ALfA e.V. Magazin - LebensForum / 143 / 3/2022
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Nr. <strong>143</strong> | 3. Quartal <strong>2022</strong> | ISSN 0945-4586 | Einzelpreis 5,– E B 42890<br />
Interview<br />
Shawn Carney über<br />
die neuen USA<br />
Essay<br />
Es gibt kein Recht<br />
auf Abtreibung<br />
Gesellschaft<br />
Warten auf ein<br />
Machtwort<br />
EU VS. USA<br />
Kampf um<br />
den Lebensschutz<br />
LEBENSFORUM <strong>143</strong><br />
In Kooperation mit Ärzte für das Leben e.V.<br />
1<br />
www.alfa-ev.de
INHALT<br />
LEBENSFORUM <strong>143</strong><br />
TITELTHEMA POLITIK ZWISCHENRUF<br />
Zeitenwende<br />
im Lebensschutz<br />
4<br />
Nach dem Fall von »Roe vs.<br />
Wade« entscheiden in den USA<br />
wieder die Parlamente über die rechtliche<br />
Regelung von Abtreibungen. Eine<br />
entscheidende Weichenstellung kommt<br />
im November.<br />
Von Maximilian Lutz<br />
Von Menschwürde<br />
keine Spur<br />
14<br />
Das EU-Parlament spricht<br />
sich für ein »Recht auf Abtreibung«<br />
aus und fordert gar dessen<br />
Aufnahme in die Grundrechtecharta der<br />
Europäischen Union.<br />
Von Tim Bioly<br />
Auf der Seite des Lebens<br />
24<br />
Gott kann heilen, was im<br />
Leben von Menschen zerbrochen<br />
wurde. Das gilt sogar für die<br />
Selbsttötung. Aber die Würde verpflichtet<br />
uns auch zu einem entsprechenden<br />
Umgang mit uns selbst.<br />
Von Bischof em. Heinz Josef Algermissen<br />
Amerika konnte nicht<br />
mehr schlafen<br />
8<br />
Interview mit Shawn Carney,<br />
Gründer und Präsident von »40<br />
Days for Life«, einer amerikanischen<br />
Lebensrechtsorganisation, die weltweit<br />
Gebetsaktionen vor Abtreibungseinrichtungen<br />
durchführt.<br />
Von Cornelia Kaminski<br />
ESSAY<br />
»Recht auf Abtreibung«?<br />
20<br />
Wer meint, entscheiden<br />
zu dürfen, ob ein anderer<br />
weiterleben darf, bestreitet die Unverfügbarkeit<br />
des Lebens von Menschen<br />
durch ihresgleichen und erklärt auch<br />
das Leben aller anderen de facto für<br />
antastbar.<br />
Von Stefan Rehder<br />
GESELLSCHAFT<br />
Warten auf<br />
ein Machtwort<br />
26<br />
ZdK-Präsidentin Irme Stetter-<br />
Karp steht unter Druck.<br />
Tausende Katholiken fordern öffentlich<br />
ihren Rücktritt. Und das aus gutem<br />
Grund.<br />
Von Cornelia Kaminski<br />
2 LEBENSFORUM <strong>143</strong>
EDITORIAL<br />
Nur Wahrheit überdauert<br />
WEITERE THEMEN<br />
12 Bioethik-Splitter<br />
30 Bücherforum<br />
32 Kurz vor Schluss<br />
35 Impressum<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
worauf Lebensrechtler weltweit gehofft<br />
hatten, ist nun eingetreten: Das<br />
Grundsatzurteil »Roe vs. Wade«, das<br />
in den USA die vorgeburtliche Kindstötung<br />
zu einem verbrieften Verfassungsrecht<br />
gemacht hatte, wurde mit deutlicher<br />
Stimmenmehrheit aufgehoben.<br />
Nun entscheiden also wieder die einzelnen<br />
Bundesstaaten darüber, wie Abtreibungen<br />
dort geregelt werden sollen.<br />
Eins ist schon jetzt klar: Die USA sind<br />
in dieser Frage tief gespalten (S. 4 ff.).<br />
Während in immer mehr Staaten Regierungen<br />
Gesetze erlassen, die dem<br />
Lebensschutz dienen, werden in anderen<br />
jegliche Schutzzäune für das vorgeburtliche<br />
Kind geschliffen. In Kalifornien<br />
wurde mit AB 2223 ein Gesetz<br />
verabschiedet, das von Lebensrechtlern<br />
scharf kritisiert wird. Es sieht vor,<br />
dass niemand bestraft wird, der gegen<br />
die Gesundheits- und Sicherheitsstandards<br />
für Abtreibungen verstößt. Abtreibungen<br />
bis zur Geburt durch nicht<br />
zugelassene Abtreiber könnten selbst<br />
dann nicht bestraft werden, wenn diese<br />
über keinerlei entsprechende Ausbildung<br />
verfügen. Wie soll das die Gesundheit<br />
und Sicherheit von Frauen<br />
schützen?<br />
Wir wollten aber auch wissen, welche<br />
Auswirkungen das Urteil auf die<br />
Lebensrechtsbewegung in den USA<br />
hat – und haben dazu ein Interview<br />
mit Shawn Carney geführt, dem Gründer<br />
von »40 Days for Life«. Er erzählt<br />
uns, welchen Beitrag Lebensrechtler in<br />
den USA geleistet haben, um »Roe vs.<br />
Wade« zu kippen (S. 8 ff.).<br />
In Europa hat man hoch empfindlich<br />
reagiert. Das Europäische Parlament<br />
hat in einem einzigartigen Vorgang den<br />
Obersten Gerichtshof der USA kritisiert<br />
und die Regierung Biden aufgefordert,<br />
ein »Recht auf Abtreibung« auf nationaler<br />
Ebene zu gewährleisten – und<br />
fordert für Europa, es in die EU-Grundrechtecharta<br />
aufzunehmen. Wir berichten<br />
ab S. 14.<br />
Aus den USA lernen wir,<br />
wie mit solchen Forderungen<br />
umzugehen ist. Abtreibungen<br />
müssen unzweideutig<br />
als das bezeichnet<br />
werden, was sie sind: Die<br />
Tötung eines wehrlosen,<br />
unschuldigen Menschen<br />
(S. 20 ff.). Katholische Laien<br />
in Führungspositionen,<br />
die stattdessen das Narrativ<br />
der Abtreibungslobby<br />
unhinterfragt nachbeten,<br />
verdunkeln diese Botschaft (S. 26 ff.).<br />
Insofern sind wir sehr dankbar für den<br />
Zwischenruf von Bischof em. Heinz Josef<br />
Algermissen, der einen Blick auf<br />
das Lebensende wirft. Auch hier droht<br />
uns mit der Neuregelung des assistierten<br />
Suizids nach der Sommerpause<br />
ein Gesetz, das es ermöglicht, »auf<br />
eine tödliche Verzweiflung mit der Tötung<br />
des Verzweifelten« zu reagieren<br />
(S. 24 f.).<br />
Das Leben ist positiv besetzt, der Tod<br />
ist es nicht, und erst recht nicht eine<br />
Tötungshandlung. Nicht umsonst umgehen<br />
die Abtreibungsbefürworter die<br />
Tatsachen und sprechen lieber von<br />
»Gesundheitsvorsorge« und »Selbstbestimmung«.<br />
Gleiches gilt für das Lebensende.<br />
Unsere Aufgabe ist es dagegen, unablässig<br />
die Wahrheit zu wiederholen. Sie<br />
wird sich durchsetzen: Lügen, weiß der<br />
Volksmund, haben kurze Beine. Anders<br />
als die Wahrheit sind sie nicht von Dauer.<br />
Ihre<br />
Cornelia Kaminski<br />
Bundesvorsitzende der <strong>ALfA</strong> e.V.<br />
LEBENSFORUM <strong>143</strong><br />
3
TITELTHEMA<br />
Zeitenwende<br />
im Lebensschutz<br />
»Roe vs. Wade« ist Geschichte, die Parlamente entscheiden wieder über die Abtreibungsgesetze.<br />
Während einzelne Staaten bereits zur Tat geschritten sind, suchen die Demokraten<br />
fieberhaft nach einem Weg, das neue Gerichtsurteil zu umgehen. Eine entscheidende<br />
Weichenstellung kommt im November.<br />
Von Maximilian Lutz<br />
Wer in den letzten Wochen<br />
durch Kalifornien fuhr, hatte<br />
gute Chancen, am Straßenrand<br />
auf eine überdimensionale Reklametafel<br />
in knallig-bunten Farben zu<br />
stoßen. Werbung für ein Wellness-Resort?<br />
Den nächsten Burger-Grill? Weit<br />
gefehlt. »Willkommen in Kalifornien,<br />
wo Abtreibung sicher und weiterhin<br />
legal ist«, steht auf den »Billboards«<br />
zu lesen, die gleich in mehreren Städten<br />
des US-Westküstenstaats ins Auge<br />
springen. Finanziert hat sie die Organisation<br />
»Planned Parenthood« – und<br />
damit vor allem im Netz eine kontrovers<br />
geführte Debatte losgetreten. Während<br />
die einen von der »coolsten Aktion«<br />
sprechen, die sie je gesehen haben,<br />
kündigen andere an, den Staat nun verlassen<br />
zu wollen.<br />
Dabei ist die Werbekampagne von<br />
Planned Parenthood im Wortsinn nur<br />
eine symbolische Maßnahme. Der größte<br />
Anbieter von Abtreibungen in Ame-<br />
4 LEBENSFORUM <strong>143</strong>
TITELTHEMA<br />
JUDITHANNE/STOCK.ADOBE.COM<br />
rika ist seit einigen Wochen spürbar unter<br />
Zugzwang. Genauer gesagt, seit dem<br />
24. Juni. An jenem Tag veröffentlichte<br />
der Oberste Gerichtshof der USA<br />
sein lange erwartetes Urteil im Fall<br />
»Dobbs vs. Jackson Women’s Health<br />
Organization«. Darin stimmten fünf<br />
