />
nutzen wir Achtsamkeitsübungen,<br />
aber ohne Bezug auf den Buddhismus.<br />
Sie dienen der Rahmung zu<br />
Anfang und Abschluss der Runde.<br />
Ansonsten ist es von den aktuell<br />
fünf Leitenden der Gesprächsrunde<br />
mit ihren unterschiedlichen Grundausbildungen<br />
abhängig, welche<br />
Techniken der Kontakt und Prozessgestaltungen<br />
genutzt werden.<br />
Einen festen Übungsplan für die<br />
Sitzungen der Gesprächsrunde gibt<br />
es nicht.<br />
UNIversalis: Und euer erstes Format,<br />
das Klimacafé, bezieht sich<br />
mehr auf das gemeinsame Sprechen?<br />
Katharina Schatte: Ja, im Klimacafé<br />
werden Themen und Fragestellungen<br />
angesprochen, die wir<br />
in der Gesprächsrunde emotional<br />
vertiefen können. Im Klimacafé soll<br />
es zudem weniger Anleitung geben.<br />
Dirk Henn: Das Klimacafé ist ein<br />
gastlicher Ort, an dem man bei Kaffee<br />
und Kuchen über seine Gefühle<br />
zum Thema der Klimakatastrophe<br />
sprechen kann. Wir bieten auch<br />
deshalb zwei Formate an, weil je<br />
nach Neigung des Menschen das<br />
eine oder andere passender sein<br />
kann. Auch die Ortstrennung ist<br />
uns wichtig. Mit dem Tibet Kailash<br />
Haus hat die Gesprächsrunde einen<br />
geschützten Ort. Für das Klimacafé<br />
haben wir mit dem Klimaaktionsbüro<br />
am Lederleplatz einen Ort mit<br />
Übergang zur Öffentlichkeit.
2 UNIversalis-Zeitung Sommer 2022<br />
UNIversalis: Kommen wir zum<br />
Schnittpunkt von Politik und Emotion,<br />
dem Verhältnis von globaler<br />
Katastrophe und persönlichem<br />
Empfinden. Auch wenn das Klimacafé<br />
im Büro des Klimaaktionsbündnisses<br />
zu finden ist, soll es dort<br />
nach eurer Ankündigung nicht um<br />
Klimadiskussionen, sondern um<br />
Gefühle gehen. Lässt sich das angesichts<br />
eines immanent politischen<br />
Themas wie das der Klimakatastrophe<br />
überhaupt trennen?<br />
Dirk Henn: Wir leben in einer Kultur,<br />
die sich der Klimakatastrophe<br />
eher rational annähert. Genau das<br />
aber ist Bestandteil des Problems.<br />
Denn wir erfahren die Klimakatastrophe<br />
in erster Linie auf der<br />
körperlichen Ebene. Es ist wichtig,<br />
einen Raum zu haben, wo ich über<br />
meine Gefühle und Körperwahrnehmungen<br />
sprechen kann. Auch<br />
im Klimacafé geht es nicht um Aktionen<br />
oder deren Beurteilung. Wir<br />
stellen die Frage, wie man einen<br />
solchen Raum halten kann, gegenüber<br />
einem Thema, das so unendlich<br />
überwältigend ist.<br />
UNIversalis: Was ist, wenn eure<br />
Teilnehmenden als Teil der bestehenden<br />
Kultur doch lieber rationalisieren<br />
wollen? Wie geht ihr damit<br />
um?<br />
Katharina Schatte: Wir treffen auf<br />
Menschen, die unsere Art des Austauschs<br />
gewöhnt sind, aber auch<br />
Menschen, die erst einmal Probleme<br />
haben, eine solche Innenschau zu<br />
praktizieren. Diese Menschen haben<br />
Schwierigkeiten, von einer rein<br />
inhaltlichen Ebene wegzukommen.<br />
Dann braucht es Strukturen und<br />
gegebenenfalls ein Eingreifen von<br />
Moderator*innenseite. Sonst würde<br />
die Begegnung schnell in inhaltliche<br />
Diskussionen abschweifen. Genügend<br />
Räume, in denen inhaltliche<br />
Diskussionen zum Thema möglich<br />
sind, gibt es ja. Zudem ermöglicht<br />
unsere Ausrichtung, dass es nicht so<br />
Celina Würth, Katharina Schatte, Dirk Henn, Marie Roth<br />
schnell zu Spaltungen kommt.<br />
UNIversalis: Wie das?<br />
Katharina Schatte: Auf einer<br />
emotionalen Ebene sind wir alle<br />
miteinander verbunden. Ob ich das<br />
Thema Klima verdränge oder sehr<br />
aktiv bin, wenn ich emotional in<br />
Kontakt komme, spüre ich Angst<br />
und Verzweiflung. Darüber können<br />
wir uns einander annähern. Auf der<br />
Diskussionsebene entstehen schnell<br />
verschiedene Fronten.<br />
UNIversalis: Mit der Spaltung<br />
sprichst du ein realgesellschaftliches<br />
Problem an. Ein lauter Teil<br />
der Bevölkerung zeigt sich mit Begriffen<br />
wie „Klimahysterie“ oder<br />
„Ökodiktatur“ weniger über die<br />
Klimakrise als über einen bevormundenden<br />
Klimaaktivismus besorgt.<br />
Hättet ihr gern auch Menschen<br />
mit solchen starken Emotionen<br />
in euren Formaten?<br />
Katharina Schatte: Auch Menschen<br />
mit solchen Emotionen sind<br />
bei uns herzlich willkommen. Es<br />
wäre schön, wenn wir auch diese<br />
Form der Spaltung überwinden<br />
könnten. Wichtig wäre nur, dass<br />
sich alle Seiten darauf einlassen.<br />
Man muss sich darauf einlassen,<br />
nicht inhaltlich zu diskutieren, sondern<br />
gemeinsam auf eine emotionale<br />
Ebene zu kommen. Ich glaube,<br />
dass man sich dabei treffen würde.<br />
Wut kann als sekundäre Emotion<br />
zum Beispiel auch Ausdruck einer<br />
Verdrängung sein.<br />
Dirk Henn: Die Ablehnung, die du<br />
beschreibst, kann auch Ausdruck<br />
von „Eco Anxiety“ sein.<br />
Katharina Schatte: Der Widerstand<br />
gegen einen Klimaaktivismus<br />
ist erst einmal eine ganz normale<br />
Reaktion. Wenn jemand vor<br />
mir steht und mich anklagt, kann es<br />
leicht passieren, dass ich erst einmal<br />
Widerstand spüre, vielleicht auch<br />
wegen einem Gefühl von Schuld.<br />
Und mit dem Widerstand und meiner<br />
Wut gehe ich dann auf die Barrikaden.<br />
Ich fühle mich nicht wohl,<br />
schiebe aber eine andere Emotion<br />
vor, um einen Umgang mit meiner<br />
Unsicherheit zu finden.<br />
UNIversalis: Ein Artikel in der taz<br />
vom 2./3. April fragt, ob die öffentlich<br />
ausgetragene Auseinandersetzung<br />
mit der eigenen Befindlichkeit<br />
in globaler Krisenzeit nicht auch<br />
„Ausdruck privilegierter Weinerlichkeit“<br />
sei. Angesichts des immensen<br />
Leids, das Menschen im globalen<br />
Süden durch den Klimawandel<br />
unmittelbar erleiden, stellt sich tatsächlich<br />
die provokante Frage, ob<br />
die öffentliche Verhandlung unseres<br />
Leidens im schönen Ländle nicht<br />
vielleicht auch sehr privilegiert ist.<br />
Dirk Henn: Von der Zerstörung<br />
dieser Erde sind alle Menschen<br />
betroffen. Dass wir in Europa und<br />
besonders in Deutschland mit unserem<br />
Handeln andere Menschen in<br />
der Welt den Folgen besonders stark<br />
aussetzen, ist Teil des Schmerzes,<br />
der Sorge und der Angst. Wenn uns<br />
bewusst wird, dass wir das Thema<br />
Klimagerechtigkeit in keinster Weise<br />
angemessen angehen und wir<br />
daran leiden, was soll dann daran<br />
falsch oder verwerflich sein?<br />
Marie Roth: Wenn man darauf hinweist,<br />
dass diese Angst und dieses<br />
Leiden nicht sein dürfen, kommen<br />
wir doch wieder zu der Tabuisierung,<br />
die Dirk angesprochen hatte.<br />
Wenn eine Person einen solchen<br />
Artikel liest und sich wegen seinen<br />
negativen Gefühlen zusätzlich<br />
schlecht fühlt, bedeutet das eine<br />
weitere Leidensebene.<br />
Katharina Schatte: Man kann sich<br />
dem Leid öffnen und sich darüber<br />
mit sich selbst und anderen Menschen<br />
verbinden, auch auf einem<br />
anderen Teil der Erde. Wenn man<br />
sich diesem Gefühl nicht öffnet,<br />
haben wir die Trennung, die du beschrieben<br />
hast, also zwischen den<br />
Menschen hier und den Menschen<br />
dort.<br />
UNIversalis: Falsch kann Fühlen<br />
nicht sein, aber eventuell lähmen<br />
– und dann käme jede Solidarität<br />
und Hilfe mit stärker Betroffenen<br />
vielleicht zu spät.<br />
Dirk Henn: Solange du die Abgründe<br />
deiner Handlungen nicht<br />
Foto: Dirk Henn<br />
wirklich annimmst, bist du kaum<br />
handlungsfähig. Deshalb haben wir<br />
auch unser Angebot gestartet. Wir<br />
sehen doch, welches unendliche<br />
Maß an Leid das Thema Klimakatastrophe<br />
verursacht. Hier wie da.<br />
Erst wenn wir dafür einen geschützten<br />
Raum halten, können wir damit<br />
arbeiten. Sonst sind wir konstant<br />
überfordert.<br />
UNIversalis: Kommen wir am Ende<br />
zu eurer Motivation hinter „Climate<br />
Overdose“. Wie viel Optimismus<br />
braucht ihr, um euch diesem Thema<br />
zu stellen?<br />
Katharina Schatte: Gar keinen.<br />
(lacht) Es geht uns ja nicht darum,<br />
optimistisch Perspektiven und Lösungen<br />
zu entwickeln, sondern mit<br />
dem zu sein, was gerade ist. Und<br />
das muss kein Optimismus sein.<br />
Aus der Öffnung darf das Leidvolle<br />
entstehen, aber auch Verbundenheit.<br />
Etwas Rosiges muss ich mir dafür<br />
nicht ausmalen.<br />
Celina Würth: Mir geben unsere<br />
Formate auch Verbundenheit.<br />
Ich fühle mich nicht mehr allein<br />
mit meinen Gefühlen. Ich weiß,<br />
dass es anderen auch so geht und<br />
fühle mich eingebettet. Ich würde<br />
es nicht Optimismus nennen, aber<br />
ich bekomme durch den Austausch<br />
wieder Kapazitäten, um ins Handeln<br />
zu kommen. Ich finde das sehr<br />
wertvoll.<br />
UNIversalis: Bekommt ihr diese<br />
Verbundenheit auch von den Teilnehmenden<br />
gespiegelt?<br />
Katharina Schatte: Ja, das Feedback<br />
bekommen wir: Nicht allein zu<br />
sein, sich verbunden zu fühlen und<br />
daraus gestärkt hervorzugehen. Und<br />
das ist in beiden Formaten, dem<br />
Klimacafé und der Gesprächsrunde<br />
der Fall. Für das Klimacafé ist auch<br />
zentral, dass niemand von außen<br />
kommt und etwas hineingibt, das<br />
allen gut tun soll, sondern es ist immer<br />
der gemeinsame Kreis.<br />
Dirk Henn: Im Klimaaktionsbündnis<br />
experimentieren wir auch<br />
mit Ansätzen, die wir bei „Climate<br />
Overdose“ anwenden. Dabei merken<br />
wir, dass wir für den ständigen<br />
Kontakt mit dem Thema Klimagerechtigkeit<br />
die Fähigkeit brauchen,<br />
für uns zu sorgen. Du kannst durch<br />
die Selbstfürsorge auch bestärkt<br />
werden, weniger, dafür aber dauerhaften<br />
Aktivismus zu praktizieren.<br />
Was du erleben kannst, und das<br />
reicht über alle unsere Angebote<br />
hinaus, ist: Auch aus dem Einlassen<br />
auf diese schwierigen Themen können<br />
Zuversicht und Verbundenheit<br />
erwachsen.<br />
Das Klimacafé findet jeden 3. Samstag<br />
im Monat, 16–17:30 Uhr im Klimaladen<br />
am Lederleplatz statt, die<br />
Climate Overdose Gesprächsrunde<br />
jeden 1. Samstag im Monat, 16–18<br />
Uhr im Tibet Kailash Haus. Das<br />
Programm ist ein Angebot der Psychologists<br />
for Future Freiburg und<br />
dem Klimaaktionsbündnis Freiburg.<br />
Du studierst –<br />
Wir machen den Rest!<br />
Das Studierendenwerk Freiburg<br />
D<br />
as Studierendenwerk Freiburg<br />
(SWFR) ist für Studierende<br />
der staatlichen<br />
Hochschulen in Freiburg,<br />
Furtwangen, Villingen-Schwenningen,<br />
Offenburg, Gengenbach,<br />
Kehl und Lörrach zuständig.<br />
Alle Studierenden dieser Hochschulen<br />
zahlen jedes Semester einen Semesterbeitrag,<br />
der sie dazu berechtigt,<br />
die Leistungen des SWFR zu<br />
nutzen:<br />
WOHNEN: Wir helfen durch unsere<br />
Zimmervermittlung ein Zimmer<br />
auf dem freien Wohnungsmarkt zu<br />
finden, bieten günstigen Wohnraum<br />
in unseren Wohnheimen und alternative<br />
Wohnprojekte wie Wohnen<br />
für Hilfe.<br />
ESSEN & TRINKEN: In unseren<br />
Mensen kochen wir täglich preisgünstige,<br />
ausgewogene Mahlzeiten<br />
aus hochwertigen Zutaten – auch<br />
vegetarisch und vegan. Fair gehandelter<br />
Kaffee und Backwaren aus<br />
der Region gibt es in unseren Cafeterien.<br />
GELD: Die finanzielle Förderung<br />
durch das Bundesausbildungsförderungsgesetz<br />
(BAföG) ist eine<br />
unserer Hauptaufgaben. Unsere<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
informieren über die gesetzlichen<br />
Vorschriften und helfen beim Antragstellen.<br />
Außerdem beraten wir<br />
über weitere Finanzierungshilfen<br />
wie Studienkredite, Stipendien<br />
oder Darlehen. Und in unserer Jobvermittlung<br />
findet man studentische<br />
Nebenjobs.<br />
BERATUNG & SOZIALES: Unsere<br />
Sozialberatung hat Informationen<br />
zur Krankenversicherung,<br />
zum Ausländerrecht, zum Wohngeld<br />
oder zu Sozialleistungen. Für<br />
Studierende mit Nachwuchs bieten<br />
wir Kindertagesstätten oder helfen<br />
bei der Suche nach einem Kindergartenplatz<br />
oder anderer Betreuung.<br />
Ein Anwalt hilft bei Rechtsfragen.<br />
Und wer zwischendurch mal in eine<br />
Krise gerät, ist in unserer Psychotherapeutischen<br />
Beratungsstelle<br />
gut aufgehoben. Unsere Therapeutinnen<br />
und Therapeuten helfen bei<br />
persönlichen oder studienbedingten<br />
Problemen. Außerdem bieten wir<br />
regelmäßig Seminare und Workshops<br />
zu Stressbewältigung, Prüfungsangst<br />
oder Selbstmanagement<br />
an.<br />
Infoladen SWFR<br />
VERANSTALTUNGEN: Ebenso<br />
wichtig wie Essen, Wohnen und<br />
Finanzen ist es, andere Leute kennenzulernen.<br />
Bei unseren Sport- &<br />
Freizeitangeboten, bei den Studitours<br />
oder im Internationalen<br />
Club findet man leicht Kontakt.<br />
In unserer MensaBar im Foyer<br />
der Mensa Rempartstraße, gibt es<br />
während des Semesters ein vielfältiges<br />
Veranstaltungsprogramm<br />
mit Musik, Party, Film, Comedy,<br />
Slam, Ping Pong Club u.v.a. mehr.<br />
Und im Sommersemester findet alles<br />
open air im MensaGarten statt.<br />
Die studentische Musicalgruppe des<br />
Studierendenwerks, das MONDO<br />
Musiktheater, zeigt diesen Sommer<br />
im MensaGarten ihre 20er-<br />
Jahre-Revue CRASH,,,BANG…<br />
BOOM!!! Wer mitmachen will, ist<br />
willkommen.<br />
Unser Infoladen, unsere Broschüren<br />
und unsere Website informieren<br />
umfassend über alle Angebote und<br />
Aktivitäten. Täglich Neues gibt es<br />
auf unseren Social Media Kanälen.<br />
©Christoph Düppner<br />
Infoladen des Studierendenwerks,<br />
Basler Str. 2, 79100 Freiburg<br />
Mo - Fr 9 - 17 Uhr, Tel. 0761 2101-<br />
200, info@swfr.de<br />
www.swfr.de<br />
www.instagram.com/studierendenwerk_freiburg<br />
www.facebook.com/studierendenwerk.freiburg<br />
twitter.com/studentenwerkfr<br />
studierendenwerkfreiburg.wordpress.com
Sommer 2022 UNIversalis-Zeitung 3<br />
Nachhaltigkeit systemisch betrachtet<br />
Im Gespräch: Prof. Dr. Michael Pregernig, Fachmann für Nachhaltigkeit im gesellschaftspolitischen Kontext<br />
P<br />
rof. Dr. Michael Pregernig<br />
ist ausgewiesener<br />
Fachmann für Nachhaltigkeit<br />
im gesellschaftspolitischen<br />
Kontext. Wie Umweltpolitik<br />
an der Schnittstelle<br />
von Forschung, Politik und Gesellschaft<br />
funktionieren (kann),<br />
dazu hat Julian Hienstorfer ihn<br />
befragt.<br />
UNIversalis: Herr Pregernig, Sie<br />
haben den Lehrstuhl für Sustainability<br />
Governance der Universität<br />
Freiburg inne. Könnten Sie kurz<br />
skizzieren, worum es sich dabei<br />
handelt?<br />
Pregernig: In der Lehre sind wir<br />
vor allem für den internationalen<br />
Master of Science Studiengang<br />
„Environmental Governance“ –<br />
kurz MEG – zuständig, der in Freiburg<br />
bereits 2005 gegründet wurde.<br />
Studiengänge, die Umwelt und ein<br />
breiteres Spektrum an Sozialwissenschaften<br />
zusammendachten,<br />
gab es damals noch recht wenige.<br />
Es existierten lediglich solche, die<br />
entweder rein politikwissenschaftliche<br />
Zugänge zu Nachhaltigkeit<br />
und Umwelt wählten oder sich auf<br />
einen naturwissenschaftlich-technischen<br />
Zugang fokussierten. Der<br />
MEG ist dazwischen angesiedelt,<br />
er ist dezidiert interdisziplinär.<br />
UNIversalis: Inwiefern ist dieser<br />
Ansatz eine Besonderheit?<br />
Pregernig: Typischerweise sind<br />
Studiengänge noch stark an einzelne<br />
Disziplinen geknüpft – was wohl<br />
aus ihrer Verortung in disziplinär<br />
organisierten Fakultäten resultiert.<br />
Damit lassen sich viele Umweltund<br />
Nachhaltigkeitsproblematiken<br />
aber nicht ganzheitlich greifen.<br />
Die Idee unseres Studiengangs war<br />
es, ein besonderes Augenmerk auf<br />
disziplinare Offenheit zu legen, um<br />
damit integrative und querschneidende<br />
Fragestellungen adäquater<br />
angehen zu können. Mein persönliches<br />
Forschungsinteresse ist dabei<br />
die Schnittstelle zwischen Wissenschaft,<br />