der neun Obersten Richter dafür, das<br />
fast 50 Jahre alte, umstrittene Grundsatzurteil<br />
»Roe vs. Wade« zu kippen,<br />
das die amerikanische Abtreibungsgesetzgebung<br />
bis dato bestimmt hatte.<br />
In der Urteilsbegründung heißt es,<br />
die amerikanische Verfassung enthalte<br />
kein »Recht« auf Abtreibung. In »Roe<br />
vs. Wade« war das Oberste Gericht<br />
1973 zu dem Schluss gekommen, dass<br />
sich ein solches Recht aus dem durch<br />
den 14. Verfassungszusatz garantierten<br />
»Recht auf Privatsphäre« ableiten lasse.<br />
Die Entscheidung in einem weiteren<br />
Fall, »Planned Parenthood vs. Casey«,<br />
bekräftigte »Roe« 1992. Die damalige<br />
Auffassung teilen die Obersten<br />
Richter nun nicht mehr. Sowohl »Roe«<br />
als auch »Casey« hätten die Frage ignoriert,<br />
ob die Verfassung ein »Recht«<br />
auf Abtreibung enthalte. Stattdessen sei<br />
»Casey« ausschließlich mit dem juristischen<br />
Prinzip des »stare decisis« entschieden<br />
worden – also auf Grundlage<br />
des vorangegangenen Präzedenzfalles.<br />
Nun liegt es wieder in den Händen<br />
der einzelnen Bundesstaaten, über ihre<br />
Abtreibungsgesetze zu entscheiden.<br />
Und da Amerika in Sachen Abtreibung,<br />
wie in so vielen gesellschaftspolitischen<br />
Fragen, gespalten ist, wird die Rechtslage<br />
auf absehbare Zeit einem Flickenteppich<br />
gleichen. Auch die Reaktionen<br />
auf das Urteil spiegeln die tiefen Gräben<br />
wider. Die US-Bischöfe sprachen<br />
von einem »historischen Tag« in der<br />
Geschichte der USA. »Fast 50 Jahre<br />
lang hat Amerika ein ungerechtes Gesetz<br />
durchgesetzt, das einigen darüber<br />
zu entscheiden erlaubt hat, ob andere<br />
leben können oder sterben müssen«,<br />
schrieben sie in einer Stellungnahme.<br />
»Wir danken Gott, dass der Oberste<br />
Gerichtshof diese Entscheidung rückgängig<br />
gemacht hat.«<br />
Gleichzeitig betonten die US-Bischöfe,<br />
dass nun begonnen werden müsse,<br />
»ein Amerika nach Roe« aufzubauen.<br />
Es brauche »vernünftige Reflexion«<br />
und zivilisierten Dialog, »um eine Gesellschaft<br />
zu formen, die Ehe und Familie<br />
unterstützt, und in der jeder Frau<br />
die Unterstützung und Ressourcen zur<br />
Verfügung stehen, um ihr Kind in Liebe<br />
in diese Welt zu bringen«. Ähnlich<br />
äußerte sich auch der langjährige Vorsitzende<br />
des Lebensschutzkomitees der<br />
Bischöfe, Erzbischof Joseph Naumann.<br />
Gegenüber der in Würzburg erscheinenden<br />
katholischen Wochenzeitung<br />
»Die Tagespost« begrüßte er das Urteil<br />
und wies darauf hin, dass selbst Juristen,<br />
die Abtreibung grundsätzlich<br />
befürworteten, eingeräumt hätten, im<br />
Fall »Roe vs. Wade« sei keine plausibel<br />
begründete Entscheidung getroffen<br />
worden. Naumann, auch Oberhirte<br />
von Kansas City, betonte, nun müsse<br />
man die »Bemühungen hochfahren,<br />
allen Frauen, die schwierige Schwangerschaften<br />
erleben, die größtmögliche<br />
Unterstützung anzubieten«. Dabei gehe<br />
es eben nicht nur um das Kind, sondern<br />
auch um die Mutter.<br />
Von welcher Tragweite das Urteil<br />
des Obersten Gerichtshofs ist, sieht<br />
man daran, dass selbst Papst Franziskus<br />
dazu Stellung nahm. Er respektiere<br />
die Entscheidung, so der Papst im Interview<br />
mit der US-Nachrichtenagentur<br />
»Reuters«. Jedoch verfüge er nicht<br />
über ausreichend Informationen, um<br />
das neue Urteil aus juristischer Perspektive<br />
zu kommentieren.<br />
1. November 2021: Während die Höchstrichter eine Anhörung veranstalten, versammeln<br />
sich Aktivisten und Pressevertreter vor dem Gebäude des Supreme Courts<br />
Abtreibungsbefürworter hingegen liefen<br />
Sturm gegen den Richterspruch. Die<br />
Präsidentin von Planned Parenthood,<br />
Alexis McGill Johnson, nannte das Gerichtsurteil<br />
»schrecklich« und betonte,<br />
dass Minderheiten und Menschen mit<br />
niedrigem Einkommen davon am stärksten<br />
betroffen seien. Der Oberste Gerichtshof<br />
habe nun offiziell Politikern<br />
die Erlaubnis erteilt, zu kontrollieren,<br />
»was wir mit unseren Körpern tun«.<br />
Gleichzeitig betonte sie: »Wir werden<br />
uns diese Freiheit, die uns gehört, wieder<br />
zurückholen. Wir werden nicht einknicken.«<br />
Die Vorsitzende der Abtreibungs-Lobbyorganisation<br />
»Center for<br />
Reproductive Rights«, Nancy Northup,<br />
verglich die Gerichtsentscheidung mit<br />
einer »Abrissbirne«, die »über das Verfassungsrecht<br />
auf Abtreibung« hinweggefegt<br />
sei. Der Gerichtshof habe einen<br />
»neuen Tiefpunkt« erreicht, indem er<br />
Frauen »zum ersten Mal überhaupt eine<br />
von der Verfassung garantierte persönliche<br />
Freiheit entzogen« habe.<br />
Die linksliberale US-Presse haben<br />
McGill Johnson, Northup und Co. auf<br />
ihrer Seite. Auffallend deutlich nahmen<br />
Zeitschriften wie der »Atlantic«,<br />
der »New Yorker« oder auch die »New<br />
York Times« in ihrer Berichterstattung<br />
eine Haltung des Widerstands ein. Oft<br />
zeichneten sie ein für das eigene Publi-<br />
LEBENSFORUM <strong>143</strong><br />
5
TITELTHEMA<br />
kum düsteres, ja fast schon dystopisches<br />
Zukunftsbild. Dabei kamen renommierte<br />
Schriftsteller, Rechtsgelehrte und Verfassungsjuristen<br />
zu Wort, die etwa behaupteten,<br />
die härtesten Abtreibungseinschränkungen<br />
stünden erst noch bevor<br />
– und Amerika befinde sich auf dem<br />
Weg zurück ins 17. Jahrhundert.<br />
Doch nicht alle Gegner des neuen<br />
Gerichtsurteils beschränkten sich auf<br />
Widerstand mit Druckerpresse und Füllfederhalter:<br />
Bundesweit kam es in den<br />
Wochen nach der Entscheidung in zahlreichen<br />
Städten zu massiven Protesten,<br />
teilweise auch zu Ausschreitungen und<br />
Vandalismus. Manche im Pro-Choice-<br />
Lager schreckten vor vulgären Graffiti,<br />
Sachbeschädigung und sogar Brandstiftung<br />
nicht zurück. Oft hinterließen<br />
die Täter Sätze wie »Wenn Abtreibungen<br />
nicht sicher sind, seid ihr es auch<br />
nicht«, »Treibt die Kirche ab« oder einfach<br />
nur das Wort »Rache«. Am häufigsten<br />
gerieten Kirchen sowie Beratungszentren<br />
für Schwangerschaftskonflikte<br />
ins Fadenkreuz der Randalierer. Jene<br />
Gewaltbereitschaft überrascht jedoch<br />
kaum: Bereits im Mai nahmen ähnliche<br />
Übergriffe zu, nachdem ein Entwurf<br />
der vom Obersten Richter Samuel Alito<br />
verfassten Mehrheitsmeinung vorab<br />
Nach dem Urteil des US-Supreme-Courts: Abtreibungsbefürworter in Los Angeles<br />
an die Medien durchgestochen worden<br />
war. Die »Catholic News Agency«, die<br />
alle Vorfälle minutiös auflistet, zählt seit<br />
Mai insgesamt 82 Übergriffe.<br />
Wie aufgeheizt die Stimmung ist, illustriert<br />
der Fall einer Zehnjährigen aus<br />
Ohio, der auch international für Schlagzeilen<br />
sorgte: Nach einer Vergewaltigung<br />
wurde das Mädchen schwanger,<br />
konnte ihr Kind in dem Bundesstaat jedoch<br />
nicht abtreiben, da dort seit dem<br />
neuen Urteil Abtreibungen nach der<br />
sechsten Schwangerschaftswoche verboten<br />
sind – ohne Ausnahmen im Falle<br />
von Vergewaltigung oder Inzest. Daraufhin<br />
reiste sie in den Nachbarstaat<br />
Indiana, wo sie ihr Kind am 30. Juni abtrieb.<br />
Die Demokraten instrumentalisierten<br />
den tragischen Einzelfall, um die<br />
in ihren Augen fatalen Konsequenzen<br />
der neuen Rechtslage aufzuzeigen. Die<br />
Republikaner wiederum wiesen die Berichte<br />
lange als »Fake News« zurück,<br />
bis schließlich ein 27-Jähriger des Verbrechens<br />
angeklagt wurde. Als Beigeschmack<br />
blieb zurück: Beiden Seiten<br />
ging es weniger um das Schicksal der<br />
Betroffenen als darum, aus dem Vorfall<br />
politisch Kapital zu schlagen.<br />
Auf die »Arbeit« der Abtreibungskliniken<br />
im Land wirken sich die Gesetze<br />
DEREK FRENCH/PEXELS.COM<br />
offenbar bereits aus: Wie eine Erhebung<br />
des von der Abtreibungslobby finanzierten<br />
Guttmacher Institute zeigt, hatten<br />
bis Ende Juli 43 Kliniken in insgesamt<br />
elf Bundesstaaten ihren Betrieb eingestellt.<br />
Zahlreiche Bundesstaaten haben<br />
schnell auf das Urteil des Obersten Gerichtshofs<br />
reagiert – und ihre Abtreibungsgesetze<br />
verschärft. Neben Ohio<br />
haben auch Georgia und South Carolina<br />
ein Abtreibungsverbot nach der sechsten<br />
Schwangerschaftswoche erlassen.<br />
In insgesamt acht Staaten gilt derzeit<br />
sogar ein komplettes Abtreibungsverbot,<br />
darunter Alabama, Texas und Arkansas.<br />
In vier Staaten werden neue,<br />
restriktive Gesetze bald in Kraft treten:<br />
Idaho, North Dakota, Tennessee<br />
und Wyoming. Und in einigen weiteren,<br />
mehrheitlich konservativ regierten<br />
Staaten wurden strikte Abtreibungsgesetze<br />
zwar vorbereitet; allerdings werden<br />
sie derzeit noch von Gerichten blockiert.<br />
Eine Sonderrolle nimmt Florida<br />
ein: Hier unterzeichnete der republikanische<br />
Gouverneur Ron DeSantis<br />
jüngst ein Gesetz, das Abtreibungen<br />
verbietet – allerdings erst nach der 15.<br />
Schwangerschaftswoche. Vielen Lebensschützern<br />
geht das nicht weit genug.<br />
DeSantis sieht sich seit Wochen massivem<br />
Druck ausgesetzt, die Gesetzgebung<br />
weiter zu verschärfen. Allerdings<br />
kämpft der Gouverneur im November<br />
um seine Wiederwahl. Und einige sagen<br />
ihm auch Ambitionen auf eine Präsidentschaftskandidatur<br />
2024 nach. Gut<br />
möglich, dass er einem strikteren Gesetz<br />
skeptisch gegenübersteht, um potenzielle<br />
Wechselwähler nicht zu verschrecken.<br />
Während in einigen Bundesstaaten<br />
vereinzelt noch juristische Hürden zu<br />
überwinden sind, lässt sich dennoch sagen:<br />
Langfristig werden auch die Gerichte<br />
restriktive Abtreibungsgesetze<br />
kaum blockieren können, wenn die<br />
Parlamente der Bundesstaaten diese<br />
beschließen. Und auch dem amtierenden<br />
US-Präsidenten Joe Biden sind die<br />
Hände gebunden. Zwar unterzeichnete<br />
er Anfang Juli einen Präsidialerlass<br />
zum »Schutz reproduktiver Rechte«. Jedoch<br />
handelt es sich dabei eher um eine<br />
symbolische Maßnahme, die die eigenen<br />
Anhänger zufriedenstellen soll.<br />
Der Erlass des Demokraten erleichtert<br />
lediglich den Zugang zu chemischen Ab-<br />
6 LEBENSFORUM <strong>143</strong>
TITELTHEMA<br />
treibungspräparaten und Verhütungsmitteln.<br />
Und stellt sicher, dass die persönlichen<br />
Daten von Frauen, die sich<br />
online über Abtreibung informieren,<br />
besser geschützt sind. Verbal griff Biden,<br />
nach John F. Kennedy der zweite<br />
Katholik im Weißen Haus, dafür zu<br />
umso größeren Geschützen: Das Urteil<br />
des Obersten Gerichts nannte er mehrmals<br />
eine »extreme« Entscheidung, das<br />
Gericht selbst bezeichnete er als »extremistisch«.<br />
Auch hier tritt wieder ein Phänomen<br />
zutage, das sich schon seit Längerem<br />
beobachten lässt: Biden und seine<br />
Partei geben sich nach außen selbstbewusst<br />
und kämpferisch, versuchen damit<br />
allerdings lediglich ihre Machtlosigkeit<br />
zu überspielen. Wenn es eines weiteren<br />
Beweises bedurfte, erbrachten ihn die<br />
Demokraten im Repräsentantenhaus. Da<br />
Bidens Erlass zum »Schutz reproduktiver<br />
Rechte« von künftigen Präsidenten<br />
mit einem Federstrich abgeschafft<br />
werden kann, brachten sie nochmals einen<br />
entsprechenden Gesetzentwurf ein.<br />
Und auch ihr »Lieblingsprojekt«, den<br />
»Women’s Health Protection Act«, der<br />
ein bundesweites »Recht« auf Abtreibung<br />
gesetzlich verankern würde, stellten<br />
sie zur Abstimmung – bereits zum<br />
dritten Mal. Beide Gesetzentwürfe haben<br />
angesichts der Mehrheitsverhältnisse<br />
im Oberhaus, dem Senat, jedoch<br />
nicht die geringste Aussicht auf Erfolg.<br />
Doch die Demokraten sind nervös.<br />
Und fürchten, dass der Oberste<br />
Gerichtshof in Zukunft noch weitere<br />
Rechte annullieren könnte, denen bislang<br />
Verfassungsrang zukommt. In einer<br />
persönlichen Ergänzung zur Urteilsbegründung<br />
hatte der konservative<br />
Richter Clarence Thomas eben dies<br />
angedeutet: Gemäß einer wörtlichen<br />
Auslegung der Verfassung müsse man<br />
andere, bislang geltende Präzedenzfälle<br />
eigentlich noch einmal prüfen, so<br />
Thomas. Insbesondere das Recht auf<br />
Verhütungsmittel sowie auf gleichgeschlechtliche<br />
Eheschließungen gelten<br />
als Wackelkandidaten.<br />
Es ist allerdings keinesfalls erwiesen,<br />
dass es sich bei den Äußerungen<br />
des Obersten Richters Thomas um<br />
mehr als nur eine Einzelmeinung handelt.<br />
Die konservativen Richterkollegen<br />
Brett Kavanaugh, Amy Coney Barrett<br />
oder auch der Vorsitzende des Gerichtshofs,<br />
John Roberts, ließen nichts<br />
dergleichen verlauten. Vor allem Roberts<br />
stimmte in der Vergangenheit<br />
auch immer wieder mit dem eher linksliberalen<br />
Richterblock. Schon im Fall<br />
»Dobbs« ging er einen Sonderweg. Eigentlich<br />
behandelte der Fall folgende<br />
Frage: Sind alle Verbote von Abtreibungen<br />
vor der Lebensfähigkeit des<br />
Kindes außerhalb des Mutterleibs verfassungswidrig?<br />
Der Aufhänger dafür<br />
war ein Gesetz des Bundesstaates Mississippi,<br />
das Abtreibungen nach der 15.<br />
Schwangerschaftswoche mit Ausnahme<br />
weniger Fälle verboten hätte.<br />
Roberts pflichtet den fünf konservativen<br />
Amtskollegen in ihrer Beurteilung<br />
des Falles zwar bei – das Urteil im<br />
Fall »Dobbs«, wonach eben nicht alle<br />
Verbote vor der Lebensfähigkeit verfassungswidrig<br />
sind, erging somit mit<br />
sechs zu drei Stimmen. »Roe vs. Wade«<br />
wollte der 67-Jährige jedoch nicht<br />
kippen. Vielmehr hält er ein grundsätzliches<br />
»Recht« einer Frau, ihre Schwangerschaft<br />
zu beenden, für verfassungskonform.<br />
Jenes »Recht«, betonte er in<br />
seiner Urteilsbegründung, »sollte so<br />
weit gehen, dass sich ihr eine vernünftige<br />
Möglichkeit bietet, diese Entscheidung<br />
zu treffen«. Es müsse jedoch »sicher<br />
nicht bis zum Punkt der Lebensfähigkeit<br />
bestehen«. Eine Frist von 15<br />
Wochen, wie sie das Gesetz von Mississippi<br />
vorsah, hält der Vorsitzende<br />
des Obersten Gerichts demnach für<br />
ausreichend.<br />
Trotz allem wollen die Demokraten<br />
im Kongress offenbar allen Eventualitäten<br />
vorbeugen. Sie verabschiedeten<br />
zwei Gesetzentwürfe, um das Recht<br />
auf Verhütungsmittel sowie auf gleichgeschlechtliche<br />
Eheschließung, bislang<br />
nur durch Entscheidungen des Obersten<br />
Gerichtshofs garantiert, gesetzlich zu sichern.<br />
Im Repräsentantenhaus stimmten<br />
sogar einige Republikaner mit den<br />
Demokraten dafür. Die wohl unüberwindbare<br />
Hürde stellt allerdings wieder<br />
die Abstimmung im Senat dar.<br />
Daher richten sich schon jetzt alle<br />
Augen auf die »Midterms«, die Kongresswahlen<br />
im November. Sowohl die<br />
Demokraten wie auch die Republikaner<br />
erwarten sich vom neuen Grundsatzurteil<br />
des Obersten Gerichtshofs<br />
einen Mobilisierungsschub für die eigene<br />
Wählerschaft. Die Wahlen könnten<br />
durchaus neue Mehrheitsverhältnisse<br />
hervorbringen und dafür sorgen,<br />
dass die Demokraten die Kontrolle über<br />
zumindest eine der beiden Parlamentskammern<br />
verlieren. Für den Nordamerika-Experten<br />
Michael Hochgeschwender<br />
ist dies jedenfalls denkbar. Gegenüber<br />
der »Tagespost« meinte er kürzlich,<br />
er halte es für fraglich, dass sich das<br />
Abtreibungsurteil für die Demokraten<br />
so mobilisierend auswirkt, wie viele in<br />