Politik und Gesellschaft.<br />
Wie die wechselseitige Kommunikation<br />
gelingen kann – damit habe<br />
ich mich in den letzten Jahren viel<br />
beschäftigt.<br />
UNIversalis: Wie werden denn<br />
wissenschaftliche Erkenntnisse von<br />
der Universität in die Öffentlichkeit<br />
getragen?<br />
Pregernig: In der öffentlichen<br />
Diskussion ist bisher besonders<br />
die Schnittstelle von Wissenschaft<br />
und Politik problematisiert worden.<br />
Eine Verbreiterung der Debatte in<br />
Richtung einer Schnittstelle zwischen<br />
Wissenschaft und zivilgesellschaftlichen<br />
Akteuren – aber auch<br />
der Wirtschaft – fand erst in den<br />
letzten Jahren statt.<br />
UNIversalis: Wie können denn<br />
diese Schnittstellen nun verbessert<br />
werden?<br />
Pregernig: Ich glaube, dass man<br />
hier nicht erst am Ende der Kette,<br />
bei der Wissenschaftskommunikation,<br />
ansetzen darf, sondern dass<br />
schon bei der Frage begonnen<br />
werden muss, welche Forschung<br />
denn überhaupt gefördert wird.<br />
Da hat sich in den letzten Jahren<br />
ein starker Trend in Richtung problembezogener<br />
Forschungsprogramme<br />
gezeigt, zum Beispiel zu<br />
Biodiversität, Klimaschutz oder<br />
Kreislaufwirtschaft. Gerade aus den<br />
Fachministerien heraus kommt der<br />
Ruf nach Forschung, an deren Ende<br />
anwendbare Ergebnisse stehen. Das<br />
ist nicht immer einfach. Daneben<br />
braucht es natürlich auch weiter<br />
grundlagenorientierte Forschung.<br />
UNIversalis: Wie schätzen Sie denn<br />
den Umgang mit den wissenschaftlichen<br />
Ergebnissen ein? Pickt man<br />
sich da die Rosinen heraus oder<br />
werden auch ambivalente Ergebnisse<br />
akzeptiert?<br />
Pregernig: Es gibt dieses Cherry-<br />
Picking durchaus. Gerade in kontroversen<br />
Feldern wie der Umweltpolitik<br />
– Stichwort Kohleausstieg<br />
– ist es wenig verwunderlich, dass<br />
es kracht, wenn ökonomische, soziale<br />
und ökologische Interessen aufeinandertreffen.<br />
Da suchen sich die<br />
jeweiligen Interessensvertretungen<br />
jene wissenschaftlichen Ergebnisse<br />
heraus, die ihre Belange am besten<br />
befördern.<br />
Ein Problem sehe ich auch darin,<br />
wie man sich den Transfer von<br />
wissenschaftlichen Ergebnissen<br />
vorstellt. Wenn man hier erwartet,<br />
dass die Wissenschaft lediglich einen<br />
Bericht vorlegt und Politik und<br />
gesellschaftliche Akteure damit machen<br />
können, was sie wollen, dann<br />
überrascht es nicht, wenn nur das<br />
aus den Ergebnissen herausgelesen<br />
wird, was den jeweiligen Interessen<br />
entspricht.<br />
Diesem – meiner Meinung nach<br />
naiven –Transferbild versucht man<br />
nun auch von wissenschaftlicher<br />
Seite aus zu begegnen.<br />
UNIversalis: Wie kann man denn<br />
etwas dagegen tun?<br />
Pregernig: Ein Trend, der dem<br />
entgegenwirkt, ist der der transdisziplinären<br />
und transformativen<br />
Forschung. Darunter versteht man<br />
einen Modus von Wissenschaft,<br />
der nicht nur verschiedene wissenschaftliche<br />
Disziplinen zusammenbringt,<br />
sondern auch gesellschaftliche<br />
Akteure in den Forschungsprozess<br />
miteinbezieht.<br />
Bereits in der Phase der Formulierung<br />
von Forschungsfragen werden<br />
zivilgesellschaftliche Akteure, also<br />
Foto: privat<br />
organisierte Bürger:innenschaften<br />
eingeladen, ihre Interessen zu formulieren.<br />
Auch im Forschungsprozess<br />
selbst werden die gesellschaftlichen<br />
Akteure inkludiert. Wenn<br />
man in diesen Formaten forscht,<br />
ist die Gefahr, dass am Ende ein<br />
Cherry-Picking stattfindet, deutlich<br />
geringer, weil die verschiedenen<br />
Akteure von Beginn an involviert<br />
waren. In Baden-Württemberg<br />
wurde diese Art von Forschung zuletzt<br />
unter anderem durch die sogenannten<br />
„Reallabore“ vom Wissenschaftsministerium<br />
recht prominent<br />
gefördert.<br />
UNIversalis: Was kann man denn<br />
unter einem solchen Reallabor verstehen?<br />
Pregernig: Ein Reallabor ist ein<br />
Forschungskontext, in dem zivilgesellschaftliche<br />
Akteure, aber auch<br />
Unternehmen, politische Akteure<br />
und solche der Verwaltung zusammen<br />
mit der Wissenschaft versu-<br />
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4 UNIversalis-Zeitung Sommer 2022<br />
Der AOK Studenten-Service.<br />
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AOK Baden-Württemberg<br />
Die Gesundheitskasse Südlicher Oberrhein.<br />
chen, Probleme zu benennen, zu<br />
beforschen und aus all dem etwas<br />
zu lernen. Vor ein paar Jahren hatten<br />
wir an der Universität Freiburg<br />
beispielsweise ein Reallabor im und<br />
zusammen mit dem Nationalpark<br />
Schwarzwald. Auch mit der Stadt<br />
Freiburg hat unsere Fakultät schon<br />
in zahlreichen transdisziplinären<br />
Projekten zusammengearbeitet.<br />
UNIversalis: Nun gibt es auf Bundesebene<br />
seit kurzem auch das Ministerium<br />
für Wirtschaft und Klimaschutz.<br />
Ist das Symbolpolitik oder<br />
ist die Politik auch auf dieser Ebene<br />
sensibler für das Thema Nachhaltigkeit<br />
geworden?<br />
Pregernig: Die Hoffnung, dass diese<br />
Themen in Zukunft prominenter<br />
sein werden, besteht durchaus. Da<br />
ist mittlerweile der Problemdruck<br />
zu groß geworden, um sich wegzuducken.<br />
Der Klimawandel und seine<br />
Folgen sind schlicht und ergreifend<br />
nicht mehr wegzuleugnen; ein<br />
Trockenfrühling und Hitzesommer<br />
folgt auf den nächsten. Die Politik<br />
bewegt sich, und die Grünen sind<br />
da sicherlich ein progressiverer<br />
politischer Akteur. Aber man sieht<br />
auch, dass sich konservativere,<br />
wirtschaftsorientiertere Parteien<br />
Umwelt- und Klimaschutz auf die<br />
Fahnen schreiben. Klimapolitik ist<br />
zum Mainstream geworden.<br />
UNIversalis: Aber wie viel ist denn<br />
dabei „auf die Fahnen schreiben“<br />
und wie viel ist tatsächliche Umsetzung?<br />
Pregernig: Es muss noch viel getan<br />
werden, die Probleme sind riesig<br />
und es geht mitunter doch noch in<br />
recht kleinen Schritten voran. Aber<br />
beispielsweise das neue Ministerium<br />
für Wirtschaft und Klimaschutz,<br />
von dem wir vorhin gesprochen haben,<br />
finde ich in seinem Zuschnitt<br />
spannend. Zunächst klingt es widersprüchlich,<br />
dass da ein Minister für<br />
Wirtschaft auf der einen und Klimaschutz<br />
auf der anderen Seite zuständig<br />
sein soll. Manche mögen sagen:<br />
Es ist vor allem die Wirtschaft, die<br />
den Klimaschutz infrage stellt. Ich<br />
sehe diese Verbindung aber als<br />
große Chance, weil damit nicht<br />
ein Ministerium dem anderen den<br />
schwarzen Peter zuschieben kann,<br />
sondern Widersprüche innerhalb<br />
einer Verwaltungseinheit aufgelöst<br />
werden müssen.<br />
Früher war Umweltpolitik sehr silomäßig<br />
strukturiert: Es gab ein<br />
Umweltministerium, ein Agrarministerium<br />
und ein Verkehrsministerium.<br />
Wenn man sich aber<br />
fragt, wo die Umweltprobleme<br />
denn eigentlich herkommen, dann<br />
wird deutlich, dass es beispielsweise<br />
agrarische Strukturen sind,<br />
die zu Nitrat-Problemen oder Biodiversitätsverlust<br />
führen. Es sind<br />
bestimmte Formen der Mobilität,<br />
die zu Emissionen führen. Diese<br />
Beispielreihe ließe sich fortführen.<br />
Man wäre politisch besser<br />
gefahren, wenn man bereits früher<br />
querschneidende, integrativere Verwaltungseinheiten<br />
geschaffen hätte.<br />
Jetzt gibt es mit dem neuen Ministerium<br />
aber die große Chance, Wirtschaft<br />
und Klima unter einen Hut zu<br />
bekommen. Klimaschutz kann nur<br />
dann effektiv sein, wenn er auch<br />
von der Wirtschaft betrieben wird –<br />
und er wird es auch.<br />
UNIversalis: Das ist ein interessanter<br />
Punkt. Haben Sie dafür ein<br />
Beispiel?<br />
Pregernig: Wenn Sie sich den letzten<br />
Klimagipfel in Glasgow ansehen,<br />
dann ist auf der politischen<br />
Ebene nicht allzu viel vorangegangen.<br />
Im Vorfeld der Konferenz<br />
haben aber einige große Pensionsfonds<br />
und Versicherungsunternehmen<br />
beschlossen, dass es für sie<br />
mittelfristig nicht mehr tragbar ist,<br />
in fossile Energien zu investieren.<br />
Dementsprechend werden jetzt<br />
auch ihre Portfolios umgestellt, sodass<br />
beispielsweise nur noch in Unternehmen<br />
investiert wird, die auf<br />
erneuerbare Energien setzen.<br />
UNIversalis: Die Wirtschaft wird<br />
somit also zum Triebfaktor der<br />
Nachhaltigkeit?<br />
Pregernig: Diese Unternehmen tun<br />
das nicht aus altruistischen Gründen,<br />
sondern weil das altbewährte<br />
Business-Modell zusammengebrochen<br />
ist. Es macht für sie keinen<br />
Sinn mehr, in große Öl- oder<br />
Gasunternehmen zu investieren,<br />
weil ihre Kunden das nicht akzeptieren<br />
oder weil sie damit rechnen<br />
müssen, dass die Politik in einigen<br />
Jahren Regulierungen bringen<br />
wird. Dieser Trend „raus aus den<br />
fossilen Energien“ hat sich mit dem<br />
schrecklichen russischen Angriffskrieg<br />
in der Ukraine nun nochmal<br />
beschleunigt.<br />
Zurück zu Ihrer Frage: Ja, ich sehe<br />
Wirtschaftsakteure durchaus als<br />
wichtigen Triebfaktor. Wenn große<br />
Versicherungen oder Investmentfonds<br />
beginnen umzudenken, dann<br />
lässt sich dadurch viel verändern.<br />
Das heißt aber nicht, dass es für<br />
große Transformationen nicht auch<br />
anderer gesellschaftlicher Akteure<br />
bedarf. Wirtschaftliche Sektoren<br />
haben sich ja nicht zuletzt deshalb<br />
zu bewegen begonnen, weil soziale<br />
Bewegungen dies – zum Teil lautstark<br />
auf der Straße – eingefordert<br />
haben.<br />
UNIversalis: Sie denken an Bewegungen<br />
wie Fridays for Future?<br />
Pregernig: Genau. Aber daneben<br />
gibt es auch noch eine ganze Bandbreite<br />
von Umweltverbänden: vom<br />
moderaten WWF über Greenpeace<br />
bis hin zu radikaler argumentierenden<br />
und handelnden Gruppen<br />
wie Extinction Rebellion. Ohne die<br />
wären Wirtschaftsakteure sicherlich<br />
nicht ganz so progressiv, wie sie es<br />
im Moment sind. Das Zusammenspiel<br />
von staatlicher Politik, Unternehmensstrategien,<br />
aber auch von<br />
Aktionen zivilgesellschaftlicher<br />
Akteure macht in der Summe erst<br />
erklärbar, wie und warum Umweltpolitik<br />
funktioniert – oder eben<br />
auch nicht.<br />
UNIversalis: Wie gefährlich ist es<br />
denn, bei den Themen Umwelt und<br />
Nachhaltigkeit – und vielleicht auch<br />
besonders in Freiburg – in eine intrinsischen<br />
Argumentations-Bubble<br />
zu geraten und Teile der Bevölkerung<br />
gar nicht zu erreichen?<br />
Pregernig: Vielleicht kurz vorab:<br />
Freiburg sieht und verkauft sich erfolgreich<br />
als Green City. Wenn man<br />
es historisch betrachtet, ist es sicherlich<br />
so, dass die Stadt in gewissen<br />
Themen Vorreiter war. Heute<br />
ist Freiburg in manchen Bereichen<br />
nach wie vor recht progressiv, in<br />
anderen vielleicht nur gutes Mittelfeld.<br />
Dies gilt vor allem, wenn<br />
man nicht nur auf Fragen der Umwelt,<br />
sondern auf Nachhaltigkeit<br />
schaut, wo ja neben Ökologie auch<br />
ökonomische sowie soziale Verteilungs-<br />
und Gerechtigkeitsfragen<br />
berücksichtigt werden. Besonders<br />
drastisch sieht man das in Freiburg<br />
am Beispiel der Wohnraumfrage.<br />
Ich weiß, dass Dietenbach für viele<br />
ein rotes Tuch ist, aber zu sagen,<br />
dass in Freiburg nicht gebaut werden<br />
darf, führt dazu, dass die, die<br />
es sich leisten können, in Freiburg<br />
bleiben und die, die es nicht können,<br />
in die Randlagen verdrängt<br />
werden. Das ist wiederum umweltpolitisch<br />
problematisch, weil die<br />
Flächenversiegelung dann einfach<br />
woanders stattfindet, nachhaltige<br />
Mobilitätslösungen auf dem Land<br />
schwerer realisierbar sind als in<br />
der Stadt. An diesem Beispiel zeigt<br />
sich, wie wichtig es ist, dass Probleme<br />
integrativ und systemisch<br />
betrachtet werden.<br />
UNIversalis: Da haben Sie sicherlich<br />
recht. Kann man in Freiburg<br />
also von Bubble-Verdrängungsmechanismen<br />
sprechen?<br />
Pregernig: Die Gefahr der Bubble<br />
besteht durchaus. Wir legen deshalb<br />
gerade in unserem Studiengang auf<br />
eine systemische Betrachtung großen<br />
Wert. Ernährung, Mobilität und<br />
Klima können nicht eng sektoral<br />
gedacht werden, sondern müssen<br />
als System verstanden werden.<br />
Dazu gehört auch, dass lokale Fragen<br />
global gedacht werden müssen.<br />
Ein Teil der umweltpolitischen<br />
Erfolgsgeschichte Deutschlands<br />
beruht ja darauf, dass wir negative<br />
Effekte externalisiert haben. Der<br />
Industriestandort Deutschland ist<br />
unter anderem deshalb so „sauber“,<br />
weil wir mittlerweile vieles, billig<br />
– und oft auch schmutzig – in anderen<br />
Ländern produzieren lassen. Bei<br />
uns gibt es regelmäßig einen Aufschrei,<br />
wenn wir hören, dass Rohstoffe<br />
andernorts unter umwelt- und<br />
menschenrechtlich bedenklichen<br />
Bedingungen produziert werden.<br />
Dieser Aufschrei ist legitim; aber<br />
die „moralische Last“ liegt letztendlich<br />
auch bei uns, weil es unser<br />
Konsum ist, der diese Produktionssysteme<br />
stützt.<br />
UNIversalis: Es gibt das Format<br />
der Freiburger Umweltgespräche,<br />
bei denen Sie zuletzt auch selbst<br />
einen Vortrag gehalten haben. Ist<br />
das eine Möglichkeit, gesamtgesellschaftlich<br />
in den Dialog über<br />
Nachhaltigkeit zu treten?<br />
Pregernig: Es ist zumindest ein erster<br />
Versuch. Mit dem Jazzhaus als<br />
Veranstaltungsort gelingt es auch,<br />
diversere Gruppen anzusprechen.<br />
An der Universität, an der solche<br />
Formate bisher liefen, bleibt es halt<br />
doch recht „akademisch“. Gleichzeitig<br />
sieht man selbst im Jazzhaus<br />
eine gewisse Schieflage. Bei den<br />
Umweltgesprächen sind es schon<br />
auch immer wieder die „üblichen<br />
Verdächtigen“ im Publikum: Eher<br />
die Leute, die in zivilgesellschaftlichen<br />
Initiativen aktiv sind oder<br />
sich in der Verwaltung mit diesen<br />
Themen beschäftigen. Einen wirklichen<br />
Querschnitt der Bevölkerung<br />
stellt das nicht dar.<br />
UNIversalis: Haben Sie Zuversicht,<br />
dass sich das ändern lässt?<br />
Pregernig: Im Bereich Umweltbildung<br />
wird einiges getan. Da ist<br />
die Stadt Freiburg sehr aktiv, und<br />
es gibt auch einige Umweltbildungs-Träger<br />
mit niedrigschwelligen<br />
Angeboten. Trotzdem würde<br />
ich persönlich nicht zu viel Hoffnung<br />
in die Lösung unserer Umwelt-<br />
und Nachhaltigkeitsprobleme<br />
durch eine Mobilisierung der breiten<br />
Bürger:innenschaft legen. Das<br />
klingt jetzt erstmal komisch. Was<br />
ich aber meine ist: Auch wenn es<br />
die Handlungen Einzelner sind,<br />
die zu Umweltbelastungen führen,<br />
so kommt der gestaltende Rahmen<br />
doch von der Politik. Lassen Sie<br />
mich das am Beispiel der Mobilität<br />
zeigen. Ob und wie viel mit dem<br />
Auto gefahren wird oder mit alternativen<br />
Mobilitätsformen, das entscheiden<br />
wir als Individuen. Aber<br />
wie leicht oder wie schwer uns<br />
das eine oder das andere gemacht<br />
Prof. Dr. Pegernig<br />
Foto: privat<br />
wird, das hängt von der Verkehrsinfrastruktur,<br />
vom Ausbau des öffentlichen<br />
Verkehrs und dessen<br />
Tarifgestaltung ab – und das sind<br />
alles politische Fragen. Die Verschiebung<br />
der Verantwortung auf<br />
das Individuum empfinde ich als<br />
perfide Strategie des Blame-Shifting.<br />
Daran muss sich etwas ändern.<br />
Umweltbildungsprogramme<br />
sind eine gute Sache, aber sie können<br />
nur flankierende Maßnahmen<br />
sein, damit politische Instrumente<br />
greifen. Sie dürfen der Politik nicht<br />
dazu dienen, die Verantwortung für<br />
Umweltschutz und Nachhaltigkeit<br />
allein auf die individuelle Ebene<br />
abzuschieben.<br />
UNIversalis: Ein fulminantes<br />
Schlusswort. Vielen Dank für das<br />
Gespräch, Herr Pregernig.