der Partei sich das erhoffen.<br />
Sollte das Pendel deutlich in Richtung<br />
der Republikaner schwingen und<br />
sie erobern sogar beide Kammern zurück,<br />
dürften sämtliche Pläne der Demokraten,<br />
ein bundesweites »Recht«<br />
auf Abtreibung gesetzlich festzuschreiben,<br />
für lange Zeit vereitelt sein. Dann<br />
könnten die Republikaner sogar einen<br />
Anlauf starten, ein landesweit geltendes<br />
Abtreibungsverbot zu erlassen – und die<br />
US-Abtreibungslobby endgültig in die<br />
Knie zwingen. Planned Parenthood hätte<br />
dann eine neue Aufgabe: die knalligbunte<br />
Abtreibungsreklame in Kalifornien<br />
wieder abzuschrauben.<br />
Im Portrait<br />
Maximilian Lutz<br />
Maximilian Lutz (geb. 1993) ist<br />
Chef vom Dienst Online der in<br />
Deutschland, Österreich und der<br />
Schweiz erscheinenden katholischen<br />
Wochenzeitung »Die Tagespost«.<br />
Nach seinem Studium des<br />
Übersetzens und Dolmetschens<br />
in Würzburg und München absolvierte<br />
er eine journalistische Ausbildung<br />
in Form eines Volontariats<br />
bei der »Tagespost«. Bis Sommer<br />
2019 berichtete er für die Zeitung<br />
aus Frankreich. 2021 erschien im<br />
Benno-Verlag seine Biden-Biografie:<br />
»Joe Biden. Ein Katholik im<br />
Weißen Haus«.<br />
LEBENSFORUM <strong>143</strong><br />
7
TITELTHEMA<br />
WWW.40DAYSFORLIFE.COM<br />
Amerika konnte<br />
nicht mehr schlafen<br />
Shawn Carney ist Gründer und Präsident von »40 Days for Life«, einer amerikanischen Lebensrechtsorganisation,<br />
die mittlerweile weltweit Gebetsaktionen vor Abtreibungseinrichtungen durchführt.<br />
Bekannt wurde Shawn durch die Rolle, die er bei der Konversion von Abby Johnson spielte,<br />
deren Geschichte der Film »Unplanned« erzählt. Carney war derjenige, den Johnson aufsuchte, als<br />
sie sich entschloss, der Abtreibungsklinik den Rücken zu kehren. Mit Shawn Carney sprach Cornelia<br />
Kaminski darüber, wie es zur Rücknahme von »Roe vs. Wade« kam, und über das Amerika danach.<br />
<strong>LebensForum</strong>: Shawn, vielen unserer<br />
Leser ist die Szene aus dem Film »Unplanned«<br />
bekannt, in der Abby Johnson<br />
im Büro eines jungen Abtreibungsgegners<br />
landet – kurz nachdem sie beschlossen<br />
hat, ihren Posten als Leiterin<br />
der Planned-Parenthood-Abtreibungsklinik<br />
zu räumen.<br />
Shawn Carney: Ja, Abby ist in mein<br />
Büro hereinspaziert im Oktober 2009.<br />
Sie war die Leiterin der lokalen Abtreibungsklinik.<br />
Das ist eine sehr schöne<br />
Geschichte, die übrigens auch immer<br />
typischer wird. Denn es ist einfach so:<br />
Menschen denken zunächst, sie helfen<br />
Frauen, und dann stellen sie fest, dass<br />
sie Babys töten. Und dann haben sie<br />
8 LEBENSFORUM <strong>143</strong>
TITELTHEMA<br />
die Demut, dies zuzugeben und auszusteigen.<br />
Was in der Filmszene besonders beeindruckt,<br />
ist die Tatsache, dass von dir<br />
nicht ein Wort des Vorwurfs, der Verurteilung<br />
oder der Skepsis zu hören war.<br />
Du hast ihr einfach ein Gespräch und einen<br />
Kaffee angeboten.<br />
Alle in meinem Team waren sehr überrascht<br />
darüber, wie wenig skeptisch ich<br />
war. Das liegt aber daran, dass ich Abby<br />
kannte. Ich wusste, dass sie ihre Gefühle<br />
einfach nicht verbergen kann. Ich habe<br />
ihr also gleich geglaubt. Ich dachte,<br />
sie ist sehr authentisch. Unsere Beziehung<br />
war auch so – sie kam ja oft raus<br />
zu mir an den Zaun, manchmal hat sie<br />
mich angeschrien und mir<br />
den Mittelfinger gezeigt.<br />
Das hätte sie eigentlich<br />
nicht gedurft, das Training<br />
bei Planned Parenthood<br />
sieht vor, dass die Mitarbeiter<br />
die Beter einfach<br />
nicht wahrnehmen. Diese<br />
Regel hat Abby aber dauernd<br />
missachtet und mir<br />
immer wieder erklärt, sie<br />
sei ein guter Mensch. Ich<br />
habe ihr stets geantwortet,<br />
sie brauche sich mir gegenüber<br />
nicht zu verteidigen.<br />
Und es ist doch toll, dass sie<br />
uns damals geglaubt hat, als<br />
wir gesagt haben, wir sind<br />
da, um dir zu helfen. Es ist<br />
eine sehr schöne Geschichte.<br />
Und das passiert nicht<br />
in die Gegenrichtung: Es<br />
gibt keine Menschen wie<br />
dich, oder Frauen mit fünf<br />
Kindern, die ein Schwangerenhilfszentrum<br />
in Florida leiten, die plötzlich aufwachen<br />
und sagen: »Oh Mann, ich hätte<br />
eigentlich eine Abtreibungsklinik leiten<br />
sollen! Ich hätte Abtreibungsarzt werden<br />
sollen!« Das passiert einfach nicht.<br />
Das hier ist ein Pendel, das in eine Richtung<br />
ausschwingt.<br />
Mittlerweile gibt es viele Staaten in den<br />
USA, in denen es strikte Abtreibungsregelungen<br />
gibt, die mit der Entscheidung<br />
des Supreme Courts, »Roe vs.<br />
Wade« zu kippen, auch in Kraft treten.<br />
Offensichtlicht macht ihr gute Arbeit.<br />
Danke – ja, wir haben ein sehr gutes<br />
Team. Wir hatten schon einen Plan dafür,<br />
dass »Roe vs. Wade« gekippt würde.<br />
Wir waren also in den Startlöchern<br />
und werden jetzt unseren Plan umsetzen.<br />
Und da wir eine Graswurzelbewegung<br />
sind, sind wir in der besten Position<br />
für das »Post-Roe-vs.-Wade-Amerika«.<br />
Es ist ziemlich aufregend!<br />
Wie konnte es in den USA gelingen,<br />
eine Atmosphäre zu schaffen, in der ein<br />
Verfassungsrecht auf Abtreibung gekippt<br />
wird?<br />
Zuerst muss man sagen, es war schon rein<br />
technisch gesehen einfach ein schlechtes<br />
Gesetz. Es basierte auf der Vorstellung,<br />
dass das Recht auf Privatleben in<br />
Die Homepage der US-Lebensschutzorganisation »40 Days for Life«<br />
unserer Verfassung verankert sei, und<br />
selbst Pro-Choice-Richter wie Ruth Bader<br />
Ginsburg sagten, es ist ein schlechtes<br />
Gesetz. Hinzu kommt, dass »Roe vs.<br />
Wade« deswegen bedroht war, weil die<br />
Generation, die uns Abtreibungen gebracht<br />
hat, die Baby Boomers waren.<br />
Viele von ihnen sind, als sie älter wurden,<br />
Lebensrechtler geworden. Aber<br />
auch viele junge Menschen sind pro<br />
life. Die Pro-Life-Bewegung hat also<br />
in den Graswurzeln angefangen, dort,<br />
wo man die Herzen und den Verstand<br />
der Menschen erreicht. In den 80er und<br />
90er Jahren wurden Ultraschallbilder<br />
sehr beliebt, auf denen das ungeborene<br />
kleine Kind zu sehen ist. Jetzt hatten<br />
also die Menschen solche Ultraschallfotos<br />
von ihren kleinen Geschwistern,<br />
Enkeln, Nichten oder Neffen am Kühlschrank<br />
hängen. Ein weiterer Punkt<br />
ist die medizinische Entwicklung: Wir<br />
können ungeborene Kinder im Mutterleib<br />
operieren – oder wir können sie<br />
bis zur 25. Woche töten. Am Ende war<br />
es, glaube ich, so, dass Amerika einfach<br />
nachts nicht mehr schlafen konnte. Abtreibung<br />
war ein Thema in jeder Präsidentschaftswahl,<br />
bei jeder Nominierung<br />
von Richtern.<br />
Die Abtreibungsindustrie hat zudem<br />
selbst zugegeben, dass sie es schwer hat,<br />
junge Leute zu finden, die Abtreibung<br />
verteidigen wollen – denn das ist einfach<br />
eine negative Sache. Pro life zu<br />
sein ist dagegen positiv. Du setzt dich<br />
für etwas ein, um es zu schützen – das<br />
ist positiv. Wir setzen uns für die Umwelt<br />
ein, um sie zu schützen. Jede erfolgreiche<br />
Bewegung bindet sich an ein<br />
solches Positivum. Die Abtreibungsbewegung<br />
kann das nicht. Sie wird niemals<br />
einfach rundheraus sagen können, was<br />
Abtreibung wirklich ist. Sie hat zwar<br />
Abtreibungen als Gesundheitsvorsorge<br />
deklariert, aber sie spricht nicht so<br />
darüber, wie man über Gesundheitsvorsorge<br />
spricht. Wenn man etwa eine<br />
Operation hatte, spricht man darü-<br />
LEBENSFORUM <strong>143</strong><br />
9
TITELTHEMA<br />
ber sehr offen: Wir erzählen im Detail<br />
von der ärztlichen Versorgung, davon,<br />
wie der Chirurg vorgegangen ist, welche<br />
Operationsmethode er angewandt<br />
hat. Dabei erwähnen wir auch Details,<br />
selbst wenn es blutig ist, und das ist in<br />
Ordnung. Wir erzählen davon, weil da<br />
Gewebe zerrissen und entfernt wird, um<br />
zu heilen. Abtreibungen sind die einzige<br />
Operation, bei der Gewebe nicht<br />
zerrissen und entfernt wird, um zu heilen,<br />
sondern um zu töten. Das ist in den<br />
Herzen und im Verstand der Menschen<br />
angekommen.<br />
Das andere, was Amerika so besonders<br />
macht, ist die Art, wie Behandlungen<br />
an Menschen in den USA geregelt<br />
werden. Friseure, Nagelstudios, alle<br />
werden durch Gesetze der Bundesstaaten<br />
reguliert. Nur bei Abtreibungseinrichtungen<br />
ging das aufgrund des Urteils<br />
»Roe vs. Wade« nicht. Also hat<br />
die Pro-Life-Bewegung den Supreme<br />
Court mit Verfahren überzogen. Das<br />
war der Oberste Gerichtshof irgendwann<br />
leid und hat festgestellt: Wir sollten<br />
das nicht auf Bundesebene regeln.<br />
Wir sollten es an die Staaten zurückgeben,<br />
damit sie es selbst regeln können.<br />
Richter Samuel Alito hat in seinem<br />
brillanten Statement festgehalten,<br />
dass die Regelung der Abtreibung<br />
nun wieder an alle Frauen zurückgegeben<br />
wird. Denn es war ein ausschließlich<br />
mit Männern besetzter Gerichtshof,<br />
der »Roe vs. Wade« entschieden<br />
hatte. Es sollte aber von den Frauen<br />
entschieden werden können.<br />
Ist es in den USA einfacher als bei uns,<br />
die Medien für sich zu gewinnen und<br />
die Pro-Life-Botschaft zu senden?<br />
Nicht wirklich. Ich glaube, Europäer<br />
überschätzen Amerika da ein wenig. Es<br />
gibt so eine falsche Vorstellung davon,<br />
dass Amerika puritanisch ist, die Medien<br />
sind fair und alle sind sehr religiös.<br />
Aber was unsere Abtreibungsregelungen<br />
betrifft, sind wir auf dem gleichen<br />
Niveau wie China und Nordkorea: bis<br />
zur 40. Schwangerschaftswoche. Nach<br />
dem neuen Gesetz in New York von 2019<br />
muss eine Abtreibung nicht mal von einem<br />
Arzt durchgeführt werden, und das<br />
nennt sich dann Gesundheitsvorsorge.<br />
Ganz Amerika ist sehr säkular, und unsere<br />
säkularen Menschen sind aggressiver<br />
als in Europa. Es gibt jedoch auch<br />
viele religiöse Menschen hier, und die<br />
Lebensrechtsbewegung gewinnt, denn<br />
für uns geht es um Leben oder Tod. Die<br />
Medien denken zwar, dass wir verrückt<br />
sind, aber sie zeigen, dass die Pro-Life-<br />
Bewegung wirklich Schwung hat. Abtreibungsbefürworter<br />
sind eher passiv.<br />
WWW.40DAYSFORLIFE.COM<br />
Richter Samuel Alito<br />
Auch junge Hollywood-Schauspieler wie Jared Lotz oder Emma Elle Roberts engagieren<br />
sich für die Aktion »40 Days for Life«<br />
Die vielen Jahre, die wir jetzt schon<br />
Abtreibungen haben, haben nichts genutzt.<br />
Wir sind einfach nie damit klargekommen,<br />
und deswegen ist es noch<br />
immer keine ganz normale Operation,<br />
an die man sich gewöhnt hat. Stattdessen<br />
sind Abtreibungen nun in 16 Bundesstaaten<br />
verboten. Und diese Zahl<br />
wird noch steigen. Was man also tun<br />
muss, ist, darüber zu reden und Abtreibung<br />
immer wieder in Frage zu stellen.<br />
Das Leben braucht keine Verteidigung.<br />
Abtreibung aber braucht permanente<br />
Verteidigung: durch die, die eine wollen,<br />
die eine hatten, die sie durchführen.<br />
Deswegen ist die Pro-Life-Bewegung<br />
in den USA eine Bewegung der<br />
Konvertiten. Sie wird geleitet von denjenigen,<br />
die früher Abtreibungen hatten.<br />
Frauen, die eine Abtreibung hatten,<br />
führen jedes Jahr den »March for Life«<br />
an. Eine Bewegung von Konvertiten ist<br />
immer eine Bewegung der Hoffnung.<br />
Zudem haben wir in den USA zum<br />
zweiten Mal Mitbürger entmenschlicht.<br />
Wir haben es mit den Farbigen getan,<br />
und wir haben es mit den Ungeborenen<br />
gemacht. Nicht wegen ihrer Hautfarbe,<br />
aber wegen ihrer Größe und ihres<br />
Aufenthaltsorts. Der Supreme Court<br />
10 LEBENSFORUM <strong>143</strong>
TITELTHEMA<br />
hat sich befreit aus der Entmenschlichung,<br />
die eine Abtreibung bedeutet –<br />
denn du musst einem ungeborenen Kind<br />
seine Menschlichkeit absprechen, um es<br />
töten zu können. Wir sollten das auch<br />
genauso aussprechen. Wir müssen zur<br />
Sprache bringen, dass die Entmenschlichung<br />
eines gesamten Teils der Bevölkerung<br />
die Voraussetzung dafür ist,<br />
dass man diesen Teil der Bevölkerung<br />
entsorgen kann.<br />
Wir sollten daher als junge Generation<br />
nicht verächtlich auf die vorangegangenen<br />
Generationen zurückschauen,<br />
nach dem Motto: »Die Sklavenhalter<br />
waren furchtbar, die Nazis waren<br />
furchtbar, aber unsere Generation<br />
ist fortschrittlich.« Das ist einfach eine<br />
totale Lüge. Die Mentalität, auf der<br />
die Abtreibung überlebt, ist die Eugenik.<br />
Das sieht man jetzt auch sehr genau<br />
in den USA: Hier kommen die inneren<br />
Eugeniker raus. Das Erste, was wir hören,<br />
ist: »Oh, wo kriegen denn jetzt die<br />
armen farbigen Frauen ihre Abtreibung<br />
her? Wir können doch nicht arme Farbige<br />
hier haben, das wäre doch schrecklich?<br />
Was ist denn mit behinderten Kindern?<br />
Wollt ihr wirklich diese ganzen<br />
unerwünschten Menschen haben?« Das<br />
sagte neulich ein Mann zu mir: »Da<br />
werdet ihr euch noch umgucken, in 20<br />
Jahren werden wir diese ganzen unerwünschten<br />
Kriminellen hier rumlaufen<br />
haben!« Grundsätzlich wäre demnach<br />
unsere Gesellschaft besser, wenn<br />
wir bestimmte Menschen umbringen<br />
würden. Abtreibung hat schon immer<br />
auf diesem Gedanken basiert: Ist unser<br />
Kind es wert, unter uns zu leben? Das<br />
muss klar und deutlich benannt werden.<br />
Das wird dann ungemütlich für<br />
die Menschen. Wir als Lebensrechtler<br />
müssen daher weitermachen, unsere<br />
Arbeit fängt jetzt erst an. Das sage<br />
ich, um Deutschland Mut zu machen:<br />
Die wenigsten Menschen, die für Abtreibung<br />
sind, wollen darüber reden<br />
oder sich öffentlich dafür starkmachen.<br />
Es gibt viele Menschen, die Abtreibungen<br />
verteidigen, weil sie selbst beteiligt<br />
sind oder waren. Es gibt ein gewisses<br />
Schuldbewusstsein, das aber<br />
weniger gravierend ist, wenn man mit<br />
der Schuld nicht allein dasteht – wenn<br />
es viele andere auch machen, ist man<br />
selber nicht mehr so schlecht.<br />
UNPLANNED MOVIE LLC<br />
Das ist aber die Mentalität, die hinter<br />
jeder Sünde steckt. Wenn alle das<br />
machen, ist es ja vielleicht gar nicht so<br />
schlecht. So ist der Mensch. Abtreibungen<br />
wurden einfach als Verhütungsmittel<br />
genutzt. Die wahren Gewinner<br />
der Abtreibung sind schlechte Männer.<br />
Frauen müssen Abtreibungen über sich<br />
ergehen lassen, Männer nicht. Es sind<br />
schlechte Männer, die von Abtreibungen<br />
profitieren.<br />
Nochmal zurück zu der Situation nach<br />
»Roe vs. Wade«. Die Medienberichterstattung<br />
ließ vermuten, dass es aufgrund<br />
der großen Unterstützung für<br />
»Roe vs. Wade« in den USA zu sehr vielen<br />
Protesten kommen würde.<br />
Ich war etwas unbeeindruckt von der<br />
Gewalt. Ein paar Zentren wurden attackiert<br />
– aber wenn wir in den USA Proteste<br />
haben, dann ist jede Stadt betroffen,<br />
nicht nur die großen Städte, sondern<br />
auch kleinere. Das war diesmal<br />
nicht der Fall. Ich hatte vorhergesagt,<br />
dass es einen Anstieg an Gewalt geben<br />
würde, wir hatten auch eine Cyberattacke,<br />
ein paar Kirchen wurden besprüht,<br />
ein Webinar von uns wurde gestört. Aber<br />
es war dankenswerterweise nicht sehr<br />
viel. Nicht mal eine Woche, nachdem<br />
das Urteil gefällt wurde, ist die Aufregung<br />