Sommer 2022 UNIversalis-Zeitung 5<br />
Nachhaltigkeitskompetenz fördern als<br />
W<br />
ie eine nachhaltige Entwicklung<br />
gestaltet werden<br />
kann und was notwendig<br />
ist, um die Klimakrise<br />
abzu-wenden, wird in der<br />
Wissenschaft viel diskutiert. Aus<br />
den Natur-, Sozial- sowie Geisteswissenschaften<br />
werden hierzu fortlaufend<br />
Erkenntnisse zur Verfügung<br />
gestellt, die für wissenschaftlichen<br />
und technologischen Fortschritt<br />
sowie gesellschaftspolitische Entscheidungsprozesse<br />
von besonderer<br />
Relevanz sind. Aufgrund eines hohen<br />
Maßes an Komplexität werden<br />
diese Befunde in größeren Teilen<br />
der Bevölkerung entweder kaum<br />
wahrgenommen oder nicht verstanden.<br />
Daher ist es ein gesellschaftspolitisches<br />
Ziel, dieses Wissen über<br />
Bildungsangebote zu vermitteln<br />
und Einstellungen sowie Verhaltensdispositionen<br />
im Sinne einer<br />
nachhaltigen Entwicklung und des<br />
Klimaschutzes zu befördern. Das<br />
neue Forschungszentrum an der Pädagogischen<br />
Hochschule Freiburg<br />
bündelt genau diese Ziele.<br />
Maßnahmen zur Umsetzung von<br />
BNE und CCE<br />
Die Bedeutung einer Bildung für<br />
nachhaltige Entwicklung (BNE)<br />
sowie Klimabildung oder Climate<br />
Change Education (CCE) wurde bereits<br />
in der Rio-Erklärung von 1992<br />
und dem dazugehörigen Aktionsprogramm,<br />
der Agenda 21, verankert<br />
und durch zahlreiche Initiativen<br />
gefördert, u. a. durch die UN-Dekade<br />
BNE (2005-2014) und durch das<br />
derzeitige UNESCO-Programm<br />
„BNE 2030“, in das CCE integriert<br />
ist. Auch Artikel 6 der UN-Klimarahmenkonvention,<br />
United Nations<br />
Framework Convention on Climate<br />
Change (UNFCCC) sowie Artikel<br />
12 des 2015 verabschiedeten Pariser<br />
Klimaabkommens nennen CCE<br />
als eine Maßnahme, den Klimawandel<br />
zu bekämpfen. Das dazugehörige<br />
Aktionsprogramm Action<br />
for Climate Em-powerment (ACE)<br />
konkretisiert dieses Ziel.<br />
Allein diese Dokumente zeigen,<br />
dass BNE und CCE schon seit Längerem<br />
auf der politischen Agenda<br />
stehen und sich zahlreiche Akteur/-<br />
innen internationaler Institutionen<br />
als auch der Bildungspraxis damit<br />
befassen, wie BNE und CCE konkret<br />
umgesetzt werden können.<br />
Entsprechend wurde und wird eine<br />
Vielzahl an Vorschlägen hierzu für<br />
Kindergärten, Schulen, Universitäten<br />
und außerschulische Lernorte<br />
entwickelt. Unbeantwortet bleibt<br />
die Frage: Sind sie wirksam? Befähigen<br />
sie die Lernenden tatsächlich,<br />
eine nachhaltige Entwicklung<br />
zu gestalten und dem Klimawandel<br />
zu begegnen?<br />
Diese Frage nach der Wirksamkeit<br />
lieferte die grundlegende Idee für<br />
ein Forschungszentrum, in welchem<br />
empirische Forschung zu Klimabildung<br />
und BNE im Mittelpunkt<br />
gesellschaftspolitisches Ziel<br />
Neues Forschungszentrum für die evidenzbasierte Weiterentwicklung von Bildung für nachhaltige<br />
Entwicklung und Klimabildung an der Pädagogischen Hochschule Freiburg<br />
stehen soll, um u. a. evidenzbasiert<br />
die Wirksamkeit von Klimabildung<br />
nachzuweisen und diese zu steigern.<br />
Es existieren bereits Befunde<br />
aus der empirischen Forschung zu<br />
BNE und Klimabildung, die allerdings<br />
nur unzureichend wahrgenommen<br />
und in der pädagogischen<br />
Praxis entsprechend wenig umgesetzt<br />
werden. Zu nennen wären hier<br />
Projektergebnisse der Arbeitsgruppe<br />
BNE um Werner Rieß (Institut<br />
für Biologie und ihre Didaktik),<br />
beispielsweise der BNE-Indikator<br />
Lehrerfortbildungen (BILF) oder<br />
das BUGEN-Projekt zum Stand<br />
der Nachhaltigkeitskompetenz bei<br />
Schüler/-innen(5. - 8. Klassenstufe)<br />
in Baden-Württemberg.<br />
An der Pädagogischen Hochschule wurde das neue Forschungszentrum Research Center for Climate Change Education and Education<br />
for Sustainable Development gegründet<br />
Foto: Pädagogische Hochschule Freiburg<br />
Interdisziplinäre Forschungsprojekte<br />
Ein Forschungszentrum macht solche<br />
Befunde zu BNE und Klimabildung<br />
durch erfolgreiche Wissenschaftskommunikation<br />
sichtbarer,<br />
stellt den geeigneten institutionellen<br />
Rahmen für interdisziplinäre Forschungsprojekte<br />
bereit und fördert<br />
den wissenschaftlichen Austausch.<br />
Durch die Gewinnung und Bereitstellung<br />
evidenzbasierter Erkenntnisse<br />
kann letztendlich die Wirksamkeit<br />
von BNE und Klimabildung<br />
gesteigert werden.<br />
Bestärkt wurde diese Idee durch<br />
das Angebot, an dem internationalen<br />
Forschungsprojekt The Monitoring<br />
and Evaluating Climate<br />
Communication and Education<br />
Project (MECCE) mitzuarbeiten.<br />
Dieses Forschungsprojekt bringt<br />
fast achtzig Expert/-innen und internationale<br />
Institutionen wie UN-<br />
ESCO oder UNFCCC zusammen,<br />
um die Qualität und die Quantität<br />
von Klimabildung zu verbessern.<br />
In diesem Rahmen beteiligt sich<br />
das Forschungsteam der Pädagogischen<br />
Hochschule in Kooperation<br />
mit dem Institut Futur der FU<br />
Berlin und weiteren internationalen<br />
Partner/-innen des MECCE-Projekts<br />
an der Entwicklung von CCE-<br />
Indikatoren, beispielsweise einem<br />
CCE-Indikator, der eine empirisch<br />
fundierte Basis für ein wiederkehrendes<br />
Monitoring von Lehramtsstudierenden<br />
ermöglicht.<br />
Ein weiterer Schritt auf dem Weg<br />
zum Forschungszentrum war die<br />
Gründung einer Forschungs- und<br />
Nachwuchsgruppe (ProBiKlima)<br />
an der Pädagogischen Hochschule<br />
Freiburg, unter der Gesamtleitung<br />
von Werner Rieß und der forschungsmethodischen<br />
Leitung von<br />
Josef Künsting (Institut für Psychologie).<br />
Hier soll ein Messinstrument<br />
zur Erfassung von Klimakompetenz<br />
bei Schüler/-innen am Ende der Sekundarstufe<br />
I entwickelt werden.<br />
Klimabildung kann nur interdisziplinär<br />
gedacht und umgesetzt werden.<br />
Daher gibt es bei ProBiKlima<br />
einen naturwissenschaftlich-technischen<br />
sowie einen sozial-geisteswissenschaftlichen<br />
Strang, die am<br />
Ende zusammengeführt werden,<br />
um ein holistisches Messinstrument<br />
entwickeln zu können. Das interdisziplinäre<br />
Betreuer/-innen-Team<br />
besteht aus Kolleg/-innen der Pädagogischen<br />
Hochschulen Freiburg<br />
und Ludwigsburg sowie der Westfälischen<br />
Wilhelms-Universität Münster<br />
und der Universität Luzern.<br />
In diesem Kontext nahm das Forschungszentrum<br />
mit dem Namen<br />
Research Center for Climate Change<br />
Education and Education for<br />
Sustainable Development (ReC-<br />
CE) immer mehr Gestalt an und<br />
wurde von der Pädagogischen<br />
Hochschule Freiburg inzwischen<br />
als Forschungszentrum gegründet.<br />
Werner Rieß, Astrid Carrapatoso<br />
und Jennifer Stemmann sind mit<br />
dem Aufbau betraut und arbeiten<br />
daran, das ReCCE zu einem internationalen<br />
Forschungszentrum zu<br />
entwickeln, welches ein Gütesiegel<br />
für qualitativ hochwertige, evidenzbasierte<br />
Forschung im Bereich CCE<br />
und BNE darstellt und die zentrale<br />
Ansprechstelle für u. a. Seminare<br />
für die schulpraktische Ausbildung,<br />
Lehrkräftefortbildung und Ministerien<br />
sowie deren zugehörigen Behörden<br />
werden soll.<br />
Prof. Dr. Astrid Carrapatoso, Institut<br />
für Politik- und Geschichtswissenschaft<br />
an der PH Freiburg<br />
Prof. Dr. Werner Rieß, Institut für<br />
Biologie und ihre Didaktik an der<br />
PH Freiburg<br />
Prof. Dr. Jennifer Stemmann, Institut<br />
für Chemie, Physik, Technik<br />
und ihre Didaktiken, Fachrichtung<br />
Technik, an der PH Freiburg
6 UNIversalis-Zeitung Sommer 2022<br />
Zukunftstechnologie 3D-Druck<br />
Ein Konzept zum nachhaltigen Einsatz von 3D-Drucktechnologien im Bildungsbereich<br />
U<br />
nterschiedlichste Anwendungen<br />
der 3D-<br />
Drucktechnologie<br />
führten in den letzten<br />
Jahren in vielen Bereichen der Industrie<br />
und Forschung zu enormen<br />
Fortschritten. Die stetige Weiterentwicklung<br />
zukünftiger Anwendungsmöglichkeiten<br />
wie beispielsweise<br />
der 3D-Druck von Häusern oder<br />
das sogenannte Bioprinting (der<br />
Druck von Gewebe strukturen oder<br />
Organen) lässt darauf schließen,<br />
dass die Bedeutung des 3D-Drucks<br />
in Industrie und Forschung auch<br />
weiterhin stark zunehmen wird.<br />
Häufig werden 3D-Drucktechnologien<br />
in Bereichen eingesetzt,<br />
in denen Bauteile mit komplexen<br />
Geometrien verwendet oder kleine<br />
Stückzahlen produziert werden.<br />
Bereits jetzt verwenden namhafte<br />
Hersteller im Fahrzeug- und Flugzeugbau<br />
3D-Drucktechnologien in<br />
der Serienfertigung zur Erzeugung<br />
besonders leichter und stabiler Bauteile.<br />
In der Medizin werden erste<br />
Prototypen menschlicher Organe<br />
(z. B. die Miniaturversion einer<br />
Bauchspeicheldrüse) erzeugt, mit<br />
deren Hilfe Medikamententests an<br />
Menschen und Tieren zukünftig<br />
vermieden werden könnten. In der<br />
Medizinindustrie können durch<br />
3D-Druck Arm- und Beinprothesen<br />
passgenau und kostengünstig hergestellt<br />
werden.<br />
Diese Vielzahl an Anwendungsbeispielen<br />
verdeutlicht nicht nur die<br />
Bedeutung der Technologie und<br />
damit deren gesellschaftliche Relevanz,<br />
sondern zeigt auch, dass 3D-<br />
Druck in immer mehr Berufen, auch<br />
außerhalb des MINT-Bereichs (Mathematik,<br />
Informatik, Naturwissenschaften,<br />
Technik), eine zunehmend<br />
wichtige Rolle spielt.<br />
3D-Druck im Bildungsbereich<br />
Vor dem Hintergrund einer immer<br />
komplexer werdenden und zunehmend<br />
technisierten Gesellschaft<br />
werden Medienbildung und digitales<br />
Lernen auch im Bildungsbereich<br />
unabdingbar. Es gibt mehr<br />
und mehr hochspezialisierte Berufsbilder,<br />
für welche Kompetenzen<br />
wie digitale Affinität, vernetztes<br />
Denken und Problemlösefähigkeit<br />
eine zentrale Rolle spielen. Gleichzeitig<br />
ist im Hinblick auf aktuelle<br />
gesamtgesellschaftliche Themen<br />
und Probleme, wie beispielsweise<br />
den Klimawandel oder die aktuelle<br />
Covid-19-Pandemie, ein interdisziplinäres,<br />
vernetztes Denken und<br />
Arbeiten notwendig geworden. Ziel<br />
der Schulen und Bildungseinrichtungen<br />
muss es daher sein, genau<br />
hier anzusetzen, um Schüler/-innen<br />
auf neue Herausforderungen in der<br />
Berufs- und Lebenswelt vorzubereiten.<br />
Seit der Verfügbarkeit von erschwinglichen<br />
und unkompliziert<br />
einsetzbaren 3D-Druckern kann die<br />
Implementierung des 3D-Drucks<br />
auch im Bildungsbereich eine entscheidende<br />
methodische Bereicherung<br />
darstellen. Der 3D-Druck ist<br />
hier eine innovative Möglichkeit,<br />
wichtige Fähigkeiten wie räumliches<br />
Denken und Problemlösestrategien<br />
zu fördern und bietet<br />
durch seine Anschaulichkeit einen<br />
großen Mehrwert. Wichtig dabei<br />
ist, dass er, wie alle neuen Medien,<br />
kein Selbstzweck bleibt, sondern als<br />
neues Werkzeug im Lerngeschehen<br />
in ein pädagogisches Konzept eingebettet<br />
ist.<br />
Praktische Umsetzung im Schulalltag<br />
Die 3D-Drucktechnologie als<br />
Lern- und Anschauungsmethode<br />
kann – mit Fokus auf das Thema<br />
Abb.: Pädagogische Hochschule Freiburg<br />
Nachhaltigkeit – in der Leitperspektive<br />
Bildung für nachhaltige<br />
Entwicklung (BNE) der Bildungspläne<br />
fächerübergreifend eingesetzt<br />
werden. Wie durch den 3D-Druck<br />
dabei die Themen Nachhaltigkeit<br />
und Umweltschutz handlungs- und<br />
lösungsorientiert veranschaulicht<br />
werden könnten, zeigen verschiedene<br />
Einsatzbeispiele:<br />
Mathematik: Kantenmodelle geometrischer<br />
Körper darstellen, z. B.<br />
zur Modellierung von verschiedenen<br />
Verpackungen → Hier kann<br />
dann thematisiert werden, welche<br />
Verpackungen die beste Ökobilanz<br />
aufweisen.<br />
Geographie: dreidimensionale<br />
Karte, welche das Bruttoinlandsprodukt<br />
verschiedener Länder visualisiert<br />
→ Hier kann der Genuine<br />
Progress Indicator (GPI) angesprochen<br />
werden, welcher nicht nur<br />
wirtschaftliche Aspekte berücksichtigt,<br />
sondern auch soziale und<br />
ökologische.<br />
Biologie: Kleinlebewesen anschaulich<br />
darstellen → Hier kann auf die<br />
Notwendigkeit von Biodiversität<br />
Bezug genommen werden.<br />
Chemie: räumliche Struktur von<br />
Molekülen veranschaulichen →<br />
Hier können beispielsweise alternative<br />
nachhaltige Ressourcen behandelt<br />
werden.<br />
Kunst: Übertrag von zweidimensionalen<br />
Kunstwerken in 3D, um<br />
neue Zugänge zur Kunst für blinde<br />
Menschen zu schaffen → Hier<br />
kann das Konzept der Teilhabe als<br />
wichtiger Aspekt der Nachhaltigkeit<br />
thematisiert werden.<br />
Deutsch:→ Texte im Braille-Alphabet<br />
erstellen.<br />
Für Schüler/-innen ist neben den<br />
inhaltlichen und technischen Aspekten<br />
die Möglichkeit stark motivierend,<br />
eine Fragestellung von der<br />
Planung bis zur Realisierung zu begleiten.<br />
Kreativität sowie multiperspektivische<br />
Herangehensweisen<br />
werden durch offene Zusammenarbeit<br />
am 3D-Modell gefördert, und<br />
vielfältige Problemlösestrategien<br />
bieten dann wiederum die Möglichkeit,<br />
einen konstruktiven Umgang<br />
mit Fehlern zu schulen. Allerdings<br />
lassen sich entsprechende<br />
Lernumgebungen z. B. aufgrund<br />
einer Druckdauer von mitunter<br />
mehreren Stunden nicht immer<br />
einfach realisieren. Wichtig beim<br />
Einsatz der 3D-Drucktechnologie<br />
im Bildungskontext ist außerdem,<br />
dass insbesondere bei komplexen<br />
Leitperspektiven wie Bildung für<br />
nachhaltige Entwicklung nicht nur<br />
technische Aspekte, sondern auch<br />
Faktoren wie Interdisziplinarität sowie<br />
Berufs- und Alltagsbezug pädagogisch<br />
und didaktisch mitgedacht<br />
werden, sodass eine nachhaltige Implementierung<br />
gelingen kann.<br />
Didaktisches Resümee<br />
Der 3D-Druck kann bei entsprechender<br />
didaktischer Begleitung gewinnbringend<br />
in die MINT-Ausbildung<br />
integriert werden. Gesamtgesellschaftlich<br />
aktuelle Themen wie<br />
Nachhaltigkeit und Umweltschutz<br />
können auf diese Weise handlungsund<br />
lösungsorientiert bearbeitet und<br />
Lernende zu kritisch reflektierten<br />
und verantwortungsvollen Entscheidungen<br />
befähigt werden. So<br />
lässt sich beispielsweise durch die<br />
eigenständige Herstellung von Ersatzteilen<br />
auch das Konsumverhalten<br />
junger Menschen beeinflussen<br />
oder es können durch die Thematisierung<br />
von 3D-gedrucktem Fleisch<br />
ethische Fragestellungen aufgeworfen<br />
werden. Gleichzeitig sollte stets<br />
ein Bewusstsein für einen sinnvollen<br />
Einsatz der Technologie, einen<br />
ressourcenschonenden Umgang<br />
und die Wahrnehmung der Druckreste<br />
als Wertstoffe geschaffen werden,<br />
die bestmöglich zu verwerten<br />
sind. Das bedeutet insbesondere,<br />
dass sowohl Druckverfahren als<br />
auch -materialien gewählt werden<br />
müssen, welche für die Nutzung<br />
durch Kinder und Jugendliche geeignet<br />
sind, und Druckabfälle sortenrein<br />
gelagert sowie professionell<br />
aufbereitet werden.<br />
An der Pädagogischen Hochschule<br />
Freiburg wurde im Rahmen des International<br />
Centrefor STEM Education<br />
im Herbst 2021 das 3D-Drucklabor<br />
„3Druckraum“ eröffnet. Hier<br />
finden regelmäßig offene Mitmachangebote<br />
und Familiennachmittage<br />
nach dem Konzept der „Makerspaces“<br />
statt. Das offene Angebot<br />
steht sowohl Schüler/-innen, Studierenden<br />
und Familien zur Verfügung,<br />
als auch interessierten Lehrkräften,<br />
welche die Technologie<br />
3D-Druck hautnah erleben wollen.<br />
Informationen zu 3D-Druckworkshops<br />
für Schüler/-innen und Lehrkräfte<br />
in der Region:<br />
https://icse.ph-freiburg.de/mint4life-projekt-uc/<br />
Prof. Dr. Katja Maaß, Direktor International<br />
Centre of STEM Education<br />
ICSE an der PH Freiburg<br />
Dr. Oliver Straser, Assistant Director<br />
Aileen Fahrländer, Programme<br />
Specialist
Sommer 2022 UNIversalis-Zeitung 7<br />
Machtdynamiken eines weißen Feminismus<br />
Die Autorin Rafia Zakaria im Gespräch<br />
F<br />
eminismus muss nicht<br />
zwingend die Gleichberechtigung<br />
aller Menschen<br />
bedeuten. Wer solche<br />
Äußerungen ausschließlich<br />
rechten Männern zuschreibt,<br />
übersieht die Perspektive des<br />
kritischen nicht-weißen Feminismus.<br />
Die US-pakistanische<br />
Anwältin und Journalistin Rafia<br />
Zakaria beschreibt in ihrem Buch<br />
„Against White Feminism“, wie<br />
diskriminierend ein Feminismus<br />
wirken kann, der seine weißen<br />
Privilegien nicht kritisch reflektiert.<br />
Ihr Buch ist ein bisweilen<br />
schockierender Blick auf die<br />
Nähe des „weißen Feminismus“<br />
zu Kapitalismus, Imperialismus<br />
und Kolonialismus. Fabian Lutz<br />
hat die Autorin, die am 26. März<br />
auch im Literaturhaus Freiburg<br />
zu Gast war, zum Gespräch getroffen.<br />
UNIversalis: Sind alle weißen<br />
Feminist*innen zum„weißen Feminismus“<br />
verdammt, wie Sie ihn in<br />
Ihrem Buch kritisieren?<br />
Rafia Zakaria: Mit dem Begriff<br />
„weißer Feminismus“ möchte ich<br />
nicht aussagen, dass jede weiße<br />
Frau, die Feministin ist, eine weiße<br />
Feministin ist. Man kann auch<br />
nicht-weiß sein und die Haltung<br />
eines weißen Feminismus vertreten.<br />
Weißsein ist für mich eine Kategorie,<br />
die durch Privilegien gekennzeichnet<br />
ist. Weißsein verleiht<br />
Macht, andere zu dominieren. Menschen,<br />
die einen weißen Feminismus<br />
praktizieren, sind nicht bereit,<br />
die Konsequenzen zu reflektieren,<br />
die aus ihren Privilegien resultieren.<br />
Das betrifft sowohl gegenwärtige<br />
als auch historische Privilegien.<br />
UNIversalis: Gibt es einen Ausweg<br />
aus dem weißen Feminismus, möglicherweise<br />
über die Reflexion dieser<br />
Privilegien?<br />
Rafia Zakaria: Ich möchte mit<br />
meiner Arbeit eine Änderung im<br />
Denken von weißen und auch nichtweißen<br />
Frauen bewirken. Ich will<br />
sie ermutigen, ihre eigene Teilhabe<br />
an diskriminierenden Machtstrukturen<br />
aber auch diskriminierendem<br />
Verhalten zu reflektieren und so die<br />
etablierten Normen herauszufordern,<br />
wie sie vor allem in weißen<br />
westlichen Gesellschaften vorherrschen.<br />
Diese kritische Perspektive<br />
brauchen wir für einen Feminismus,<br />
der möglichst viele Menschen<br />
miteinschließt, also inklusiv ist.<br />
UNIversalis: In Ihrem Buch<br />
Rafia Zakaria<br />
schreiben Sie über die Auseinandersetzungen<br />
zwischen weißen<br />
und nicht-weißen Feminist*innen.<br />
Immer wenn der weiße Feminismus<br />
kritisiert wird, werden deren<br />
Vertreter*innen aggressiv oder<br />
ignorieren ihre nicht-weißen Gegenüber.<br />
Warum diese harschen<br />
Reaktionen? Sind Feminist*innen<br />
nicht generell liberale, weltoffene<br />
Menschen?<br />
Rafia Zakaria: Lassen Sie mich<br />
zunächst mit einem Beispiel antworten.<br />
Bei einer von Annalena<br />
Baerbocks Auslandsreisen wurde<br />
ein Foto gemacht, das die Außenpolitikerin<br />
dabei zeigt, wie sie sich zu<br />
nicht-weißen Kindern niederbeugt<br />
und Dinge verteilt. Weiße Frauen<br />
sehen in dieser Darstellung oft kein<br />
Problem. Bei mir als nicht-weiße<br />
Frau löst das Bild unangenehme<br />
Gefühle aus. Ich sehe auf diesem<br />
Bild die problematische Inszenierung<br />
einer weißen Frau, die nichtweiße<br />
Menschen rettet. Ein solches<br />
Selbstbild ist elementar für den weißen<br />
Feminismus.<br />
UNIversalis: Für mich klingt Ihre<br />
Kritik eingängig. Warum dennoch<br />
die ablehnende Reaktion gerade<br />
weißer Feminist*innen?<br />
Rafia Zakaria: Die harsche Reaktion<br />
weißer Frauen auf eine Kritik<br />
an solchen Bildern basiert meiner<br />
Beobachtung nach auf zwei<br />
Dingen: Erstens sehen sich weiße<br />
Frauen selbst als Betroffene von<br />
Machtstrukturen, die sie ausschließen.<br />
Diesen Frauen fällt es schwer,<br />
die Kritik anzunehmen, sie selbst<br />
seien Teil von Machtstrukturen, die<br />
wiederum nicht-weiße Frauen ausschließen.<br />
Der zweite Grund liegt in<br />
einem kapitalistischen Denken, das<br />
nur individuellen Erfolg als Erfolg<br />
akzeptiert. Nach diesem Denken<br />
können Bewegungen, die auf einen<br />
gemeinsamen kollektiven Erfolg<br />
verweisen nur schwer akzeptiert<br />
werden.<br />
UNIversalis: Und eine solche Bewegung<br />
wünschen Sie sich?<br />
Rafia Zakaria: Ja, ich wünsche mir<br />
den Feminismus als inklusive Bewegung.<br />
Ich glaube an einen universellen<br />
Feminismus, auf den sich<br />
alle Menschen einigen können und<br />
den sie als Basis nutzen können,<br />
Foto Jeremy Hogan<br />
um sich global in Bewegungen zu<br />
engagieren.<br />
UNIversalis: Ihr Buch arbeitet<br />
nicht nur detailliert die Probleme<br />
historischer wie gegenwärtiger<br />
feministischer Repräsentation heraus,<br />
sondern bringt auch Ihre persönlichen<br />
Erlebnisse als nicht-weiße<br />
Frau mit ein. Welchen Stellwert<br />
haben diese für Sie?<br />
Rafia Zakaria: Wenn Menschen,<br />
die nicht von weißen Privilegien<br />
profitieren, kein Raum zur Aussprache<br />
eingeräumt wird, wird man<br />
diese Problematiken innerhalb von<br />
Machtstrukturen nicht erkennen.<br />
Genau deshalb integriere ich auch<br />
meine persönlichen Erfahrungen in<br />
das Buch – damit Menschen sehen,<br />
wie sich diese Machtstrukturen auf<br />
nicht-weiße Menschen konkret auswirken.<br />
UNIversalis: Gehen wir mit Ihrem<br />
Buch etwas tiefer in die Geschichte<br />
des weißen Feminismus zurück, gelangen<br />
wir schnell zur Verbindung<br />
von Feminismus und Kolonialismus.<br />
Britische Frauen fanden etwa<br />
in den Kolonien plötzlich zur Emanzipation,<br />
natürlich auf Kosten der<br />
kolonisierten Völker. Sie erzählen<br />
mit Getrude Bell von einer dieser<br />
historischen weißen Feministinnen.<br />
Rafia Zakaria: Getrude Bell war<br />
eine gut vernetzte Aristokratin der<br />
britischen Gesellschaft. Bekannt ist<br />
sie für ihre Reisen und Abenteurer,<br />
aber auch für ihre tragende Rolle<br />
als Vermittlerin in diplomatischen<br />
Angelegenheiten. Bei ihrem Aufenthalt<br />
in Jerusalem, zu ihrer Zeit<br />
ein britisches Protektorat, schreibt<br />
sie, dass sie an diesem Ort endlich<br />
eine Person sei. In der weißen britischen<br />
Gesellschaft waren Frauen<br />
den Männern immer ungeordnet.<br />
Innerhalb der Kolonie ist Getrude<br />
Bell zwar weiterhin eine Frau, als<br />
weiße Frau aber über alle nicht-weißen<br />
Menschen jeden Geschlechts<br />
gestellt. Darüber, dass Getrude Bell<br />
auf ihrer Reise ein weißes Privileg<br />
genießen konnte, wird bis heute<br />
nicht viel gesprochen. Dabei waren<br />
viele Fortschritte, die britische<br />
Frauen erzielten, durch den britischen<br />
Imperialismus bedingt. Britische<br />
Frauen, die in die Kolonien<br />
gingen, konnten ihr weißes Privileg<br />
genießen und es sich zunutze machen.<br />
UNIversalis: Für mich war diese<br />
Verbindung tatsächlich neu. Wie<br />
haben Ihre Lesenden auf diese kritische<br />
Auseinandersetzung mit einer<br />
weißen feministischen Geschichtsschreibung<br />
reagiert?<br />
Rafia Zakaria: Ich hatte gehofft,<br />
dass zumindest dieser Abschnitt<br />
meines Buchs nicht so kontrovers<br />
aufgenommen würde. Kolonialismuskritische<br />
Ansätze sind im<br />
akademischen Diskurs nicht ungewöhnlich.<br />
Aber oh, mein Gott.<br />
(lacht) Ich musste erleben, dass<br />
dieser kritische Blick gerade für<br />
Brit*innen immer noch sehr kontrovers<br />
ist. Im akademischen Bereich<br />
wird mein Ansatz einer Neuerzählung<br />
der Geschichte einigermaßen<br />
akzeptiert, aber kaum dass ich ihn<br />
in die öffentliche Debatte bringe,<br />
treffe ich auf starken Widerstand.<br />
Gerade, weil ich mich gegen historische<br />
Figuren wende, die als<br />
Held*innen verehrt werden.<br />
UNIversalis: Großbritannien sieht<br />
sich mittlerweile als Commonwealth<br />
of Nations. Statt Aggression und<br />
Eroberung stehen nun Mitgefühl<br />
und Unterstützung ehemaliger Kolonien<br />
und ihrer Bewohner*innen<br />
an. Mich wundert nach Ihren Ausführungen<br />
nicht, dass Sie in Ihrem<br />
Buch hier und in vielen anderen Bereichen<br />
rassistische Kontinuitäten<br />
sehen, gerade was die Sorge weißer<br />
Menschen gegenüber nicht-weißen<br />
Menschen betrifft.<br />
Rafia Zakaria: Zunächst muss ich<br />
betonen, dass ich weißen Menschen<br />
ihr ehrliches Mitgefühl für nichtweiße<br />
Menschen nicht absprechen<br />
will. Mir geht es in meiner Arbeit<br />
vielmehr darum, die dem zugrundeliegenden<br />
Machtstrukturen zu<br />
untersuchen, gerade solche, die oft<br />
als unpolitisch bewertet werden. Zu<br />
reisen, um zu helfen, ins Ausland zu<br />
gehen, um in einem nepalesischen<br />
Waisenhaus zu arbeiten – solche<br />
Fälle sind Beispiele für die Selbstdarstellungen<br />
weißer Helfer*innen,<br />
die vor allem von ihrem Erstaunen<br />
über die Bedürftigkeit nicht-weißer<br />
Menschen erzählen. In meinen Augen<br />
übersehen solche Darstellungen<br />
die Machtdynamiken, die diesen Interaktionen<br />
zugrunde liegen. Diese<br />
Machtdynamiken möchte ich offenlegen.<br />
UNIversalis: Wie radikal muss eine<br />
solche Offenlegung sein – und geht<br />
sie mit einer direkten Zerschlagung<br />
dieser Dynamiken einher?<br />
Rafia Zakaria: Mir geht es zunächst<br />
nicht darum, diese Interaktionen<br />
zu verbieten, sondern ein<br />
Bewusstsein dafür zu schaffen, dass<br />
dabei Ungleichheiten bestehen. Indem<br />
wir die Machtdynamiken sichtbar<br />
und formulierbar machen, können<br />
wir sie auflösen oder es zumindest<br />
versuchen. Mir ist wichtig, hier<br />
nicht vehement „Nein“ zu sagen<br />
und defensiv zu werden. Ich will<br />
das Gute in den Menschen nicht<br />
verleugnen, sondern nur aufzeigen,<br />
dass sich dieses Gute auch in eine<br />
Sprache der Macht und des weißen<br />
Privilegs übersetzen lässt. Leider.<br />
UNIversalis: Sie sprechen von<br />
einem Bedauern. Wie erschöpfend<br />
ist es, ein so kontroverses Buch zu<br />
schreiben – und wie befreiend?<br />
Rafia Zakaria: Nicht-weiße Menschen<br />
empfinden oft eine große Erschöpfung<br />
dabei, sich immer wieder<br />
mit diesen Problematiken auseinanderzusetzen.<br />
Und Bücher, die versuchen,<br />
die Wahrnehmung und das<br />
Denken der Menschen zu ändern,<br />
bedeuten immer Risiken.Es war<br />
tatsächlich anstrengend, das Buch<br />
herauszubringen, angesichts der negativen<br />
Reaktionen und angesichts<br />
der Versuche einiger Menschen, das<br />
Buch niederzumachen oder zu ignorieren.<br />
Gleichzeitig bekomme ich<br />
viele Briefe und Komplimente. Die<br />
Menschen, die mein Buch verstanden<br />
haben, mochten es und stellten<br />
sehr vehement die wichtige Rolle<br />
heraus, die es spielt. Dafür bin ich<br />
sehr dankbar. Auch bin ich dankbar<br />
dafür, dass es genügend Aufsehen<br />
erregt hat, um nun in vielen Bildungseinrichtungen<br />
auf der ganzen<br />
Welt gelesen zu werden. Ich hoffe,<br />
das wird die Basis dafür legen, dass<br />
wir diese Gespräche weiter führen<br />
werden und ein Wandel stattfinden<br />
kann.<br />
Das Gespräch wurde in englischer<br />
Sprache geführt, Übersetzung ins<br />
Deutsche durch Fabian Lutz. Die<br />
Begriffe „weiß“ und „nicht-weiß“<br />
dienen hier nicht der Beschreibung<br />
einer tatsächlichen Hautfarbe, sondern<br />
sollen als gemachte soziale,<br />
gesellschaftliche Konstrukte verstanden<br />
werden.<br />
Rafia Zakaria: „Against White Feminism.<br />
Wie weißer Feminismus<br />
Gleichberechtigung verhindert“,<br />
aus dem Englischen von Simoné<br />
Goldschmidt-Lechner, hanserblau<br />
2022.
8 UNIversalis-Zeitung Sommer 2022<br />
Forscher:innen des Max-Planck-<br />
Instituts untersuchten in Folge der<br />
Corona Krise die Immunresistenz<br />
von drei weiblichen Alpakas, indem<br />
sie den Tieren Spikeproteine<br />
induzierten - im Blut der Tiere fand<br />
man keine Infektion mit dem Virus,<br />
sondern einen reichlichen Gehalt<br />
an Nanobodies und dadurch eine<br />
äußerst starke Resistenz gegenüber<br />
dem Corona Virus<br />
Foto: Pixabay<br />
Nacktmulle, Alpakas und das ewige Leben<br />
Ein Appell zwischen Arterhalt und der Ausnutzung tierischer Potentiale. Renè Anours Buch „Das Arche<br />
Noah Prinzip”<br />
W<br />
ieviel können wir der<br />
Natur noch abverlangen?<br />
Und wieviel<br />
könnte man aus der<br />
Natur noch potentiell nutzen?<br />
Diesen Spagat versucht Renè Anour<br />
in seinem Buch „Das Arche<br />
Noah Prinzip. Heilung aus dem<br />
Tierreich” seinen Leser:innen<br />
näher zu bringen. Aber ist dies<br />
überhaupt möglich?<br />
Noch so ein Artikel zur Aufklärung<br />
von Zoonosen, den Verlust der Biodiversität<br />
und der nicht artgerechten<br />
Haltung von Masttieren, denken sie<br />
jetzt. Doch es ist nicht ganz wie es<br />
scheint.<br />
„Das Arche Noah Prinzip” ermöglicht<br />
den Leser:innen einen einfachen<br />
und emotionalen Einstieg<br />
in ein Thema, welches auch die<br />
Verschwörungstheoretiker:innen<br />
unter Ihnen aufhorchen lassen<br />
wird. Wie ermöglicht uns die Tierwelt<br />
die Tumorbekämpfung, die<br />
Krebsheilung oder gar das ewige<br />
Leben. Laut Anour gibt es nämlich<br />
bereits seit längerer Zeit Forschungen<br />
zu außergewöhnlichen Tieren,<br />
deren Eigenschaften von höchstem<br />
Interesse für eben diese Ziele sind.<br />
Und das alles ohne Jungfrauenoder<br />
Kinderblut. Ob mit dem Gen<br />
Kloth, Hydren, arktischen Tiefseeschwämmen<br />
oder dem nicht zu<br />
unterschätzenden Nacktmull, um<br />
den laut Anour ein ganzes Buch<br />
hätte geschrieben werden können.<br />
Sie alle haben außergewöhnliche<br />
Fähigkeiten, die wir mit unserem<br />
bisherigen Forschungsstand schwer<br />
einordnen können, aber verzweifelt<br />
gerne würden. Insgesamt ist das<br />
Buch ein weit gefasster Überblick<br />
über die Möglichkeiten, ob bereits<br />
entdeckt oder noch unentdeckt,<br />
die die Vielfalt der Natur uns bieten<br />
kann. Durch viele verschiedene<br />
wissenschaftliche Beispiele und<br />
persönliche Geschichten hangelt<br />
sich Renè Anour in 200 Seiten von<br />
Tier zu Tier und zeigt so die Potentiale<br />
der Problem- und Krankheitsbekämpfungen,<br />
welche sich durch<br />
diese ergeben auf. Auch wenn diese<br />
Themenfelder komplex klingen<br />
mögen, „Das Arche Noah Prinzip”<br />
ist wie ein Schulbuch, mit kursiven<br />
zusammengefassten Wissensständen<br />
am Ende jedes Kapitels, sei es<br />
noch so kurz, sehr gut bekömmlich.<br />
Biblische Wahrheit?<br />
Warum aber der Name Arche Noah<br />
Prinzip? In einer anfänglichen Geschichte<br />
beschreibt der Autor die<br />
Geschichte Noahs, wie er eine Taube<br />
auf den Weg für die Suche nach<br />
Land geschickt haben soll. Nach<br />
einer Ausführung warum genau<br />
die Taube durch ihre Muskelkraft<br />
der beste Vogel für diese Aufgabe<br />
ist, endet die Geschichte mit einem<br />
wiedergebrachten Olivenzweig im<br />
Schnabel des Tieres. Der Olivenzweig<br />
stellt in der biblischen Geschichte<br />
das nahende Land dar. In<br />
unserer Geschichte allerdings soll<br />
er sinnbildlich sein für die nicht zu<br />
unterschätzenden Potentiale, die<br />
die Tierwelt immer noch für uns<br />
bereithält. So gab es beispielsweise<br />
auch bei der Suche nach einem<br />
Heilmittel für den Corona Virus<br />
eine erstaunliche Wiederentdeckung<br />
der Antikörper von Kamelen.<br />
Im Gegensatz zu menschlichen<br />
Antikörpern, sind diese viel kleiner<br />
und leichter und erhielten deswegen<br />
den Namen Nanobodies. Trotz<br />
ihrer Größe und ihres Gewichts<br />
haben sie die gleiche Wirksamkeit<br />
und Forschende vermuten, dass<br />
sie sogar die Blut-Hirn-Schranke<br />
überwinden könnten. Nanobodies<br />
könnten also auch in der Heilung<br />
von Hirntumoren eine größere Rolle<br />
spielen. Einige Forscher:innen<br />
des Max-Planck-Instituts brachten<br />
die 1989 entdeckten, doch lange<br />
beiseite gelegten Antikörper wieder<br />
ans Tageslicht. Ihr Ziel war es<br />
in Folge der Corona Krise die Immunresistenz<br />
von drei weiblichen<br />
Alpakas zu untersuchen. Dafür induzierten<br />
sie den Tieren Spikeproteine<br />
und nahmen wenig später eine<br />
Blutprobe. In dieser fand man nicht<br />
etwa eine Infektion mit dem Virus,<br />
sondern einen reichlichen Gehalt<br />
an Nanobodies und dadurch eine<br />
äußerst starke Resistenz gegenüber<br />
dem Corona Virus. Diese Erkenntnis<br />
führt heute zu vielen weiteren<br />
Forschungen an diesen ganz besonderen<br />
und vielversprechenden<br />
Antikörpern.<br />
Das Geheimnis der Nacktmulle<br />
Aber auch in anderen, existenziellen<br />
Bereichen hält die Tierwelt<br />
etwas für uns bereit. Beispielsweise<br />
ist ja relativ bekannt, dass wir alle<br />
einmal sterben werden. Manche<br />
Lebewesen früher, manche später.<br />
Das liegt, wie auch Dr. René Anour<br />
beschreibt, an der Stoffwechselrate<br />
eines jeden Lebewesens. Ist diese<br />
hoch, also schlägt das Herz pro<br />
Minute öfter, so hat man eine geringere<br />
Lebenserwartung. Während<br />
beispielsweise Blauwale mit sechs<br />
Herzschlägen pro Minute auskommen<br />
und bekanntlich recht alt werden,<br />
hat die Etruskerspitzmaus mit<br />
tausend Herzschlägen in der Minute<br />
nur wenige Jahre zu leben. Ein<br />