schon wieder sehr viel geringer.<br />
Dann gibt es vielleicht gar nicht so viele<br />
Menschen, die für Abtreibung sind?<br />
Nein, das Gegenteil ist der Fall. So viele<br />
gibt es nicht. Es gibt keine lokale Pro-<br />
Szene aus dem Film »Unplanned«: Abby Johnson (Ashley Bratcher) sucht Shawn<br />
Carney (Jared Lotz) in dessen Büro auf<br />
Abtreibungsbewegung. Das ist eine sehr<br />
von oben gesteuerte, kopflastige Bewegung,<br />
aber keine Graswurzelbewegung.<br />
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LEBENSFORUM <strong>143</strong><br />
11
BIOETHIK-SPLITTER<br />
Statistiker melden<br />
deutliche Zunahme<br />
bei Geburten<br />
Wiesbaden (<strong>ALfA</strong>). Im Jahr 2021 wurden<br />
mit 795.492 Neugeborenen rund<br />
22.000 Babys mehr geboren als 2020.<br />
Wie das Statistische Bundesamt (Destatis)<br />
Anfang August in Wiesbaden mitteilte,<br />
ist die zusammengefasste Geburtenziffer<br />
erstmals seit 2017 wieder gestiegen,<br />
und zwar von 1,53 Kindern je<br />
Frau im Jahr 2020 auf 1,58 Kinder je<br />
Frau 2021. Am stärksten war der Anstieg<br />
in Baden-Württemberg (+ 5 %), gefolgt<br />
von Bayern und Hessen (jeweils + 4 %).<br />
Erfreulich: Zahl der Geburten steigt<br />
In den ostdeutschen Bundesländern waren<br />
dagegen nur geringe Zuwächse von<br />
ein bis zwei Prozent zu verzeichnen.<br />
In Thüringen und Sachsen nahm die<br />
Geburtenziffer sogar leicht ab (jeweils<br />
–1 %). Die höchste Geburtenziffer wurde<br />
2021 in Niedersachsen mit 1,66 Kindern<br />
je Frau gemessen. Am niedrigsten<br />
war sie in Berlin mit 1,39. reh<br />
Abgeordnete gründen<br />
Arbeitsgruppe zur<br />
Pränataldiagnostik<br />
SZASZ-FABIAN JOZSEF/STOCK.ADOBE.COM<br />
Berlin (<strong>ALfA</strong>). Abgeordnete des Deutschen<br />
Bundestags haben eine interfraktionelle<br />
Arbeitsgruppe zur Pränataldiagnostik<br />
ins Leben gerufen. Das teilte die<br />
Bundestagsabgeordnete Corinna Rüffer<br />
(Bündnis 90/Die Grünen) Ende Juli<br />
der Presse mit. Neben Rüffer gehören<br />
der Arbeitsgruppe auch die Unionspolitiker<br />
Michael Brand, Hubert Hüppe,<br />
Sabine Weiss (alle CDU), Stephan<br />
Pilsinger (CSU) sowie die SPD-Politikerin<br />
Dagmar Schmidt, der FDP-Abgeordnete<br />
Pascal Kober und der Linken-Politiker<br />
Sören Pellmann an. Ziel<br />
sei es, Gesetzesänderungen zu erarbeiten<br />
und im Bundestag zur Abstimmung<br />
zu bringen, die eine auf Selektion ausgerichtete<br />
Pränataldiagnostik zur Ausnahme<br />
statt zur Regel machten.<br />
Wie Rüffer schreibt, eine die Abgeordneten<br />
»die Überzeugung, dass das<br />
pränatale Screening auf Trisomie 21, 18<br />
und 13 und andere auf keinen Fall zur<br />
Routine in der Schwangerschaft werden<br />
darf«. »Mit großer Sorge« betrachteten<br />
die Parlamentarier, »dass der Trisomie-<br />
Bluttest seit dem 1. Juli <strong>2022</strong> von den<br />
gesetzlichen Krankenkassen erstattet<br />
wird. Manche meinen, die Debatte um<br />
Zulassung und Nutzung solcher Screenings<br />
sei damit beendet. Das stimmt<br />
nicht. Im Gegenteil ist das Thema genauso<br />
virulent wie zuvor.« In Wirklichkeit<br />
stehe man »erst am Beginn einer<br />
besorgniserregenden Entwicklung, weil<br />
weitere Tests auf genetische Dispositionen<br />
in der Entwicklung sind und vor<br />
der Zulassung« stünden.<br />
Wenn als Grund für die Kostenübernahme<br />
allein die Besorgnis ausreiche,<br />
ein Kind mit Trisomie zur Welt zu bringen,<br />
werde das auf eine flächenmäßige<br />
Anwendung der Tests hinauslaufen.<br />
»Zumal die leichte Verfügbarkeit des<br />
Tests diese Sorge befeuern wird – mit<br />
einer klaren Botschaft: Ein Leben mit<br />
einer Trisomie ist weniger wert, gesellschaftlich<br />
weniger erwünscht und Kinder<br />
mit Behinderung lassen sich vermeiden«,<br />
so Rüffer.<br />
Ein Blick nach Dänemark, wo ein<br />
Screening auf Trisomien seit 2004 allen<br />
Schwangeren als reguläre Vorsorge<br />
angeboten wird, zeige die drastischen<br />
Folgen. Binnen nur eines Jahres habe<br />
sich dort die Anzahl der neugeborenen<br />
Kinder mit Trisomie halbiert.<br />
Die interfraktionelle Arbeitsgruppe<br />
sei der Meinung, »dass die Antwort auf<br />
diese ethisch hochbrisanten Fragen, die<br />
mit der Pränataldiagnostik verbunden<br />
sind, nicht einem Verwaltungsgremium<br />
wie dem G-BA überlassen werden<br />
darf«. Darauf habe auch der G-BA-Vorsitzende<br />
Josef Hecken wiederholt hingewiesen<br />
und angemahnt, dass Entwicklung,<br />
Verfügung und Zulassung molekulargenetischer<br />
Testverfahren fundamentale<br />
ethische Grundfragen unserer<br />
OKSANA KUZMINA/STOCK.ADOBE.COM<br />
Oft bedenklich: Pränatales Screening<br />
Werteordnung berühren, denen sich das<br />
Parlament stellen müsse.<br />
Auch der Deutsche Ethikrat habe<br />
sich im Februar dieses Jahres im Rahmen<br />
des »Forums Bioethik« »sehr kritisch<br />
zu nichtinvasiven Pränataltests<br />
positioniert, da zentrale ethische Prinzipien<br />
betroffen seien: Selbstbestimmung<br />
und Recht auf Nichtwissen, gesellschaftliche<br />
Prägung und Entscheidungsdruck,<br />
unser Verständnis von und<br />
der Umgang mit Gesundheit, Krankheit<br />
und Behinderung sowie die Akzeptanz<br />
von Anderssein.«<br />
Rüffer: »Wir wollen diese Fragen<br />
endlich dorthin holen, wo sie zu verhandeln<br />
sind: in den Deutschen Bundestag<br />
als dem gesetzgebenden und damit<br />
normsetzenden Organ unseres politischen<br />
demokratischen Systems. Nur<br />
dort lässt sich einer Debatte gerecht<br />
werden, die den Kern unserer gesellschaftlichen<br />
Werte berührt. Wir wollen<br />
konkrete rechtliche Änderungen bewirken.<br />
Insofern sehen wir uns als gesetzgeberischen<br />
Aktionskreis und nicht nur<br />
als parlamentarischen Gesprächskreis.<br />
Ziel der gesetzgeberischen Maßnahmen<br />
soll es sein, dass pränatale Screenings,<br />
die ausschließlich mit einer selektiven<br />
Praxis verbunden sind, nicht<br />
zu Standarduntersuchungen während<br />
der Schwangerschaft werden, sondern<br />
die Ausnahme bleiben. Daneben wollen<br />
wir die Zulassungsverfahren regulieren.<br />
Diese dürfen nicht einem rein<br />
von Angebot und Nachfrage getriebenen<br />
Mechanismus folgen.«<br />
Um diese Zielsetzung »fundiert umsetzen<br />
zu können«, wolle die Arbeitsgruppe<br />
»regelmäßig externe Fachexpertise<br />
einbeziehen«. Und weiter: »Hand<br />
12 LEBENSFORUM <strong>143</strong>
BIOETHIK-SPLITTER<br />
in Hand mit den Fachleuten aus Praxis<br />
und Wissenschaft werden wir Gesetzesänderungen<br />
zur Abstimmung bringen,<br />
die eine auf Selektion ausgerichtete<br />
Pränataldiagnostik zur Ausnahme, nicht<br />
zur Regel machen.«<br />
reh<br />
Lebensrechtler verlieren<br />
Referendum im<br />
Bundesstaat Kansas<br />
KWEST/STOCK.ADOBE.COM<br />
Topeka (<strong>ALfA</strong>). Im US-Bundesstaat<br />
Kansas haben Lebensrechtler eine Niederlage<br />
erlitten. Sie scheiterten Anfang<br />
August bei einem Referendum mit dem<br />
Versuch, in einem Verfassungszusatz<br />
festzuschreiben, dass die Verfassung<br />
kein »Recht auf Abtreibung« enthalte.<br />
Hochrechnungen zufolge stimmten rund<br />
60 Prozent gegen den Verfassungszusatz.<br />
Für einen Erfolg hätte die Initiative<br />
eine einfache Mehrheit benötigt. In<br />
dem im Mittleren Westen der USA gelegenen<br />
Bundesstaat gelten vorgeburtliche<br />
Kindstötungen derzeit bis zur 22.<br />
Schwangerschaftswoche als legal.<br />
Wie die katholische Wochenzeitung<br />
»Die Tagespost« schreibt, zeigten sich<br />
US-Lebensrechtler enttäuscht über<br />
das Ergebnis: »Die Niederlage heute<br />
Abend ist eine große Enttäuschung<br />
für Lebensschützer in Kansas und im<br />
ganzen Land«, zitiert das Blatt Mallory<br />
Carroll, Sprecherin der Organisation<br />