besonderes Säugetier macht dieser<br />
These aber einen Strich durch die<br />
Rechnung: der Nacktmull. Die<br />
Erforschung dieses kleinen Tiers<br />
wird heute bereits von Megakonzernen<br />
gesponsert. Und dabei traf<br />
man auf ganz erstaunliche Erkenntnisse.<br />
Während bei uns Menschen<br />
im Erwachsenenalter das Risiko zu<br />
sterben exponentiell steigt, ist das<br />
Sterberisiko für einen sechsjährigen<br />
Nacktmull genauso hoch wie das<br />
für einen zwanzigjährigen Nacktmull.<br />
Also verständlicher ausgedrückt<br />
hätte der Nacktmull in Menschenalter<br />
umgerechnet im Alter<br />
von sechzig noch die gleiche Agilität<br />
wie mit zwanzig Jahren. Und<br />
sogar die Fruchtbarkeit des Nackmulls<br />
nimmt mit dessen Lebenszeit<br />
eher zu. Das größte Potential aber,<br />
dass die Nacktmulle bereithalten,<br />
ist ihre Resistenz gegenüber Tumoren.<br />
Nacktmulle bekommen<br />
keinen Krebs und das macht sie als<br />
Säugetiere weitgehend einzigartig.<br />
Ganz konkret hat dieses Phänomen<br />
mit Hyaluronsäure zu tun, von der<br />
ein Gramm bereits 6 Liter Wasser<br />
binden kann. Dies hat viele positive<br />
Vorteile, wie zum Beispiel unsere<br />
Zellen vor Druckeinwirkungen zu<br />
schützen oder Immunzellen leichter<br />
durch den Körper bewegen zu<br />
lassen. Damit der Nacktmulll in<br />
seinem Bau in den engen Gängen<br />
an Artgenosse:innen vorbeikommt<br />
braucht er für die Flexibilität und<br />
Elastizität seines Körpers eben das:<br />
Hyaluronsäure. Und diese wird<br />
sogar schon in der Wissenschaft<br />
ganz unverhohlen als Super-Hyaluronsäre<br />
bezeichnet. Der Zauberstoff<br />
der Nacktmulle schützt nämlich<br />
nicht nur die Zellen vor Stress und<br />
Zelltod, sondern aktiviert auch ein<br />
Frühwarnsystem vor Tumoren, welche<br />
dann sogleich auch bekämpft<br />
werden. Und das beste ist: Sie<br />
funktioniert auch bei menschlichen<br />
Zellen. Erneut also eine mögliche<br />
Lösung für ein Problem, das die<br />
Menschheit schon lange umtreibt.<br />
Nicht aus dem Labor, sondern von<br />
Lebewesen wortwörtlich direkt zu<br />
unseren Füßen. Tragisch dabei ist<br />
nur, dass Menschen anscheinend<br />
erst solche Selbsterhaltungsnutzen<br />
erfahren müssen, um den Erhalt der<br />
Vielfalt gewährleisten oder umsetzen<br />
zu wollen. Nicht etwa der Vielfalt<br />
wegen, sondern des Nutzens<br />
für die Menschheit wegen. Aber so<br />
ist der Mensch leider nun mal, behauptet<br />
auch Anour. Erst wenn etwas<br />
in nächster Nähe sichtbar wird,<br />
können wir damit umgehen. Wenn<br />
die Menschheit es schon nicht<br />
schafft, in den eigenen Reihen auf<br />
Diskriminierung, Vertreibung oder<br />
sogar Genozid zu verzichten, wie<br />
sollen wir dann andere Arten vor<br />
uns schützen? Um diesem Problem<br />
entgegenzuwirken betont Anour,<br />
wie wichtig es ist, sich mit der<br />
Artenvielfalt auseinanderzusetzen<br />
oder wie er schreibt: „sie zu erleben,<br />
so oft es geht.”. Und das muss,<br />
laut Anour nicht in der Savanne bei<br />
einer Safaritour in Südafrika sein,<br />
sondern kann bereits im Vorgarten<br />
beginnen. Vögel, Ameisen, Marienkäfer,<br />
Bienen und Hummeln. So<br />
einiges ist da direkt vor der Haustür<br />
zu finden. Aber auch wenn Sie
Sommer 2022 UNIversalis-Zeitung 9<br />
Durch Streicheleinheiten wird das<br />
sogenannte Kuschelhormon Oxytocin<br />
ausgeschüttet<br />
Foto: pixabay<br />
keinen Vorgarten haben, können<br />
uns die dem Menschen vertrautesten<br />
Tiere, laut Anour, wieder mit<br />
der Natur in Einklang bringen: Die<br />
Haustiere.<br />
Stetige Begleiter<br />
Mein Freund und ich sind uns<br />
beim Thema Katzen eher uneinig.<br />
Während er auf der Seite der<br />
Katzenfreund:innen ist, denke ich<br />
immerzu an die Vögel die jährlich<br />
von den Hauskatzen weiter determiniert<br />
werden. „Das Arche Noah<br />
Prinzip” allerdings liefert einige<br />
nachgewiesene Argumente, die für<br />
die Anschaffung eines Haustiers<br />
sprechen. Durch Streicheleinheiten<br />
dieser wird beispielsweise, das sogenannte<br />
Kuschelhormon Oxytocin<br />
ausgeschüttet. Das gleiche Hormon,<br />
dass bei der Berührung oder beim<br />
berührt werden des/der Partner:in<br />
gebildet wird. Man erfährt dadurch<br />
Wohlbefinden und Entspannung.<br />
Durch den Umgang mit den uns<br />
freundschaftlich engen Tieren kann<br />
unsere psychische Gesundheit<br />
verbessert werden, im Falle eines<br />
Hundes sogar die körperliche Fitness<br />
durch viele Spaziergänge. Und<br />
manche Forscher:innen behaupten<br />
sogar, dass sich das Schnurren einer<br />
Katze positiv auf die menschliche<br />
Knochenheilung auswirken<br />
könnte. Wenn Sie liebe(r) Leser:in<br />
nun ein Haustier haben, ist also der<br />
Schritt zu einem allumfassenden<br />
und wertschätzenden Blick auf die<br />
Welt nicht mehr weit. Schließlich<br />
beeinflusst Sie die Tierwelt, laut<br />
Anour, bereits täglich. Dies sollte<br />
aber natürlich keinesfalls ein Appell<br />
sein, sich einer schnellen Naturverbundenheit<br />
wegen unüberlegt ein<br />
Haustier anzuschaffen. Auch Anour<br />
stellt dies klar in den Vordergrund.<br />
Schließlich geht es ja nicht um eine<br />
neue Hüpfburg im Garten, sondern<br />
ein fühlendes und auch leidensfähiges<br />
Lebewesen. Und wo wir<br />
gerade dabei sind. Fernab von den<br />
Haustieren, haben wir noch eine<br />
ganz andere Maschinerie am laufen.<br />
Masthühner werden zu über 18<br />
Stück auf einem Quadratmeter zum<br />
Schlachten „angezüchtet”. Schweine,<br />
die ja bekanntlich zu den intelligenteren<br />
Tieren gehören, werden<br />
nach nur sechs Monaten ohne Bewegungsfreiheit<br />
betäubt und per<br />
Fließbandarbeit in Rekordzeit in<br />
ihre Einzelteile zerlegt. Ironischerweise<br />
ist zumindest durch diesen<br />
kruden Fleischkonsum der Erhalt<br />
dieser speziellen Arten gewährleistet.<br />
Nicht zuletzt haben wir durch<br />
einen solchen Umgang mit unseren<br />
Mitlebewesen seit 2020 ein globales<br />
Problem. Und auch andere, noch<br />
nicht überwundene Krankheiten,<br />
wie beispielsweise Aids, entsprangen<br />
einer Zoonose.<br />
Und was jetzt?<br />
Traurigerweise gilt hier der einzig<br />
mögliche Appell wieder dem Menschen.<br />
MENSCH du kannst dich<br />
für Krankheiten, die dich plagen<br />
einfach mal bei den Lösungsstrategien<br />
der anderen erdbewohnenden<br />
Lebewesen umschauen. MENSCH<br />
du kannst aber auch Pandemien und<br />
bislang unheilbare Krankheiten auslösen,<br />
die auch für dich gefährlich<br />
sein können, wenn du andere Arten<br />
quälst. Ganz schön primitiv oder?<br />
Ganz so hart geht Anour auf sein lesendes<br />
Publikum nicht ein. Die letzten<br />
Kapitel sind sogar Alltagstipps<br />
gewidmet. Das Buch ist also eher<br />
ein individueller Einstieg in globale<br />
Probleme. Es zeigt diese auf,<br />
gibt uns aber zu verstehen, dass es<br />
noch Hoffnung gibt, wenn wir beispielsweise<br />
eine Bienenwiese in unseren<br />
Vorgarten pflanzen. Und das<br />
ist doch auch ganz schön zu hören,<br />
oder? Aber seien wir mal ehrlich.<br />
Was würde passieren, könnten wir<br />
entsprechende und teils beschriebene<br />
Tiere in ihrem Genom und ihrer<br />
Lebensweise so erforschen, dass<br />
auch bald für uns, vielleicht nicht<br />
ewiges Leben, aber die Umsetzung<br />
der Midlifecrisis mit 90 entdeckt<br />
wäre. Natürlich könnte das positive<br />
Effekte auf unser Umwelt und Ökosysteme<br />
haben. Niemand könnte<br />
sich mehr mit einem baldigen Tod<br />
oder einem früh-genug-Tod aus der<br />
Affaire ziehen. Auf der anderen Seite,<br />
wären diese Behandlungen mit<br />
großer Voraussicht zumindest erst<br />
einmal nur eine Möglichkeit der<br />
Reichen und Superreichen. Ob eine<br />
Vielfalt der Natur, nie sterbenden<br />
Milliardär:innen gewachsen ist, ist<br />
eine Frage, die man schon heute mit<br />
sterbenden Milliardär:innen gut beantworten<br />
kann. Und auch aus sozialer<br />
oder politischer Sicht könnte<br />
man eine Entwicklung zum ewigen<br />
oder stark verlängerten Leben kritisch<br />
sehen. Mögliche Resultate wären<br />
unter anderem ein Trump, der<br />
alle vier Jahre wieder zur Wahl antreten<br />
würde. Und das für immer…<br />
Dr. Renè Anour: „Das Arche Noah<br />
Prinzip. Heilung aus dem Tierreich”<br />
edition a 2021.<br />
Pauline Ebert
10 UNIversalis-Zeitung Sommer 2022<br />
Was heißt auf Chinesisch China?<br />
– Reich der Mitte!<br />
„Wild wie ein Tiger“<br />
Die chinesische Schrift gibt es seit weit über 3000 Jahren. Sie ist das älteste Schriftsystem, das heute noch<br />
in Benutzung ist.<br />
W<br />
as macht China zu<br />
China?<br />
Wenige Länder auf diesem<br />
Planeten haben so<br />
viele Gesichter wie China… Seine<br />
Gesichter sind zahlreich und oft<br />
auch zutiefst widersprüchlich…<br />
Das Land blickt auf eine fünftausend-jährige<br />
bewegte Geschichte<br />
zurück. China, das ist konfuzianische<br />
Ethik, China kann für Buddhismus<br />
stehen, für die berühmten<br />
36 Strategeme, für Taoismus, China<br />
ist Kommunismus, China ist Kapitalismus<br />
und noch viel, viel mehr.<br />
Das Land verfolgt ambitionierte<br />
Pläne. Das „Reich der Mitte“ ist<br />
im Brennpunkt des internationalen<br />
Fokus wie nie zuvor! Lassen Sie<br />
uns jetzt aber ein paar Jahrhunderte<br />
zurückschauen...<br />
„Zheng He qi-xia xi-yang,“ kann<br />
Ihnen jedes chinesische Schulkind<br />
aufsagen. Der berühmte Eunuch<br />
Zheng He sticht sieben Mal in See.<br />
Das war im Zeitraum von 1405-<br />
1433. Die Zeit der großen chinesischen<br />
Entdeckungsfahrten, der<br />
großen Überseeexpeditionen. Viele<br />
sagen, China wäre damals für die<br />
Weltherrschaft gewappnet gewesen.<br />
Seine Dschunken waren viel größer,<br />
als die Schiffe mit denen Christopher<br />
Columbus, über ein halbes<br />
Jahrhundert später, in Amerika landete.<br />
Die Chinesen, so scheint es, wären<br />
damals im Stande gewesen die<br />
„halbe Welt“ zu kolonialisieren und<br />
auch Amerika zu entdecken… Doch<br />
1433 war es auf einmal vorbei. Keine<br />
weiteren Übersee Expeditionen<br />
wurden mehr unternommen. Grund<br />
dafür waren mitunter Naturkatastrophen<br />
in China. Manche sagen, dem<br />
Reich fehlten zwischenzeitlich die<br />
Mittel, Zheng He`s gewaltige Flotte<br />
zu finanzieren. Viele behaupten<br />
aber, dass das nicht der einzige<br />
Grund gewesen ist. Wie dem auch<br />
sei… China blieb eine bedeutende<br />
Seehandelsmacht in Ostasien, doch<br />
die Ära von Zheng He und seinen<br />
großen Entdeckungsfahrten, sollte<br />
nie wiederkehren.<br />
Die Rolle ferne Weltgegenden zu<br />
kolonialisieren sollten andere spielen.<br />
Und das waren dann wir Europäer.<br />
Nur wir Europäer hatten damals<br />
die Ambition die „halbe Welt“<br />
zu kolonialisieren.<br />
Dieses Denken war allen anderen<br />
Kulturen, z.B. auch Arabern und<br />
Osmanen, zumindest in diesem<br />
Ausmaß fremd. Wo könnten die<br />
Ursachen dafür liegen? Natürlich<br />
existiert Geschichte nicht in einem<br />
Vakuum. In Europa hatte zuvor, die<br />
Renaissance, neben vielen anderen<br />
Faktoren, zu dieser bis dahin nie dagewesenen,<br />
neuartigen Art zu denken<br />
beigetragen.<br />
Aber in ein paar Jahrhunderten<br />
kann sich vieles ändern. Und es<br />
hat sich auch vieles geändert wie<br />
wir im Rückblick sehen können.<br />
Inzwischen hat China nicht nur den<br />
Anschluss an die westliche Welt gefunden,<br />
es hat den Westen in vielerlei<br />
Hinsicht überholt. Seine Politik<br />
folgt einem ganz anderen Trend, als<br />
die der Ming Dynastie um 1433.<br />
China... aktuell eine kommunistisch,<br />
kapitalistische, expandierende<br />
Supermacht!<br />
Was sollen die vielen Zeichen?<br />
Die chinesischen Zeichen sind<br />
Bildzeichen, Logogramme. Anders<br />
als unsere Sprachen bilden sie nicht<br />
die Phonetik ab, sondern den Begriff<br />
selber.<br />
Interessanterweise gibt es in China<br />
nicht nur eine, sondern verschiedene<br />
chinesische Sprachen. Außer<br />
Mandarin-Chinesisch gibt es noch<br />
5-8 weitere Sprachen. (Je nach Einteilung).<br />
Die drei sprecherreisten<br />
Foto: Nowak<br />
sind Min, Wu und Kantonesisch.<br />
Den großen Teil der langen chinesischen<br />
Geschichte, hatte Mandarin-<br />
Chinesisch keinen offiziellen Status.<br />
Man sprach und verstand nur seine<br />
eigene chinesische Muttersprache.<br />
Und was hat ganz China zusammengehalten?<br />
Die chinesische Schrift.<br />
Denn anders als unsere Schrift, bilden<br />
die chinesischen Zeichen nicht<br />
die Phonetik der Wörter ab, sondern<br />
die Dinge selber.<br />
Ganz gleich um welche chinesische<br />
Sprache es sich handelte, war etwa<br />
das Zeichen für „Baum“ immer dasselbe.<br />
Aber je nach Sprache wurde<br />
es natürlich unterschiedlich ausgesprochen.<br />
Der Satzbau unterschied<br />
sich von Sprache zu Sprache und<br />
es gab auch andere Abweichungen.<br />
Auf jeden Fall hat die chinesische<br />
Schrift, durch die Geschichte hindurch,<br />
das Land zusammengeschweißt.<br />
Qin Shi Huang, der erste Kaiser Chinas<br />
Heutzutage, wo die allermeisten<br />
Leute in China Mandarin-Chinesisch<br />
sprechen, oder zumindest<br />
verstehen, schreibt man auch fast<br />
ausschließlich auf Mandarin. Seine<br />
eigene chinesische Muttersprache,<br />
wenn diese dann nicht Mandarin ist,<br />
verwendet man mündlich, im Umgang<br />
mit andern Muttersprachlern.<br />
Die chinesische Schrift gibt es übrigens<br />
schon seit weit über 3000<br />
Jahren.<br />
Damit ist sie das älteste Schriftsystem<br />
heute noch in Benutzung.<br />
Aber man hat überall in China<br />
anders geschrieben. Die Zeichen<br />
waren nicht vereinheitlicht. Und<br />
das hat das Ganze nicht unbedingt<br />
leichter gemacht.<br />
221 v. Chr. heißt das magische<br />
Jahr: Da hat der erste Kaiser Chinas<br />
(Chinesisch: Qin Shi-huang-di) die<br />
Schrift vereinheitlicht. Dem haben<br />
wir also das Ganze zu verdanken.<br />
Erst mal vereinheitlicht, hat die chinesische<br />
Schrift von dieser Zeit an,<br />
China richtig zusammengeschweißt,<br />
den Chinesen sozusagen zu einer<br />
gemeinsamen Identität verholfen<br />
und die relative Geschlossenheit<br />
des chinesischen Kulturraums erst<br />
ermöglicht.<br />
Apropos der erste Kaiser. Natürlich<br />
war er nicht der erste Herrscher in<br />
China. Aber er war der erste der<br />
tian-xia (chinesisch für „alles unter<br />
dem Himmel“) vereint hat. Er hat<br />
also zum ersten Mal „ganz China“,<br />
wenn man so will, vereint und alle<br />
anderen sechs Reiche die es damals<br />
gab, seinem Reich einverleibt.<br />
Sprache oder Dialekt?<br />
Gerade war die Rede von den chinesischen<br />
Sprachen. Hierzu noch<br />
ein interessanter Punkt: In China<br />
spricht man oft von den chinesischen<br />
Sprachen als von chinesischen<br />
Dialekten. Streng linguistisch<br />
gesehen, haben wir es hier<br />
allerdings mit unterschiedlichen<br />
Sprachen zu tun.<br />
Natürlich gibt es Dialekte in China,<br />
aber das sind Dialekte innerhalb<br />
dieser chinesischen Sprachen. Sie<br />
selber sind keine Dialekte. Wieso<br />
redet man dann also gerne von Dialekten?<br />
In China hat nur Mandarin-<br />
Chinesisch einen offiziellen Status.<br />
(Mandarin ist nicht zu verwechseln<br />
mit akzentfreiem Hochchinesisch,<br />
sondern gliedert sich seinerseits<br />
in verschiedene leichte Dialekte).<br />
Streng genommen, hat also nur<br />
Mandarin einen offiziellen Status.<br />
Die anderen Sprachen werden eher<br />
in informellen Situationen gesprochen<br />
und übrigens auch fast nie<br />
geschrieben. Außer Kantonesisch<br />
in Honkong! Zum Schluss noch<br />
ein Zugeständnis: Natürlich sind<br />
sich auch die Linguisten nicht immer<br />
einig, wo genau eine Sprache<br />
anfängt und wo ein Dialekt aufhört.<br />
Das betrifft auch die chinesischen<br />
Sprachen.<br />
Sind Chinesisch und Japanisch<br />
ähnlich?<br />
Die Antwort muss sein: Ja und nein.<br />
Zunächst einmal: Von den im Westen<br />
gelernten ost- und südostasiatischen<br />
Sprachen, ist Japanisch die<br />
mit Abstand meistgelernte!<br />
Die Faszination, die der Inselstaat<br />
und seine Kultur auf viele von uns<br />
auslöst, ist groß. Samurai, Kirschblüten,<br />
Geishas…<br />
Aber zurück zum Thema: Die Ähnlichkeit<br />
zwischen Chinesisch und<br />
Japanisch. Die beiden Sprachen<br />
gehören nicht der gleichen Sprachfamilie<br />
an und sind damit nicht<br />
verwandt. Es gibt aber etwas, was<br />
es einem Chinesen erleichtert Japanisch<br />
zu lernen und umgekehrt. Und<br />
das ist die chinesische Schrift. Wie<br />
kann das sein, wo die beiden Sprachen<br />
doch nicht verwandt sind? Die<br />
Antwort ist schlicht und ergreifend:<br />
Chinesisch ist eine Bildzeichenschrift.<br />
In ihrer Schrift kombinieren die<br />
Japaner drei Schriftsysteme. Wenn<br />
Sie jetzt die Stirn runzeln, dann<br />
denken Sie doch einfach daran,<br />
dass in einem deutschen Text auch<br />
arabische oder sogar römische<br />
Zahlzeichen vorkommen können.<br />
Die gehören ja auch nicht zu unserem<br />
Alphabet. Wir kombinieren<br />
also auch verschiedene „Schriftsysteme“,<br />
wenn man so will.<br />
Die Japaner machen das nur etwas<br />
extremer...<br />
Im Japanischen werden in ein und<br />
demselben Text zwei verschiedene<br />
phonetische Schriftsysteme verwendet.<br />
(Genauer gesagt handelt es sich<br />
um Silbenschrift).<br />
Und dann steht hier und da, mitten<br />
drin ein „Chinesisches Schriftzeichen“,<br />
was im Japanischen „Kanji“<br />
heißt. Wenn ein Chinese ohne Japanisch-Kenntnisse<br />
so einen Text anschaut,<br />
kann er ihn nicht direkt verstehen,<br />
aber er weiß dann, es geht<br />
um Katzen und Fische beispielsweise.<br />
Und wie ist das möglich? Die<br />
Antwort ist wieder einmal schlicht<br />
und ergreifend: Bildzeichenschrift!<br />
Fazit: Obwohl die beiden Sprachen<br />
nicht verwandt sind, können Sie<br />
durch Kenntnisse der einen beim<br />
Erlernen der anderen profitieren.<br />
Macht das dem ein oder anderen<br />
Mut?!<br />
Schon immer hat China die umliegenden<br />
Kulturen beeinflusst. Die<br />
Koreaner haben ihre Sprache lange<br />
nur in chinesischen Schriftzeichen<br />
geschrieben. 1444 sollte sich das<br />
aber ändern… in diesem Jahr wurde<br />
die koreanische Schrift eingeführt<br />
und das war dann die Schrift, die<br />
man in Korea bis heute benutzt.<br />
Auch Vietnamesisch, was man heutzutage<br />
mit lateinischen Buchstaben<br />
schreibt, hat man lange in chinesischen<br />
Schriftzeichen geschrieben.<br />
Wie war das möglich, wo beide<br />
Sprachen doch nicht verwandt sind?<br />
– Chinesisch ist eine Bildzeichenschrift!<br />
Monosyllabisch – das macht es<br />
spritzig!<br />
Chinesisch ist eine monosyllabische<br />
Sprache, das heißt jede Silbe hat<br />
eine Eigenbedeutung. Will sagen:<br />
Jede Silbe ist bereits ein Wort!<br />
„Das ist im Deutschen doch auch<br />
so,“ sagen Sie jetzt: „Haus, Tisch,<br />
Ball. Das sind doch alles einsilbige<br />
Wörter“. Ja es gibt einsilbige Wörter,<br />
aber auch welche, die mehrsilbig<br />
und gleichzeitig nicht zusammengesetzt<br />
sind (z.B. Chinesisch,<br />
lernen, China). Bei diesen Wörtern<br />
hat nicht jede Silbe eine Eigenbedeutung.<br />
Im Chinesischen aber<br />
schon. Ja Herr im Himmel, dann<br />
ist das halt so... Na und? Nicht so<br />
schnell, nicht so schnell… lesen Sie<br />
mal weiter, es wird noch spritzig.<br />
Als wir Europäer in anderen Weltgegenden<br />
Dinge kennengelernt<br />
haben, für die wir noch kein Wort<br />
hatten, z.B. exotische Tiere, haben<br />
wir oft die Bezeichnung aus der<br />
jeweiligen Sprache dort übernommen.<br />
„Zebra“ etwa kommt aus einer<br />
afrikanischen Sprache.<br />
Die Chinesen haben in solchen Situ-<br />
„Glück“ auf Chinesisch<br />
ationen dann eher ein eigenes Wort<br />
erfunden. „Zebra“ etwa heißt auf<br />
Chinesisch „Streifenpferd“. Darunter<br />
kann man sich doch gleich was<br />
vorstellen. Und die Monosyllabizität<br />
des Chinesischen begünstigt<br />
solche Wortschöpfungen. Sie sind<br />
aussagekräftig und trotzdem kurz.<br />
Bei zwei und mehrsilbigen Wörtern<br />
hat dann jede Silbe eine Eigenbedeutung.<br />
Und man kommt auch<br />
meist mit weniger Silben aus, als in<br />
unseren Sprachen.<br />
Um noch mal auf die Tiere zurückzukommen:<br />
Kinder können<br />
sich unter einem „Streifenpferd“<br />
doch viel mehr vorstellen als unter<br />
einem „Zebra“. Also jetzt wird es<br />
aber lächerlich, sagen Sie sich. Als<br />
ob unsere deutschen Kinder nicht<br />
wüssten, was mit „Zebra“ gemeint<br />
ist. Ja… Bei „Zebra“ schon, aber<br />
nehmen wir doch mal die drei nur<br />
auf Madagaskar vertretenen Katta,<br />
Indri und Vari, oder den Ara<br />
Papagei. Wissen alle Kinder wie<br />
diese Tiere aussehen? Hier haben<br />
es die chinesischen Kinder leichter!<br />
„Katta“ heißt auf Chinesisch<br />
„Ring-Schwanz-Halbaffe“ (Ringe<br />
sind in dem Kontext Streifen). Da<br />
kann sich doch so ein Kind viel besser<br />
was drunter vorstellen, als unter<br />
einem „Katta“.<br />
Man sieht also, Chinesisch ist eine<br />
bildhafte Sprache. Und jetzt wissen<br />
Sie auch, warum eine monosyllabische<br />
Sprache so „spritzig“<br />
sein kann. Zu solchen monosyllabischen<br />
Sprachen zählen übrigens<br />
auch Vietnamesisch, Thai, Laotisch<br />
und viele weitere!<br />
Es kann richtig Spaß machen so<br />
eine monosyllabische Sprache zu<br />
lernen. Das kann nicht nur ich Ihnen<br />
bestätigen, sondern auch viele<br />
meiner Chinesisch-Schüler!<br />
David Nowak<br />
David Nowak beschäftigt sich seit<br />
2004 intensiv mit der chinesischen<br />
Sprache und Kultur. Er beherrscht<br />
Chinesisch in Wort und Schrift.<br />
2010-2016 hat er in Peking gelebt<br />
und dort an verschiedenen Sprachschulen<br />
Deutsch unterrichtet. Während<br />
seiner Zeit als Deutschlehrer<br />
in China konnte er das „Reich der<br />
Mitte“, seine Menschen und seine<br />
Kultur gut kennenlernen.<br />
Als erfahrener Chinesischlehrer<br />
gibt David Nowak seine Kenntnisse<br />
der chinesischen Sprache und seine<br />
Erfahrungen mit der chinesischen<br />
Kultur an seine Schüler weiter.<br />
Kontakt: david.nowak1988@web.<br />
de<br />
Foto: Nowak
Sommer 2022 UNIversalis-Zeitung 11<br />
Horror der Mutterschaft<br />
Jessica Linds fantastischer Roman „Mama“ erzählt von der Angst im Kinderwunsch<br />
Der Wald als Ort einer unheimlichen Schwangerschaft<br />
Foto: Fez Brook / Pexels<br />
E<br />
in Paar geht in den<br />
Wald, um ein Kind zu<br />
zeugen und geht verloren.<br />
Dazwischen Beziehungsängste,<br />
unheimliche<br />
Begegnungen mit der Natur und<br />
Zeitsprünge. Jessica Linds Roman<br />
gestaltet Mutterschaft zum<br />
leisen Horror, aber auch zur archaischen<br />
Einheit – und streift<br />
damit zeitgenössische Debatten<br />
um Schwangerschaftsangst und<br />
schwierige Mutterrollen.<br />
„Dann fängt Josef an, über ihre<br />
Zukunft zu reden. Über das Kind,<br />
das er Raupe nennt. Immer, wenn<br />
er das sagt, hat sie einen Parasiten<br />
vor Augen, der an ihr nagt und von<br />
ihr zehrt, bis er groß genug ist,<br />
sich zu verpuppen und aus ihr herauszubrechen<br />
wie aus einem Kokon.“<br />
Amira fürchtet ihre Schwangerschaft<br />
und die Geburt ihres<br />
Kindes. Zunächst noch treibende<br />
Kraft hinter der Entscheidung, mit<br />
ihrem Mann Josef endlich ein Kind<br />
zu haben, bekommt sie kurz vor<br />
der Geburt kalte Füße. Im urigen<br />
Waldhaus, das beide für die Zeugung<br />
des Kindes und während der<br />
Schwangerschaftszeit beziehen,<br />
wird das süße Baby zum Para-<br />
siten, der eigene Körper wandelt<br />
sich vom warmen Nest zum Wirtskörper.<br />
Tokophobie, Schwangerschaftsphobie<br />
nennt die Weltgesundheitsorganisation<br />
die Angst,<br />
die Amira vor ihrer Geburt erlebt.<br />
Und dann das Trauma. Plötzlich<br />
steht Amira, im einen Moment<br />
noch schwanger, ihrer kleinen<br />
Tochter auf einer Lichtung gegenüber.<br />
An eine Geburt, an keine<br />
noch so erschreckende, kann sich<br />
Amira nicht erinnern. Das Erleben<br />
einer erfolgten Geburt als traumatisch<br />
gehört zu den Symptomen der<br />
Tokophobie. Plötzlich ist da das<br />
„fremde Mädchen“ auf Josefs Arm.<br />
Zwischen Amiras Schwangerschaft<br />
und der Existenz des Kleinkinds<br />
scheinen nur Momente vergangen<br />
zu sein. Traumata hinterlassen Lücken.<br />
Und aus der Lücke schlüpft<br />
ein Kind.<br />
Regretting Motherhood<br />
Unter dem Titel „Regretting Motherhood“<br />
veröffentlichte der beliebte,<br />
öffentlich-rechtlich finanzierte<br />
YouTube-Kanal „Die Frage“<br />
am 26. Mai 2020 ein Gespräch mit<br />
Sabrina. Sabrina bereut, ein Kind<br />
bekommen zu haben. Wie für Amira<br />
war Sabrinas Kind zunächst<br />
Wunschkind. Als das Kind aber<br />
endlich auf der Welt war, fehlten<br />
jegliche „Muttergefühle“. Zwar<br />
liebt Sabrina ihr Kind, will aber<br />
keine Sorgefunktion übernehmen.<br />
Die Frau erscheint im Video anonymisiert,<br />
auch ist Sabrina nicht<br />
ihr wirklicher Name. Erkannt werden<br />
möchte sie nicht. Zu groß ist<br />
der Erwartungsdruck gegenüber<br />
Müttern, ihre Kinder zu lieben<br />
und aufopferungsvoll für sie da zu<br />
sein, zu groß das Stigma der „Rabenmutter“.<br />
Liest man einige der Kommentare<br />
unter dem Video, das über eine<br />
halbe Millionen Aufrufe hat, sieht<br />
man, wie emotional aufgeladen<br />
das Thema ist – und wie befreiend<br />
die Aussprache Sabrinas für viele<br />
wirkt. Eine Person muss „kotzen“<br />
angesichts der mütterlichen Selbstaufgabe,<br />
die sie als sexistische Erwartung<br />
gegenüber Frauen liest:<br />
das Kinderbekommen, die bedingungslose<br />
Liebe zum Kind, das<br />
Ignorieren der Schmerzen. Auch<br />
die Protagonistin von Jessica Linds<br />
Roman kann den Mutmachsprüchen<br />
ihrer Hebamme Carina nicht<br />
vertrauen. Das tiefe Vertrauen, das
12 UNIversalis-Zeitung Sommer 2022<br />
Carina dem weiblichen Körper<br />
zuspricht, hat Amira nicht, nicht<br />
gegenüber einem Körper, „der sie<br />
ständig im Stich lässt, der überhaupt<br />
nicht mehr so funktioniert,<br />
wie sie es gewohnt ist.“<br />
Ihrem Mann Josef kann sich Amira<br />
auch nicht anvertrauen. Josef<br />
nennt ihr parasitär gewordenes<br />
Kind ohne Zynismus eine „Raupe<br />
Nimmersatt“, Josef streicht<br />
das Kinderzimmer rosa und denkt<br />
sich ihre gemeinsame Zukunft<br />
„in bunten Farben“. Unter dem<br />
Video „Regretting Motherhood“<br />
empört sich ein Mann darüber,<br />
dass Frauen in solchen Situationen<br />
nicht beigestanden werde. Ein<br />
„richtig ekelhafter Shitstorm“ entstünde,<br />
wenn eine Frau über ihre<br />
ungewollte Mutterrolle spreche.<br />
Am Ende stellt der Kommentator,<br />
der auch Podcaster ist, die Frage:<br />
„Ist es denn so verwerflich, dass es<br />
Menschen gibt, die sich gegen das<br />
Gesetz der Natur stellen?“<br />
Man könnte überlegen, ob Amira<br />
tatsächlich ein „Gesetz der Natur“<br />
bricht. Die Natur schließlich, ihr<br />
Körper und der Wald um sie herum,<br />
scheinen sich ihrer Kontrolle<br />
zu entziehen. Im Wald trifft Amira<br />
auf einen seltsamen Wanderer,<br />
der ihr auch aufzulauern scheint.<br />
Sie trifft eine Hündin, die sie verfolgt<br />
und bald attackiert. Und der<br />
Wald selbst ist für Amira weniger<br />
der sinnbildliche Schoß der Natur<br />
als ein undurchdringliches, auch<br />
lebensfeindliches Geflecht. Giftpflanzen,<br />
Wege, die Irrwege sind.<br />
Bereits zu Beginn steht Amiras Unwohlsein<br />
mit der Natur: „Überall<br />
karge Stämme, die dichten Wipfel<br />
lassen kaum Licht herein.“ Kargheit<br />
und Dunkelheit. Die Lesenden<br />
wissen, dass es mit Amira und ihrem<br />
anfänglichen Kinderwunsch<br />
nicht gut kommen wird.<br />
Mutterschaft ohne Vater<br />
Sind weder der Körper noch der<br />
Wald sichere Rückzugsräume, ist<br />
es auch die Hütte nicht, die das<br />
Paar bezieht. Das idyllisch-urige<br />
Holzhaus gehörte einmal Josefs<br />
Vater. Der starb im Wald, als Josef<br />
noch ein Kind war. Ein Trauma,<br />
das über der Hütte hängt und den<br />
Wald noch ein Stückchen dunkler<br />
werden lässt, für Amira und<br />
für Josef. Denn Josef scheint mit<br />
seiner Vergangenheit weniger versöhnt<br />
zu sein, als Amira anfänglich<br />
zu glauben scheint. Der fehlende<br />
Vater ist Josefs traumatische Leerstelle,<br />
ein Ort, an dem Amira ihren<br />
Mann nicht erreicht. Eine Lücke<br />
verbleibt, die ihre Partnerschaft<br />
aufzubrechen droht.<br />
Josefs Trauma besteht nicht bloß<br />
darin, dass sein Vater eines Tages<br />
plötzlich verschwand, sondern<br />
auch darin, dass er bereits zuvor<br />
nicht anwesend war:<br />
„Ich will nicht so ein Vater sein<br />
wie er“, sagt er.<br />
„Was war er denn für ein Vater?“<br />
„Er wollte überhaupt kein Vater<br />
sein.“<br />
In der Kommentarspalte unter dem<br />
Video „Regretting Motherhood“<br />
berichtet eine Person davon, als<br />
„bereutes Kind“ in eine Familie<br />
voller unterdrückter Traumata geboren<br />
worden zu sein. Als Kind<br />
sollte sie die Probleme der Familie<br />
kompensieren. Selbst schwanger<br />
zu werden sei für sie ein „persönlicher<br />
Albtraum“. Auch im Kontext<br />
der Schwangerschaftsphobie wird<br />
von einer möglichen Vererbung der<br />
Problematik berichtet.<br />
Mit der unverhofften Geburt des<br />
Kleinkinds aus dem Nichts akzeptiert<br />
Amira das „Gesetz der Natur“<br />
und damit ihre Tochter Luise. Das<br />
Trauma scheint überkommen und<br />
die Einheit zwischen Mutter und<br />
Kind erreicht. Mutterschaft ist im<br />
Blick Amiras wieder jener archaische,<br />
körperliche Wunsch: „Amira<br />
hat nicht geahnt, wie sehr sie sich<br />
eins wünscht, bis sie vermutete,<br />
schwanger zu sein.“ Die Vorstellung<br />
vom Parasiten ist verschwunden,<br />
ebenso die Konkurrenz zu<br />
Josef, der die Vatergefühle mehr<br />
genossen zu haben schien als Amira<br />
ihre Schwangerschaft. Im Rückblick<br />
wirkt die schwierige Schwangerschaft<br />
als notwendiger Schritt<br />
zu einem festen Bund zwischen<br />
Mutter und Kind. Ein Bund, der<br />
dem Mann schließlich nicht mehr<br />
zugänglich ist: „Luise ist in Amira<br />
gewachsen. Josef wird niemals Teil<br />
dieser Einheit sein.“<br />
Wer die Bibel kennt, weiß, welche<br />
Leihvaterfunktion Josef einnimmt.<br />
Nach der unbefleckten Empfängnis<br />
bleibt er zwar Mann Marias, ist jedoch<br />
nicht Vater des Gottessohns.<br />
In Linds Roman tritt an die Stelle<br />
Gottes die Natur. Wann genau<br />
Amira, deren Namensähnlichkeit<br />
zu Maria in diesem Kontext sicher<br />
nicht zufällig ist, schwanger wird,<br />
ist nicht klar, jedoch findet sie ihr<br />
plötzliches Kind im Wald auf, als<br />
sei es eine Gabe der Natur.<br />
Eine erzählerische Vorausdeutung<br />
dieser Ereignisse erlaubt sich der<br />
Roman auch. In der Hütte fin-<br />
det Amira ein Märchenbuch, das<br />
Josefs Vater geschrieben hat. Dort<br />
erzählt er von einer Mutter und<br />
ihrem Kind. Beide leben in einer<br />
Hütte, von einem Vater ist nicht<br />
die Rede. Das Kind hat der Wald<br />
geschenkt – wenn auch zu einem<br />
Preis: Beide dürfen den Ort nicht<br />
verlassen. Das Märchen reicht<br />
jedoch vorauseilend ein Happy<br />
End nach: „So waren sie vergessen<br />
von der Welt und es war gut,<br />
denn sie brauchten zu ihrem Glück<br />
nichts als einander.“ Und siehe, es<br />
war gut: Wie ein Bibelautor setzt<br />
Josefs Vater eine Welt, die ihn, den<br />
menschlichen Vater nicht braucht.<br />
Eine Welt, die sein Sohn nicht akzeptieren<br />
will – aber muss. Denn,<br />
so viel sei auch hier vorausgegriffen,<br />
Amira, ihr Kind und der Wald<br />
gehen eine Beziehung ein, die intensiver<br />
ist, als sich das Josef mit<br />
seinen Vateransprüchen nur wünschen<br />
kann.<br />
Mutterschaft im Wald<br />
„Mama“ ist kein Buch, das bloß<br />
von den Problemen der Mutterschaft<br />
erzählt. Mama sucht Orte,<br />
Bilder und Symbole, um der emotionalen<br />
Verwirrung seiner Protagonistin<br />
Amira Ausdruck zu verleihen.<br />
Dafür ist der Wald als Handlungsort<br />
und Symbol ideal. Wie<br />
einige Orte der Natur wird auch<br />
er in der westeuropäischen Kultur<br />
äußerst ambivalent gewertet. Mal<br />
gilt er als Schoß der Natur, mal als<br />
Kirche Satans, mal als undurchdringliches<br />
Dickicht, Erholungsort,<br />
romantisch verklärtes Idyll,<br />
Labyrinth oder Rückzugsort. Von<br />
seinen Zuschreibungen zu trennen,<br />
ist der Wald in keinem Fall, ebenso<br />
wenig von der Protagonistin des<br />
Romans. Ihre widersprüchlichen<br />
Gefühle zur Schwangerschaft und<br />
Mutterschaft spiegeln sich in der<br />
mal behütenden, mal gefährlichen<br />
Umgebung.<br />
Als Amira die Figur des mysteriösen<br />
Wanderers zum ersten Mal<br />
trifft, ist er eine klassische Schreckgestalt,<br />
die den verängstigten Menschen<br />
geisterhaft verfolgt. Akzentuiert<br />
wird dieser Charakter durch<br />
die Ähnlichkeit des Wanderers zu<br />
Josefs verstorbenem Vater, der<br />
ebenfalls als uriger Naturbursche<br />
beschrieben wird und seit seinem<br />
Tod im Wald um die Hütte zu geistern<br />
scheint. Die Figur des Wanderers<br />
erschöpft sich jedoch nicht<br />
als Horrormotiv. Der seltsame<br />
Alte führt Amira auch durch den<br />
unheimlichen Wald, wortkarg und<br />
wenig zugänglich, aber voller Sicherheit<br />
und Vertrauen in die Natur.<br />