»Susan B. Anthony Pro-Life America«.<br />
Demnach beklagte Carroll, dass die Botschaft<br />
der Abtreibungslobby über den<br />
Verfassungszusatz »voll mit Lügen« gewesen<br />
sei, die »schließlich die Wahrheit<br />
überdeckt« hätten. Kansas könne nun<br />
schon bald zu einem Staat werden, in<br />
dem »Abtreibungen auf Wunsch« quasi<br />
ohne Einschränkungen möglich seien.<br />
Lebensrechtler hatten bereits im Vorfeld<br />
der Abstimmung beklagt, dass die<br />
Seite der Abtreibungsbefürworter versuche,<br />
die Abstimmung als Referendum<br />
über ein »Recht« auf Abtreibung darzustellen,<br />
was sie gar nicht sei. Hätte<br />
die Verfassungsergänzung, die den Titel<br />
»Value them both« trug, eine Mehrheit<br />
gefunden, wäre folgender Satz in<br />
die Verfassung aufgenommen worden:<br />
»Da Kansas sowohl Frauen wie Kinder<br />
wertschätzt, schreibt die Verfassung<br />
des Staates Kansas keine staatliche<br />
Finanzierung von Abtreibung fest<br />
und schafft oder sichert kein Recht auf<br />
Abtreibung.«.<br />
reh<br />
Experten fordern<br />
Suizidprävention<br />
gesetzlich zu verankern<br />
Berlin (<strong>ALfA</strong>). Der Deutsche Hospizund<br />
Palliativverband (DHPV) und die<br />
Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention<br />
(DGS) fordern die Suizidprävention<br />
gesetzlich zu verankern, bevor<br />
der Deutsche Bundestag eine gesetzliche<br />
Neuregelung der Suizidbeihilfe<br />
beschließt.<br />
Suizidalität ist heilbar<br />
»Bevor wir eine staatlich geförderte<br />
Suizidbeihilfe oder bundesweite Beratungsstellen<br />
zur Umsetzung der Suizidbeihilfe<br />
in Betracht ziehen, geschweige<br />
denn gesetzlich verankern, muss dringend<br />
die Suizidprävention gestärkt werden«,<br />
erklärte der Vorsitzende des DH-<br />
PV, Professor Winfried Hardinghaus,<br />
im Vorfeld der ersten Lesung dreier<br />
Gruppenanträge, mit denen Abgeordnete<br />
des Deutschen Bundestags die<br />
Beihilfe zum Suizid neu regeln wollen.<br />
Nötig geworden ist das, weil der<br />
Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts<br />
am Aschermittwoch 2020 das<br />
Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe<br />
zum Suizid, das der Deutsche Bundestag<br />
im November 2015 mit großer<br />
Mehrheit beschlossen hatte, für verfassungswidrig<br />
erklärte.<br />
»Die Debatte um ein entsprechendes<br />
Gesetz muss zeitnah im Bundestag geführt<br />
und ein Suizidpräventionsgesetz<br />
noch vor einer gesetzlichen Regelung<br />
zur Beihilfe zum Suizid verabschiedet<br />
werden«, erklärte auch die Vorsitzende<br />
der DGS und Fachärztin für Psychiatrie<br />
und Psychotherapie, Dr. Ute Lewitzka.<br />
Und der stellvertretende Vorsitzende<br />
der DGS, der Diplomgerontologe<br />
Dr. Uwe Sperling, ergänzte, dass<br />
Suizide und Suizidversuche meist in großer<br />
seelischer Not erfolgten. »Unterstützung<br />
in dieser seelischen Not hilft!<br />
Suizidprävention ist möglich! Diese gesamtgesellschaftliche<br />
Aufgabe benötigt<br />
ein verlässliches Fundament. Deshalb<br />
fordern wir den Gesetzgeber auf, Suizidprävention<br />
in Deutschland jetzt gesetzlich<br />
zu verankern.«<br />
»Auch wenn die Entwicklung der<br />
Hospizarbeit und der Palliativversorgung<br />
durch das Hospiz- und Palliativgesetz<br />
von 2015 und die entsprechenden<br />
gesetzlichen Regelungen bereits zu einer<br />
Verbesserung in der hospizlichen Begleitung<br />
und palliativen Versorgung der Betroffenen<br />
beigetragen haben, bleibt gerade<br />
auch vor dem Hintergrund der drohenden<br />
Normalisierung der Suizidbeihilfe<br />
viel zu tun«, erklärte der Geschäftsführer<br />
des DHPV, Benno Bolze. reh<br />
Bundesrat billigt<br />
Streichung des<br />
§ 219a StGB<br />
Berlin (<strong>ALfA</strong>). Der Bundesrat hat die<br />
vom Deutschen Bundestag Ende Juni<br />
beschlossene Aufhebung des Werbeverbots<br />
für Schwangerschaftsabbrüche am<br />
Abtreibung darf nun beworben werden<br />
8. Juli gebilligt. Der nun aus dem Strafgesetzbuch<br />
gestrichene § 219a hatte Ärzten,<br />
Praxen und Einrichtungen verboten,<br />
Abtreibung zu bewerben. Mit dem<br />
vom Bundestag beschlossenen Gesetz<br />
wurden außerdem die Ärzte, die in der<br />
Vergangenheit absichtlich gegen das<br />
Werbeverbot verstoßen haben, »rehabilitiert«<br />
und die Urteile aufgehoben. reh<br />
LEBENSFORUM <strong>143</strong><br />
13
POLITIK<br />
IFEELSTOCK/STOCK.ADOBE.COM<br />
Von Menschwürde<br />
keine Spur<br />
Das Europäische Parlament spricht sich mehrheitlich für ein »Recht auf Abtreibung« aus und fordert,<br />
damit nicht genug, sogar dessen Aufnahme in die Grundrechtecharta der Europäischen Union<br />
Von Tom Bioly<br />
Mit großer Mehrheit stimmte<br />
das EU-Parlament am 7.<br />
Juli für eine Entschließung<br />
mit dem Titel: »Die Entscheidung des<br />
Obersten Gerichtshofs der USA, das<br />
Recht auf Abtreibung in den Vereinigten<br />
Staaten zu kippen, und die Notwendigkeit,<br />
das Recht auf Abtreibung<br />
zu bewahren und die Gesundheit der<br />
Frauen in der EU zu schützen«. Den<br />
Anlass für die Debatte hatte das Urteil<br />
»Dobbs vs. Jackson Women’s Health<br />
Organization« des Obersten Gerichtshofs<br />
der USA (kurz: Dobbs) geliefert,<br />
mit dem das Grundsatzurteil »Roe vs.<br />
Wade« aus dem Jahr 1973 für ungültig<br />
erklärt wurde. Damit befand das Gericht,<br />
dass die Verfassung der Vereinigten<br />
Staaten kein allgemeines »Recht auf<br />
Abtreibung« vorsehe.<br />
Kurz gesagt handelt es sich bei der<br />
Entschließung um eine Sammlung von<br />
Ansichten der Bewegung gegen den<br />
Lebensschutz. Wesentliche Bestandteile<br />
sind:<br />
• Die Verurteilung des Gerichtsurteils<br />
und die Aufforderung an die US-Behörden,<br />
seiner ungeachtet ein »Recht<br />
auf Abtreibung« zu gewährleisten,<br />
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POLITIK<br />
• die Forderung, die EU-Grundrechtecharta<br />
um ein »Recht auf sichere<br />
und legale Abtreibung« zu erweitern,<br />
• die Warnung vor der Lebensschutzbewegung<br />
und die Forderung nach<br />
mehr Unterstützung für deren Gegner.<br />
Nach Menschenwürde sucht man<br />
in dem Papier vergeblich. Zwar taucht<br />
das Wort ein einziges Mal auf, allerdings<br />
keineswegs in seinem eigentlichen,<br />
universellen Sinne.<br />
Der Vorlauf<br />
Der Vorstoß, den Zugang zu Abtreibungen<br />
zu einem Grundrecht der Europäischen<br />
Union zu erklären, ist nicht neu.<br />
Ein wichtiger Etappensieg für die Lebensschutzgegner<br />
war bereits die Annahme<br />
des Matić-Berichts im Juni 2021,<br />
Emmanuel Macron<br />
SOAZIG DE LA MOISSONNIÈRE / DILA-LA DOCUMENTATION FRANÇAISE<br />
WWW.MARGARITAPISA.ES<br />
Margarita de la Pisa Carrión<br />
der in dasselbe Horn stieß. Rückenwind<br />
gab es außerdem im Februar <strong>2022</strong> vom<br />
französischen Präsidenten Emmanuel<br />
Macron. Der forderte, dass die EU-<br />
Charta unter anderem durch ein »Recht<br />
auf Abtreibung« (droit à l’avortement)<br />
»aktualisiert wird«, damit »wir am Ende<br />
einen neuen Rechtssockel kreieren, der<br />
sich auf unsere Werte stützt«. Bemerkenswert<br />
ist dabei, dass selbst das Oberhaupt<br />
eines großen europäischen Staates<br />
nicht von der »Schaffung«, sondern<br />
der »Anerkennung« (reconnaissance) jenes<br />
vermeintlichen Rechts spricht. Damit<br />
setzt er, genauso wie die entsprechenden<br />
Aktivisten, seine Existenz als<br />
gegeben voraus.<br />
Umfangreiche Gestalt im EU-Parlament<br />
erhielt die Bestrebung dann<br />
bereits am 9. Juni dieses Jahres in der<br />
Entschließung »Weltweite Bedrohungen<br />
des Rechts auf Abtreibung – etwaige<br />
Abschaffung des Rechts auf Abtreibung<br />
in den USA durch den Obersten<br />