Sein Spiegelbild, Josefs Vater,<br />
hat Amira und ihrem Kind ein Märchen<br />
vorgeschrieben, eins mit Happy<br />
End im Wald. Oder zumindest<br />
ein halbes Happy End, denn auch<br />
hier steckt der Widerspruch: Zwar<br />
hält der Wald beide Figuren gefangen,<br />
lässt sie so aber auch erst auf<br />
ihr Glück stoßen.<br />
So viel sei ein letztes Mal vorweggenommen:<br />
Von einem ungebrochenen<br />
Mutter-Kind-Friede<br />
wird „Mama“ nicht erzählen. Die<br />
Ängste einer Mutterschaft bleiben<br />
erhalten und auch die kleine Luisa<br />
wird für Amira kein Engel bleiben<br />
– ebenso wenig wie Amira ihrem<br />
eigenen Körper oder ihrem Mann<br />
Josef letztlich voll vertrauen kann.<br />
Jessica Lind findet in ihrem Roman<br />
klare, eindringliche Bilder, um die<br />
verworrene Gefühlslage einer Frau<br />
darzustellen. Traumata werden zu<br />
erzählerischen Leerstellen, Widersprüche<br />
zu skurrilen Bildern. Und<br />
am Ende bleibt eine feministische<br />
Botschaft. Mutterschaft ist etwas,<br />
das nur die Mutter selbst bewerten<br />
kann, dem nur sie sich widmen<br />
und dem nur sie entkommen kann.<br />
Dass der Roman in dieser Erkundung<br />
viele unangenehme, tabuisierte<br />
Bereiche streift, macht ihn<br />
nur ehrlicher. „Mama“ zeigt vor<br />
dem Abenteuer Kind einen tiefen<br />
Respekt. Und hat Respekt je einem<br />
Menschen geschadet?<br />
Jessica Lind: „Mama“, Kremayr<br />
& Scheriau 2021.<br />
Fabian Lutz<br />
Literatur auf Socken<br />
Ein Bericht zu Lea Draegers Lesung im Rahmen der Lesungsreihe Zwischen/miete des Deutschen<br />
Seminars der Universität Freiburg<br />
Die Luft ist lau an diesem Abend<br />
im grünen Innenhof des Jos Fritz<br />
Cafés. Auf bunten Gartenstühlen<br />
und kleinen Bänken sitzen 20 bis<br />
30 Leute. Es wird geraucht, getrunken<br />
und gelacht. In den Ästen<br />
der großen Kastanie, deren Zweige<br />
den Innenhof teilweise überwölben,<br />
zwitschern die Vögel. Dann beginnt<br />
Lea Draeger auf der kleinen Bühne<br />
zu lesen und malt mit sonorer<br />
Stimme einprägsame Bilder an die<br />
Hauswände des Innenhofs.<br />
Ihre Sprache ist gnadenlos direkt,<br />
hart und gleichzeitig fragil.<br />
Schonungslos ehrlich berichtet sie<br />
in zarten Bildern von harten, unschönen<br />
Themen. Lea Draeger liest<br />
eine Geschichte über die Frauen<br />
mehrerer Generationen einer Familie<br />
– die Großmutter, die Mutter und<br />
die 13-jährige Ich-Erzählerin, die in<br />
eine Psychiatrie eingewiesen wird,<br />
weil sie aufgehört hat zu sprechen<br />
und zu essen. Es sind Passagen aus<br />
ihrem Debütroman „Wenn ich euch<br />
verraten könnte“, der im Januar<br />
2022 bei Hanserblau erschien.<br />
Je tiefer man in die Welt der namenlos<br />
bleibenden Protagonistin<br />
eintaucht oder gesogen wird, desto<br />
mehr kann man diese Entscheidung<br />
der Verweigerung verstehen. Es ist<br />
eine Welt, in der es nur Schreien<br />
gibt oder Stille, nur Heilige oder<br />
Huren, unerreichbare Ideale und<br />
Rollen, aus denen nicht ausgebrochen<br />
werden kann. Die großen Themen<br />
des Romans sind patriarchale<br />
Strukturen, Gewalt und Ohnmacht,<br />
Schuld und Verlust.<br />
Dadurch, dass die Figuren nicht<br />
durchpsychologisiert sind und diese<br />
Außenperspektive konsequent<br />
durchgehalten wird, wirken sie hart<br />
und fremd. Die männlichen Figuren<br />
beispielsweise werden mit Ausnahme<br />
des Vaters Jürgen lediglich bei<br />
ihrer Familienrolle benannt. Fremd<br />
bleiben sich nämlich auch die Familienmitglieder<br />
der Erzählerin, gewissermaßen<br />
auf das Korsett ihrer<br />
Rolle beschränkt. Für Solidarität ist<br />
da wenig Raum. Die Familie kam<br />
1968 aus der Tschechoslowakei<br />
nach Deutschland. Warum, weiß<br />
niemand. Darüber wird geschwiegen.<br />
Dieses Schweigen wird zu<br />
etwas wie dem Zentralmotiv des<br />
Romans.<br />
Es sind mehrere Textstellen, die Lea<br />
Draeger vorbereitet hat. Nach jeder<br />
vorgelesenen Passage wird die Lesung<br />
durch ein Gespräch von Moderatorin<br />
und Autorin aufgelockert.<br />
Hier lässt sich Spannendes über den<br />
Schreibprozess der Autorin und den<br />
Roman an sich erfahren.<br />
Lea Draeger, die für den Abend<br />
extra aus Berlin angereist ist, berichtet<br />
unter anderem, dass sie über<br />
die letzten Jahre hinweg damit<br />
begonnen hatte, themenbezogene<br />
Fragmente zu schreiben. Zunächst<br />
im Kontext des Zeichnens von<br />
Marien-Ikonen, zu denen sie diese<br />
Szenen verfasste. Lea Draeger ist<br />
nämlich auch bildende Künstlerin.<br />
Schon bald wurde ihr aber bewusst,<br />
dass sie aus den Skizzen ein zusammenhängendes,<br />
rein textliches<br />
Werk schaffen wollte. Erst im Corona-Lockdown<br />
2020 kam sie dann<br />
dazu, sich länger hinzusetzen und<br />
strukturiert an ihrem Debütroman<br />
zu arbeiten. Bevorzugt schrieb sie<br />
dabei nachts, gegen Ende des Prozesses<br />
dann auch im Zug oder hinter<br />
der Bühne – denn, ach ja: Theaterschauspielerin<br />
im Ensemble des<br />
Berliner Maxim Gorki Theaters ist<br />
Lea Draeger auch. Und nun Autorin.<br />
Darüber sagt sie: „Wenn ich eine<br />
Rolle spiele, ist es oft so, dass ich<br />
sehr viel von mir in die Rolle gebe<br />
und sie so fülle. Das findet aber<br />
immer nur über einen recht kurzen<br />
Zeitraum statt und dann kommt das<br />
nächste Stück. Ein Buch hingegen<br />
wächst über Jahre in einem. Auch<br />
die Unabhängigkeit beim Schreiben<br />
hat mir gut gefallen.“<br />
An diesem Abend sind es die leisen<br />
Töne, die die tiefsten Spuren hinterlassen.<br />
Die Tochter, die die Muttersprache<br />
wortwörtlich wie metaphorisch<br />
nicht mehr verstehen kann, verfällt<br />
ins Schweigen.<br />
„Wenn ich euch verraten könnte“<br />
ist auch ein Buch über diese Unzugänglichkeit,<br />
die Einsamkeit, die<br />
gegenseitige Verletzung, die Scham,<br />
die Ohnmacht im Angesicht des<br />
Erbes des Schmerzes, des Traumas,<br />
des „Seelenkrebs“, der von Generation<br />
zu Generation weitergegeben<br />
wird. Und doch ist der Roman nicht<br />
trostlos, beginnt doch die Erzählerin<br />
in der Psychiatrie in einem karierten<br />
Buch die Geschichte der Frauen ihrer<br />
Familie zu erzählen. Einerseits<br />
wird somit die Geschichte des Mädchens<br />
in der Psychiatrie erzählt,<br />
andererseits auch ihre Familiengeschichte<br />
durch die subjektive Linse<br />
der Jugendlichen porträtiert. Aus<br />
Fragmenten und Rückblenden setzt<br />
sich immer mehr ein ganzheitliches<br />
Mosaik zusammen. Es ist ein Mosaik<br />
der Wut als Werkzeug gegen die<br />
Apathie. Die Protagonistin findet zu<br />
ihrer eigenen Stimme. Sie verfasst<br />
ihre eigene Geschichte.<br />
Das Team der Zwischen/miete, das<br />
die Lesungen organisiert, besteht<br />
ausschließlich aus Studierenden<br />
und wechselt immer wieder. Entstanden<br />
ist die Lesungsreihe aus einer<br />
Übung des Deutschen Seminars<br />
der Universität Freiburg. Sie findet<br />
bereits seit 2010 statt. Unterstützt<br />
und finanziert wird das Ganze vom<br />
Literaturhaus Freiburg. Nichtsdestotrotz<br />
ist das Team bei der Auswahl<br />
der eingeladenen Autor:innen<br />
völlig frei. Sie berichten über die<br />
Lea Draeger liest aus ihrem Debütroman „Wenn ich euch verraten könnte“<br />
(Hanserblau, 2022)<br />
Auswahl der Gäste: „Wir bekommen<br />
viele noch unveröffentlichte<br />
Werke – meistens Debüts – von<br />
jungen Autor:innen, die wir dann<br />
erstmal lesen. Dann werden die<br />
Texte gemeinsam diskutiert und wir<br />
einigen uns auf den Text, der uns<br />
am besten gefällt.“ Genretechnisch<br />
decken die Organisator:innen dabei<br />
Romane, Lyrik und Erzählungen ab<br />
– sogar eine GraphicNovel gab es<br />
schon.<br />
Normalerweise finden die Lesungen<br />
der „Zwischen/miete“-Reihe in privaten<br />
Wohngemeinschaften statt<br />
– daher auch der Name. Die Literatur<br />
auf Socken schafft dabei einen<br />
intimen Rahmen, in dem auch<br />
die Grenze zwischen Autor:in und<br />
Publikum zunehmend verschwindet<br />
und in einen Dialog getreten<br />
werden kann. Da coronabedingt<br />
nun schon länger Hygienekonzepte<br />
notwendig sind, sei die Lese-Reihe<br />
in letzter Zeit leider nicht mehr in<br />
Wohngemeinschaften möglich gewesen,<br />
berichtet eine der Organisatorinnen.<br />
Das Café POW oder eben<br />
Foto: Shiqi Yu<br />
das Jos Fritz Café waren Ausweichlocations.<br />
Für die nächste Lesung<br />
im Juli besteht aber die Hoffnung<br />
einer Rückkehr des Formats in eine<br />
WG. Dafür wird momentan noch<br />
eine passende gesucht – Wenn ihr<br />
also in einer großen WG lebt und<br />
Lust habt, sie für eine Lesung bereitzustellen,<br />
dann meldet euch gerne<br />
beim Literaturhaus!<br />
Julian Hienstorfer
Sommer 2022 UNIversalis-Zeitung 13<br />
„Es wäre der größte Irrtum zu meinen, diese Gräuel seien eine Sache der Vergangenheit. Konzentrations- und Vernichtungslager sind die neuesten<br />
und bedeutsamsten Werkzeuge aller totalitären Herrschaftsformen.“ Hannah Arendt<br />
Léon Poliakov: „Vom Hass zum Genozid.<br />
Das Dritte Reich und die Juden“<br />
Bedeutendes Werk der frühen Holocaustforschung<br />
„L<br />
éon Poliakovs Buch<br />
über das Dritte Reich<br />
und die Juden ist das<br />
erste, das die späten<br />
Phasen des Nazi-Regimes strikt<br />
auf der Grundlage von Primärquellen<br />
darstellt. Er hat einen<br />
Blick für das Wesentliche und<br />
verfügt über eine vollständige<br />
und intime Kenntnis der komplizierten<br />
Verwaltungsmaschinerie<br />
Nazi-Deutschlands“, schrieb<br />
Hannah Arendt in ihrer Rezension<br />
des Buches „Breviaire de la<br />
haine. Le III Reich et les Juifs“.<br />
Bald nach der französischen<br />
Originalausgabe 1951 wurde es<br />
in mehrere Sprachen übersetzt,<br />
doch mussten siebzig Jahre vergehen,<br />
bis es nun unter dem Titel<br />
„Vom Hass zum Genozid. Das<br />
Dritte Reich und die Juden“ auf<br />
Deutsch vorliegt. Bewältigt hat<br />
diese Herkulesarbeit der Historiker<br />
und Politologe Ahlrich Meyer<br />
(*1941), emeritierter Professor<br />
der Universität Oldenburg, dem<br />
wir auch die Übertragung von<br />
Serge Klarsfelds bahnbrechender<br />
Recherche „Vichy-Auschwitz“<br />
(1989) verdanken sowie eigene<br />
Forschungen zum Thema, darunter<br />
„Die deutsche Besatzung<br />
in Frankreich 1940-1944. Widerstandsbekämpfung<br />
und Judenverfolgung“.<br />
Schon 1943 hat Léon Poliakov<br />
(1910–1997) begonnen, für sein<br />
Buch zu recherchieren; damals war<br />
er gemeinsam mit Isaac Schneersohn<br />
in der französischen Résistance<br />
aktiv und beteiligte sich mit<br />
rund vierzig anderen Personen an<br />
der sukzessiven Sicherung von Dokumenten<br />
zur NS-Verfolgung. Auf<br />
diese Weise wurde das Centre de<br />
Documentation Juive Contemporaine<br />
(CDJC) in Paris begründet,<br />
das heute Teil der zentralen französischen<br />
Gedenkstätte und Forschungseinrichtung<br />
Mémorial de la<br />
Shoah ist.<br />
Für seine Studie hat Poliakov über<br />
200.000 Dokumente ausgewertet,<br />
darunter Aktenmaterial des „Judenreferats“<br />
der Gestapo, das die NS-<br />
Besatzung 1944 beim Rückzug aus<br />
Paris zurückgelassen hatte, sowie<br />
Dokumente der Parallelinstitution<br />
des Vichy-Regimes, der „Commissariat<br />
Général aux Questions<br />
Juives“ (CGQJ); wichtige Unterstützung<br />
erhielt er durch seinen<br />
SPEZIAL<br />
UNIversalis-Zeitung<br />
IMPRESSUM<br />
Herausgeber:<br />
Art Media Verlagsgesellschaft mbH<br />
Auerstr. 2 • 79108 Freiburg<br />
Telefon: 07 61 / 72 072<br />
e-mail: redaktion@kulturjoker.de<br />
Redaktionsleitung<br />
(V.i.S.d.P):<br />
Christel Jockers<br />
Mitstreiter Joseph Billig. Des Weiteren<br />
verfügte Léon Poliakov über<br />
die kompletten Ermittlungsakten<br />
der Nürnberger Prozesse, da er als<br />
Sachverständiger der französischen<br />
Delegation 1946 bis 1948 beim<br />
Internationalen Gerichtshof der<br />
Alliierten gegen die NS-Führung<br />
mitwirkte. Poliakovs Quellenmaterial<br />
ist mittlerweile vollständig archiviert.<br />
Ahlrich Meyer hat für die<br />
deutsche Ausgabe des Buches zahlreiche<br />
Originale ausgegraben, um<br />
Rückübersetzungen aus dem Französischen<br />
zu vermeiden; auch hat<br />
er in Fußnoten neuere Forschungsergebnisse<br />
und Korrekturen eingearbeitet.<br />
Eine editorische Notiz gibt<br />
zusätzliche Auskünfte, z.B. zu den<br />
Begrifflichkeiten, die sich seit den<br />
Fünfzigerjahren verändert haben;<br />
damals bezeichnete man etwa die<br />
Ermordung der Juden als Genozid,<br />
die Termini Holocaust oder Shoáh<br />
waren noch nicht gebräuchlich.<br />
Léon Poliakov antizipierte die später<br />
von Hans Mommsen formulierte<br />
These von der „kumulativen Radikalisierung“,<br />
als er schrieb: „Es<br />
wäre sicher ein Irrtum anzunehmen,<br />
den Prophezeiungen Hitlers hätten<br />
Für Universität und Hochschulen in Freiburg<br />
Autor*innen dieser Ausgabe:<br />
Pauline Ebert<br />
Dr. Martin Flashar<br />
Dr. Cornelia Frenkel<br />
Julian Hienstorfer<br />
Fabian Lutz<br />
u.a.<br />
Satz/Gestaltung:<br />
Art Media Verlagsgesellschaft mbH<br />
Druck:<br />
Rheinpfalz Verlag und Druckerei<br />
GmbH & Co. KG, Ludwigshafen<br />
Der Nachdruck von Texten und den vom<br />
Verlag gestalteten Anzeigen nur mit ausdrücklicher<br />
Genehmigung des Verlags.<br />
ein genauer Plan und im Voraus<br />
gefasste Entschlüsse zugrunde gelegen.“<br />
Poliakov betont die Prozesshaftigkeit<br />
des Geschehens, hebt als<br />
Antrieb für den antisemitischen<br />
Verfolgungs- und Vernichtungsprozesses<br />
ökonomische Aspekte sowie<br />
den rassistisch und christlich motivierten<br />
Judenhass hervor. Nicht nur<br />
Hitlers Führungsriege und abgerichtete<br />
Psychopathen, die Massaker<br />
im Osten begangen haben, sah<br />
er verantwortlich, sondern die gesamte<br />
deutsche Gesellschaft. „Was<br />
mir damals keine Ruhe ließ“, so<br />
Poliakov, „und sicherlich nicht nur<br />
mir, das (…) waren die Umstände,<br />
unter welchen die Führungsebene<br />
des Dritten Reichs beschlossen hatte,<br />
mich zu töten, ebenso wie Millionen<br />
andere menschliche Wesen.“<br />
Wie kam es zu dieser kaltblütigen<br />
Vernichtungsabsicht? Poliakov versucht<br />
den Zivilisationsbruch greifbar<br />
zu machen, indem er Raub,<br />
Versklavung, Ghettoisierung, Deportationen<br />
und schließlich die<br />
Einrichtung von „Todesfabriken“<br />
chronologisch rekonstruiert. Die<br />
Verbindung zwischen Massenmord<br />
und „Euthanasie“ thematisiert er<br />
ebenso wie das stillschweigende<br />
Einverständnis der Bevölkerung<br />
und die enge Zusammenarbeit deutscher<br />
Dienststellen und NS-Tätergruppen.<br />
Zudem widmet Poliakov<br />
dem jüdischen Widerstand, der von<br />
vielen Historikern bestritten wurde,<br />
ein eigenes Kapitel; dieses ist ebenso<br />
beeindruckend wie das Kapitel<br />
„Vichy-Frankreich als Sonderfall“,<br />
das mit Originaldokumenten – insbesondere<br />
dem Protokoll, das Heinz<br />
Röthke von seiner Unterredung mit<br />
Pierre Laval 1943 (15.8.) anfertigte<br />
– beleuchtet, wie das Gesetz „über<br />
die Aberkennung der französischen<br />
Staatsangehörigkeit“ an Pétain und<br />
Laval scheiterte und der SS-Mann<br />
Röthke feststellen musste, dass für<br />
das Projekt der „Endlösung“ die<br />
ablehnende Haltung der Italiener<br />
zum Hindernis wird und vor allem:<br />
„Die französische Regierung will in<br />
der Judenfrage nicht mehr mitziehen“.<br />
Dies machte die großen Pläne<br />
des Reichssicherheitshauptamts<br />
(RSHA), u.a. in Person von Röthke<br />
und Alois Brunner, nach und nach<br />
zunichte; trotzdem war die Verfolgung<br />
nicht beendet, die Besatzer<br />
setzten sie fort, teils unterstützt von<br />
der „Milice française“, die aber<br />
in der französischen Bevölkerung<br />
weder eine breite Basis hatte, noch<br />
eine antisemitische Hysterie auslösen<br />
konnte.<br />
„Vom Haß zum Genozid“ ist ein<br />
Buch, das der Ideologieproduktion<br />
entgegenwirkt, indem es die Vorgänge<br />
genau darlegt und u.a. zeigt,<br />
wie wenig es angebracht ist, in unserer<br />
Beziehung zur Vergangenheit<br />
nur das zu beachten, was auf den<br />
ersten Blick sichtbar ist, nämlich<br />
die Deportationen. Denn in dem<br />
von den Nazis besetzten Europa ist<br />
Frankreich das Land, in dem die<br />
jüdische Bevölkerung proportional<br />
am wenigsten Verluste erlitten hat.<br />
Auch Poliakovs Mitstreiter Isaac<br />
Schneersohn, Gründer des Centre<br />
de documentation Juive Contemporaine<br />
(CDJC), hat am Ende des<br />
Krieges festgehalten: „Nach Beurteilung<br />
des Archivmaterials, das<br />
wir gesichert haben, aber auch ausgehend<br />
von unserer persönlichen<br />
Erfahrung, können wir sagen, dass<br />
die französische Bevölkerung zwei<br />
Drittel der Juden in Frankreich gerettet<br />
hat.“ Die Grauenhaftigkeit<br />
der Shoah darf die Erinnerung an<br />
den (Rettungs-)Widerstand und die<br />
komplexen Machtkämpfe zwischen<br />
Besatzern, Kollaborations-Regime<br />
und Bevölkerung nicht ausgrenzen,<br />
damit die Gesamtzusammenhänge<br />
erkennbar bleiben; Poliakov leistet<br />
dazu einen wichtigen Beitrag. Er<br />
scheint prädestiniert gewesen zu<br />
sein, die historischen Ereignisse<br />
nicht einseitig wahrzunehmen; als<br />
Kind war er 1920 mit seinen Eltern<br />
dem sowjetrussischen Machtbereich<br />
entflohen und aus St. Petersburg<br />
nach Paris gelangt, im Zuge<br />
der NS-Besatzung Frankreichs sah<br />
er sich erneut auf der Flucht. Einzelheiten<br />
dazu enthalten seine autobiographischen<br />
Aufzeichnungen<br />
„St. Petersburg – Berlin – Paris:<br />
Memoiren eines Davongekommenen“.<br />
Wichtig bleibt zu erwähnen,<br />
dass Poliakov, gemeinsam mit<br />
dem Holocaustüberlebenden Joseph<br />
Wulf (1912-1974), der in West-Berlin<br />
lebte, zwischen 1955 und 1958<br />
drei Dokumentenbände zu NS-<br />
Tätergruppen veröffentlicht hat. In<br />
puncto Erinnerungsarbeit bot sich<br />
für Wulf jedoch in Deutschland ein<br />
vergleichsweise wenig günstiges<br />
Forschungsklima; in Frankreich<br />
waren Überlebende und NS-Gegner<br />
besser vernetzt und konnten, wie<br />
Poliakov, schon gegen Kriegsende<br />
eine Aufarbeitung der Verbrechen<br />
beginnen.<br />
• Léon Poliakov. Vom Hass zum<br />
Genozid. Das Dritte Reich und<br />
die Juden. Aus dem Französischen<br />
übersetzt, herausgegeben und<br />
mit einem Nachwort von Ahlrich<br />
Meyer. 599 S. Ed. Tiamat 2021<br />
• Ders. St. Petersburg – Berlin – Paris:<br />
Memoiren eines Davongekommenen.<br />
Ed. Tiamat. Berlin 2019<br />
Weiterführende Literatur<br />
• Meyer, Ahlrich (Hg.). Der Blick<br />
des Besatzers. Propaganda-Photographie<br />
der Wehrmacht aus Marseille<br />
1942-1944. Vorwort Serge<br />
Klarsfeld. Ed. Temmen 1999<br />
• ders. Die deutsche Besatzung<br />
in Frankreich 1940-1944. Widerstandsbekämpfung<br />
und Judenverfolgung.<br />
WB. Darmstadt 2000<br />
• ders. Täter im Verhör. Die „Endlösung“<br />
der Judenfrage in Frankreich<br />
1940-1944. Darmstadt 2005<br />
• ders. Täter und Opfer der „Endlösung“<br />
in Westeuropa. Paderborn<br />
2010<br />
• Meinen, Insa/Meyer, Ahlrich. Verfolgt<br />
von Land zu Land. Jüdische<br />
Flüchtlinge in Westeuropa 1938-<br />
1944. Unter Mitarbeit von Jörg<br />
Paulsen. Ferdinand Schöningh Verlag.<br />
Paderborn 2013<br />
Cornelia Frenkel
14 UNIversalis-Zeitung Sommer 2022<br />
Hohenhof, Ansicht von Westen<br />
Foto: Tobias Roch<br />
Essen feiert Jubiläum, der Hagener Impuls<br />
bleibt<br />
Karl Ernst Osthaus: Gelderbe, Sammler, Mäzen – und Motor der Moderne<br />
W<br />
er kennt nicht das Museum<br />
Folkwang in Essen!<br />
Gegründet vor 100 Jahren,<br />
im Oktober 1922,<br />
erhielt es internationale Aufmerksamkeit<br />
durch den zum Kulturhauptstadtjahr<br />
„Ruhr 2010“ realisierten<br />
Neubau des britischen Architekten<br />
David Chipperfield. Finanziert hatte<br />
das Projekt die Alfried Krupp von<br />
Bohlen und Halbach Stiftung, nachdem<br />
deren langjähriger Chef Bertold<br />
Beitz auf einer spektakulären Pressekonferenz<br />
am 24. August 2006 die<br />
finanzielle Förderung von55 Mio.<br />
Euro zugesagt hatte. Doch das Haus<br />
besitzt eine kunst- und kulturhistorisch<br />
nicht unbedeutsame Vorgeschichte.<br />
Karl Ernst Osthaus, geboren 1874<br />
in Hagen nahe der Ruhr, gleichsam<br />
schon in Sichtweite der großen Industriestädte<br />
Dortmund, Bochum<br />
und Essen, spielte die Schlüsselrolle.<br />
Durch Familie und Erbschaft kam<br />
er zu Geld. Eine historische Quelle<br />
ersten Ranges ist die mehrere Seiten<br />
umfassende autobiografische Notiz,<br />
die Osthaus seiner späten Dissertation<br />
„Grundzüge der Stilentwicklung“<br />
(erschienen 1918) beigab, drei Jahre<br />
vor seinem Tod. Darin schildert er<br />
wesentliche Etappen seiner Vita:<br />
„Mein Vater war der Bankier Ernst<br />
Osthaus, meine Mutter, Selma, die<br />
Tochter des Großindustriellen Wilhelm<br />
Funcke, dem Deutschland die<br />
Blüte seiner Holzschrauben-Industrie<br />
verdankt.“ Der Schwiegervaterführte<br />
in der zweiten Generation<br />
das industrielle Großunternehmen<br />
Funke & Hueck, mit zeitweilig bis<br />
zu 1.500 Beschäftigten. Finanzielle<br />
Unabhängigkeit war also gewährleistet,<br />
mehr noch: die Basis allen späteren<br />
mäzenatischen Wirkens.<br />
Im Frühjahr 1893 begann Osthaus,<br />
Literatur und Philosophie in Kiel<br />
zu studieren. „Ein Pfingstbesuch<br />
in Kopenhagen lenkte mein Interesse<br />
so stark auf die Gegenstände<br />
der bildenden Kunst, dass ich mich<br />
entschloss, das literarische Studium<br />
mit dem kunstgeschichtlichen und<br />
die Kieler Universität mit der Münchener<br />
zu vertauschen.“ In der Folge<br />
schrieb er sich der Reihe nach an<br />
den Universitäten Berlin, Straßburg,<br />
Wien und Bonn ein – und konnte es<br />
sich leisten.<br />
Wanderjahre mit abruptem<br />
Ende<br />
Die Vielfalt der Hochschullehrer,<br />
ihrer Ansätze und Methoden, weiteten<br />
Bildung und Interessen des<br />
großbürgerlichen Eleven hin auf<br />
eine kulturhistorische Sicht, auf<br />
Grundfragen der menschlichen Kultur.<br />
Zwischenzeitlich gerät Osthaus<br />
durch das Straßburger und Wiener<br />
Verbindungsleben auf politisch eingleisige<br />
Pfade: ein „Alldeutsches<br />
Reich“ schwebte ihm vor, bald wurde<br />
Foto: Martin Flas-<br />
Henri Matisse, „Nymphe und Satyr“, bemalte Keramikfliese, Detail aus einem Triptychon im Wintergarten des Hohenhofs, 1906–1908<br />
har<br />
er eines Besseren belehrt und, so die<br />
eigene Darstellung, „infolge eines zu<br />
intimen Verkehrs mit den Deutschnationalen<br />
in Österreich des Landes<br />
verwiesen“, im Juli 1896. Zeitweilig<br />
findet sich auch Antisemitisches in<br />
seinem Schrifttum. Daheim in Hagen<br />
war man nicht begeistert über<br />
die Eskapaden des Weltenbummlers.<br />
Wenige Monate später verstarben<br />
beide Großeltern Funcke und<br />
hinterließen ihm die beträchtliche<br />
Erbschaft von drei Millionen Mark<br />
(heutiger Wert: gut das Zehnfache<br />
in Euro). Zwei Drittel davon will<br />
Osthaus dem Allgemeinwohl widmen.<br />
Er scheint nun, politisch endlich<br />
geerdet, rückbezogen auf Bildungs-<br />
und Kulturprojekte in seiner<br />
Heimat: der Industriestadt Hagen.<br />
Und die Reisen nehmen zu. Es ging<br />
„in den Atlas und die Sahara“, auf<br />
den Balkan und in den Orient: „Ich<br />
besuchte Ungarn, Rumänien, die<br />
Türkei, Griechenland, Kleinasien<br />
und Aegypten. Die Reise machte<br />
mich zum Sammler von Kunstwerken,<br />
und als ich im Frühjahr 1899<br />
nach Hagen zurückkehrte, war das<br />
Problem der Aufstellung meiner<br />
Kunstsammlungen bereits dringend<br />
geworden.“ Im selben Jahr heiratet<br />
Osthaus, fünf Kinder werden in der<br />
Folge geboren.<br />
Eigene Kunstsammlung, eigenes<br />
Museum<br />
Die, befördert durch die Reisetätigkeit,<br />
angelegte beachtliche<br />
Sammlung bedurfte einer Heimat.<br />
1898 wurde der Grundstein für das<br />
Museum im Zentrum der Stadt gesetzt.<br />
Angedacht waren als Kern<br />
des Hauses: Naturkunde, dann die<br />
Gemäldeabteilung sowie außereuropäisches<br />
Kunstgewerbe. Es gab<br />
den Entwurf im späthistoristischen<br />
Neo-Renaissancestil, von der Hand<br />
des Berliner Architekten und königlichen<br />
Baurats Carl Gérard, der<br />
schon für den Vater gebaut hatte.<br />
Dann der Umschwung, der Konvention<br />
folgten formale Innovation und<br />
Avantgarde: „Mich berührte das<br />
Schaffen des Vlamen Henry van de<br />
Velde. Ein kurzer Entschluss machte<br />
ihn am 1. Mai 1900 zum Nachfolger<br />
meines Museumsarchitekten; leider<br />
stand der Rohbau damals fertig,<br />
und die Gestaltung des Künstlers,<br />
der alsbald seinen Wohnsitz von<br />
Brüssel nach Deutschland verlegte,<br />
konnte sich nur noch auf die Innenausstattung<br />
beziehen. So kam es,<br />
dass der als naturwissenschaftliche<br />
Anstalt projektierte Bau ein Programmwerk<br />
des modernen Stils in<br />
Deutschland wurde.“ Und van de<br />
Velde bewunderte das Engagement:<br />
„In weniger als einem Jahr hatte er<br />
Werke von Manet, Renoir, Seurat,<br />
Signac, Cross, van Gogh, Gauguin,<br />
und Skulpturen von Minne, Rodin,<br />
und Constantin Meunier erworben.<br />
Bevor die Freundschaft zwischen<br />
uns entstand.“ Im Sommer 1902 öffnete<br />
das Museum. Aktuelle Kunst<br />
war nun die Domäne. In Ausstellungen<br />
zeigte man hernach Werke<br />
der „Brücke“, Kirchner, Nolde, dann<br />
Archipenko und vor allem Christian<br />
Rohlfs, der durch die ‚Säuberungen‘<br />
der NS-Zeit wieder entfernt wurde.<br />
Die Kunsthistorikerin Birgit Schulte,<br />
langjährige Osthaus-Forscherin und<br />
stellvertretende Direktorin des Museums,<br />
konstatiert: „Das Folkwang<br />
erlangte schon bald den Ruf als das<br />
bedeutendste Museum für zeitgenössische<br />
Kunst.“ Osthaus notierte als<br />
Credo: „Das große Problem der Zeit<br />
war die Zurückführung der Kunst<br />
ins Leben, und dieser Aufgabe hat<br />
das Museum sich seither zu widmen<br />
versucht.“<br />
Ganz nebenbei zeugt von der<br />
persönlichen Historie der Kollektion<br />
auch das Osthaus-Bildnis von<br />
Ida Gerhardi, einer umtriebigen<br />
Hagener Kunstmalerin, zwölf Jahre<br />
älter als Osthaus. Sie beriet den<br />
Sammler bei Ankäufen, führte ihn<br />
in die Pariser Szene ein, bei Auguste<br />
Rodin und Aristide Maillol. Ihr Öl-<br />
Porträt zeigt den 29-jährigen jungen<br />
Gelehrten im Arbeitszimmer: angespannt,<br />
konzentrierten Blicks, mit<br />
der Linken eine Stuhllehne fassend,<br />
in der rechten Hand ein Schreibstift,<br />
im Hintergrund das Bücherregal und<br />
rechts eine Staffelei mit gerahmten<br />
Bildern –vorn auf dem Desk, deutlich<br />
sichtbar, steht eine antike Vase,<br />
ein Salbgefäß (Lekythos) der attischrotfigurigen<br />
Produktion des 5. Jahrhunderts<br />
vor Christus aus Athen. Die<br />
griechische Klassikzählte mit zum<br />
Weltkunsthorizont von Osthaus –<br />
und wurde also inszeniert.<br />
Was bedeutet die Folkwang-<br />
Idee?<br />
Folkwang ist ein Begriff, den wir<br />
heute nurmehr durch das Essener<br />
Museum kennen. Osthaus fand ihn<br />
in der nordischen Mythologie und<br />
entwickelte das zugehörige Lebenskonzept.<br />
Fólkvangr, das ‚Volksfeld‘,<br />
ist Territorium der Göttin Freya und<br />
mythischer Ort der Wiederkehr verstorbener<br />
Heldenfiguren in Walhall.<br />
Zugleich eben: Treffpunkt der Gemeinschaft.<br />
Osthaus reklamierte die<br />
Bezeichnung für sein Hagener Museum.<br />
Die gedankliche und terminologische<br />
Wurzel gründete in den jugendlichen<br />
Gespinsten, geprägt von<br />
germanisch-nordischer Saga. Doch<br />
mittlerweile hatte sich der Blick verändert,<br />
der Name implizierte ihm<br />
mehr: „Als Zentrum der schönen<br />
Künste der Welt sollte es zugleich<br />
ein Ort der Bildung und Volkserzie-
Sommer 2022 UNIversalis-Zeitung 15<br />
hung sein“ (Birgit Schulte). Deshalb<br />
erscheint auch eine zweite Gründung<br />
1909 nur konsequent: das „Deutsche<br />
Museum für Kunst und Gewerbe“,<br />
die Motivation steht in engem Zusammenhang<br />
mit Osthaus‘ Engagement<br />
im „Deutschen Werkbund“,<br />
dessen Vorstand er seit 1910 angehörte.Modernes<br />
Design ist hier das<br />
Thema, ein zunächst virtuelles Museum,<br />
eine Art „Zentrale für Wanderausstellungen,<br />
die den Umlauf<br />
des gewerblichen Ausstellungswesens<br />
zu erleichtern bestimmt war.<br />
Das Deutsche Museum erwirbt Objekte<br />
des modernen Kunstgewerbes,<br />
stellt sie zu Ausstellungen zusammen<br />
und verleiht sie an öffentliche Institute<br />
gegen eine Leihgebühr.“<br />
Künstlersiedlung am Hohenhof<br />
Um die Jahrhundertwende besaßen<br />
Künstlerkolonien, in schöner Natur<br />
meist und frei von den Zwängen<br />
staatlicher Akademien, Konjunktur:<br />
Worpswede im Teufelsmoor (seit<br />
1889), die Darmstädter Mathildenhöhe<br />
(seit 1899), der „Blaue Reiter“<br />
in Murnau am Staffelsee (seit 1908).<br />
Der legendäre Monte Verità bei Ascona<br />
am Lago Maggiore (seit 1900)<br />
zeigte vielleicht am deutlichsten den<br />
Drang zur praktischen Erprobung<br />
neuer Lebensformen: die Verbindung<br />
von Kunst mit der eigenen<br />
Daseinsgestaltung, Naturheilkunde,<br />
Vegetarismus, Nudismus.<br />
In diesen Kontext gehört die Aktivität<br />
von Osthaus: „Ich erwarb 1906<br />
ein Areal von 100 Morgen, entwarf<br />
mit Peter Behrens den Bebauungsplan<br />
und verteilte die Baublöcke<br />
und Straßen unter verschiedene<br />
Künstler.“ Es geht um die großzügig<br />
angelegte Gartenvorstand Hohenhagen,<br />
ein idyllischer Hügel etwa<br />
zwei Kilometer östlich des Stadtzentrums.<br />
Zuerst entstand 1908 der<br />
„Hohenhof“, das Wohnhaus für die<br />
Ida Gerhardi (1862–1927), Porträt von Karl Ernst Osthaus, 1903, Öl auf Leinwand, Osthaus Museum Hagen /<br />
Inv.-Nr. K 425<br />
Foto: Achim Kukulies<br />
Familie Osthaus, gebaut von Henry<br />
van de Velde. Dies „Gesamtkunstwerk<br />
des Jugendstils“ ist auch im<br />
Interieur bis ins Letzte durchkomponiert<br />
– und längst als eigenes Museum<br />
zugänglich. Es empfängt den<br />
Besucher ein monumentales Wandgemälde<br />
von Ferdinand Hodler, das<br />
Mobiliar großenteils von van de<br />
Velde selbst entworfen, Glasmalerei<br />
des Niederländers Jan Thorn Prikker<br />
– nicht zuletzt die Keramikfliesen im<br />
Wintergarten von Henry Matisse.<br />
Drei Villen nach Entwurf von Peter<br />
Behrens, der wenige Jahre zuvor als<br />
Architekt der im Sommer 2021 zum<br />
Unesco-Welterbe erklärten Mathildenhöhe<br />
wirkte, und elf weitere des<br />
Theosophen Jan Mathieu Lauweriks<br />
kamen noch hinzu, ehe der Erste<br />
Weltkrieg dem Großprojekt ein vorzeitiges<br />
Ende setzte.<br />
Ohne Osthaus kein Bauhaus<br />
Die nur scheinbar provokante<br />
Aussage trifft den Kern der Sache.<br />
Denn Osthaus hat, so die Quellenlage,<br />
Walter Gropius den „Werkbund“<br />
nahegebracht. Anfang Juni 1908<br />
besuchte Gropius erstmals das Hagener<br />
Museum.In der Rückerinnerung<br />
bestätigt Gropius brieflich im<br />
Mai 1968 die Schlüsselrolle von Osthaus<br />
bei der Gründung der „Weimar<br />
Arts and Crafts School“ 1919 – das<br />
Bauhaus wäre ohne das Netzwerk<br />
und die Initiative von Osthaus wohl<br />
nicht zustande gekommen. Wenige<br />
Monate vor dessen Gründung hatte<br />
Gropius an Osthaus geschrieben:<br />
„Ich bin dabei, etwas ganz anderes<br />
ins Werk zu setzen – eine Bauhütte!<br />
Mit einigen wesensverwandten<br />
Künstlern. Ich bitte Dich, darüber<br />
Schweigen zu bewahren.“ Die Vertrautheit<br />
dieser Zeilen gründet auf<br />
der engen Verbindung beider, sowie<br />
besonders der vorangegangenen Förderung,<br />
die Gropius durch Osthaus<br />
erhalten hatte: Netzwerk und Kontakte,<br />
Arbeitsaufträge.<br />
Der im Nachhinein geprägte Begriff<br />
vom „Hagener Impuls“ zur<br />
Charakterisierung dieses Reformwillens<br />
kurz vor dem Ersten Weltkrieg<br />
hat sich in der Forschung<br />
durchgesetzt.<br />
Ende und Verbleib der Sammlungen<br />
Karl Ernst Osthaus verstarb am<br />
Ostersonntag (27. März) 1921 in<br />
Meran, wo er sich zur Heilung einer<br />
Kehlkopftuberkulose aufhielt. Der<br />
Kunsthistoriker Walter Cohen formulierte<br />
in seinem Nachruf: „Osthaus<br />
war eine schöpferische Natur,<br />
dazu ein Maecen von ganz großem<br />
Wuchse; aber ich weiß nicht, ob es<br />
möglich ist, nun da er tot ist und wir<br />
uns nicht mehr wärmen können an<br />
dem Feuer seiner Augen, der aufrechten<br />
Mannhaftigkeit seines Wesens,<br />
seine Hauptschöpfung, den<br />
Folkwang, so zu bewahren, dass<br />
Gefahren vermieden werden, denen<br />
selbst der Begründer nicht immer<br />
aus dem Wege gehen konnte.“ Was<br />
Cohen mit dieser etwas düsteren<br />
Prognose meinte, bleibt zunächst offen.<br />
Kaum ist eine Kritik an Osthaus<br />
formuliert, den Cohen stets ehrte.<br />
Vermutlich liegt in dem Satz eine<br />
Vorahnung bezüglich des Erbes.Im<br />
Herbst 1922 wurde die Sammlung an<br />
die Stadt Essen verkauft, finanziert<br />
durch Mittel der Ruhrkohle AG. Die<br />
Bestände des Kunst- und Gewerbemuseums<br />
landeten 1923 im Kaiser-<br />
Wilhelm-Museum in Krefeld. Die<br />
Baukultur verblieb in Hagen. Das<br />
dortige Osthaus- Museum verwahrt<br />
auch das über 100.000 Dokumente<br />
umfassende Archiv seines Gründers.<br />
Martin Flashar
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