Gerichtshof«, nachdem eine Vorbereitung<br />
des US-Urteils an die Öffentlichkeit<br />
durchgesteckt worden war.<br />
Dass die EU-Grundrechtecharta derartig<br />
im Mittelpunkt steht, hat vor allem<br />
einen Grund: Sie ist seit ihrem Inkrafttreten<br />
2009 in der gesamten Europäischen<br />
Union rechtsverbindlich.<br />
Die Debatte<br />
Zu Beginn der Debatte im EU-Parlament<br />
am 4. Juli (wohlgemerkt dem Unabhängigkeitstag<br />
der USA) betonte Katharina<br />
Barley (SPD), die als Vizepräsidentin<br />
die Leitung innehatte, es gehe<br />
um ein »emotionales Thema«. Das ist<br />
wohl wahr, wenngleich sie dabei eher<br />
nicht das Leben unzähliger ungeborener<br />
Kinder im Sinn gehabt haben dürfte.<br />
Es wurden bekannte Argumente ausgetauscht:<br />
Dabei durfte seitens der Lebensschutzgegner<br />
die Schelte gegen<br />
die »alten weißen Männer« ebenso<br />
wenig fehlen wie allgemeine Verweise<br />
auf die Gleichstellung der Frau oder<br />
das Paradigma der Vergewaltigung.<br />
Daneben bezeichneten die Befürworter<br />
eines »Rechts auf Abtreibung« das<br />
Dobbs-Urteil als »furchtbaren Schlag<br />
gegen die Menschenrechte«. Dabei verbreiteten<br />
sie das Missverständnis – oder<br />
eher die Desinformation –, dass damit,<br />
wie es auch im Text der Entschließung<br />
lautet, »das in der Bundesverfassung<br />
verankerte Recht auf Abtreibung abgeschafft<br />
wurde«. Richtig ist, dass die<br />
Richter festgestellt haben: Es war eben<br />
nicht in der Verfassung verankert. Darum<br />
haben die Bundesstaaten das Recht,<br />
selbst demokratisch über die Frage der<br />
Abtreibung zu entscheiden.<br />
Aufseiten der Lebensschützer im Parlament<br />
trat unter anderem die Spanierin<br />
Margarita de la Pisa Carrión (Vox) hervor.<br />
Sie betonte in ihrer Rede die Schönheit<br />
der Schwangerschaft, deren transzendente<br />
Dimension und demgegenüber<br />
die Instrumentalisierung menschlichen<br />
Lebens im anderen Lager. Weitere<br />
Abgeordnete forderten einen besseren<br />
Schutz für die verletzlichsten, nämlich<br />
die ungeborenen Menschen, sowie mehr<br />
Hilfe für Schwangere und Familien. Einige<br />
mahnten an, in Zukunft überhaupt<br />
noch gehört zu werden. Das stellt angesichts<br />
der Schärfe der zahlenmäßig<br />
überlegenen Gegenseite eine durchaus<br />
berechtigte Forderung dar.<br />
Am darauffolgenden Donnerstag,<br />
dem 7. Juli, wurde über die Entschließung<br />
abgestimmt. 324 Abgeordnete<br />
stimmten mit Ja, 155 mit Nein, 38<br />
enthielten sich. Dabei fällt auf, dass<br />
die Fraktionen der europäischen Linken<br />
und Grünen geschlossen auftraten,<br />
selbstverständlich zugunsten der Entschließung.<br />
In allen anderen Fraktionen<br />
gab es zumindest »Abweichler«.<br />
Am wenigsten einheitlich votierte die<br />
Fraktion der Europäischen Volksparteien<br />
(EVP): Zwar lehnte die Mehrheit ihrer<br />
Abgeordneten den Text ab, über 30<br />
aber stimmten ihm zu.<br />
Die Entschließung<br />
Der Entschließungstext vom 7. Juli<br />
bekräftigt ausdrücklich den umfangreicheren<br />
(u.a. wurden die damaligen<br />
32 Forderungen auf 15 eingeschmolzen)<br />
vom 9. Juni. Er wiederholt dementsprechend<br />
manche Auszüge daraus<br />
wörtlich und verallgemeinert weitere.<br />
Die entscheidende Präzisierung besteht<br />
im konkreten Satz, der in Artikel 7 der<br />
EU-Grundrechtecharta aufgenommen<br />
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15
POLITIK<br />
werden soll: »Jeder hat das Recht auf<br />
sichere und legale Abtreibung«. Damit<br />
wäre – auch, wenn so manchem das generische<br />
Maskulinum missfallen dürfte<br />
– auch schon vorsorglich das Wort<br />
»Frau« vom Tisch.<br />
Erneut wird das Dobbs-Urteil seinerseits<br />
verurteilt. Nachdem der Versuch<br />
der US-Demokraten zu diesem<br />
Zeitpunkt bereits gescheitert war, ein<br />
entsprechendes Bundesgesetz zu verabschieden,<br />
entfällt diese Forderung im<br />
Unterschied zur Entschließung vom 9.<br />
Juni. Hinzugekommen ist allerdings der<br />
Appell, »nichtstaatliche Frauenrechtsorganisationen<br />
und Pro-Choice-Bewegungen<br />
im Land [d.h. in den USA] zu<br />
unterstützen«.<br />
Die »Erwägung«, »dass sexuelle<br />
und reproduktive Rechte, einschließlich<br />
sicherer und legaler Betreuung<br />
bei Schwangerschaftsabbrüchen, ein<br />
Grundrecht darstellen«, entspricht bester<br />
Orwell’scher Manier. Nichts daran<br />
ist wahr: Es geht nicht um Reproduktion,<br />
sondern um deren brachiale Verhinderung.<br />
Es geht nicht um Gesundheit.<br />
Das heißt, für das Kind geht es in<br />
der Tat um Leben und Tod. Um die<br />
Gesundheit der Mutter aber, auf die allein<br />
diese Formulierung projiziert wird,<br />
nur in den seltensten Fällen. Und es<br />
Sommerlicher Blick auf das EU-Parlamentsgebäude in Straßburg<br />
geht auch nicht um ein Recht, gar ein<br />
Grund- bzw. Menschenrecht – zumindest,<br />
solange sich die EU-Staaten nicht<br />
darauf einlassen. Doch, so offenbar das<br />
Kalkül: Wird eine Behauptung nur oft<br />
genug wiederholt, glaubt sie am Ende<br />
eine Mehrheit. Im EU-Parlament hat<br />
es bereits funktioniert.<br />
Ein weiteres Mantra stellt das der »sicheren<br />
und legalen Abtreibungen« dar,<br />
gelegentlich gepaart mit »erschwinglich«<br />
oder »kostenlos«. Hierin spiegelt<br />
sich die Entwicklung des US-Diskurses<br />
der letzten Jahre wider. Während<br />
Abtreibungsbefürworter dort noch bis<br />
vor einigen Jahren für »sichere, legale<br />
und seltene« (safe, legal and rare) Abtreibungen<br />
eintraten, ist der letzte Teil<br />
der Aufzählung inzwischen meist einem<br />
»free« gewichen. Gewissermaßen ist das<br />
konsequent: Wenn es legal ist, Kinder<br />
vor ihrer Geburt zu töten, warum sollte<br />
das dann nur selten geschehen?<br />
Zynisch erscheint in diesem Zusammenhang<br />
die Feststellung, »dass<br />
der Schutz eines sicheren und legalen<br />
Schwangerschaftsabbruchs unmittelbare<br />
Auswirkungen auf die wirksame Ausübung<br />
der in der Charta anerkannten<br />
Rechte wie Menschenwürde, persönliche<br />
Autonomie, Gleichheit und körperliche<br />
Unversehrtheit hat«. Da jedoch anscheinend<br />
nicht »erwogen« wurde, dass<br />
eins und eins gelegentlich zusammengezählt<br />
werden müssen, fiel den Parlamentariern<br />
wohl der Widerspruch mit<br />
Blick auf Würde und Rechte der ungeborenen<br />
Kinder nicht ins Auge.<br />
Ebenfalls als kurzsichtig muss der<br />
Einwand gelten, dass besonders Frauen,<br />
die von Armut und anderer sozialer Benachteiligung,<br />
etwa Rassismus, betroffen<br />
sind, unter einem erschwerten Zugang<br />
zu Abtreibungen litten. Dabei ist<br />
die Beobachtung erst einmal korrekt: In<br />
den USA etwa gibt es mit Abstand die<br />
meisten Abtreibungen unter schwarzen<br />
Frauen und Familien. Absurd aber erscheint<br />
es, dass die Lebensschutzgegner<br />
hier nicht etwa energisch für die Verbesserung<br />
der sozioökonomischen Lage<br />
der Betroffenen eintreten, sondern<br />
für die »Beseitigung« von deren Folgen.<br />
Weiterhin wird vor Macht, Geld und<br />
Einfluss von »Anti-Choice-Gruppen«<br />
europa- und weltweit gewarnt. Zumindest<br />
werden diese nun nicht mehr, wie<br />
noch in der Entschließung vom 9. Juni,<br />
in einem Atemzug mit dem »Aufstieg<br />
der extremen Rechten« genannt,<br />
was allerdings auch schlicht redaktionelle<br />
Gründe haben könnte. Man lasse<br />
sich das einmal auf der Zunge zergehen:<br />
Hilfe für Schwangere und Familien<br />
in Not als Schreckgespenst! Ein<br />
Beispiel allerdings sollten sich Lebensschützer<br />
an der vorliegenden sprachlichen<br />
Konsequenz nehmen. Warum z.B.<br />
immer noch von »Pro-Choicern« &<br />
Co. sprechen, wenn doch Alternativen<br />
wie »Lebensschutzgegner« oder »Anti-Lifer«<br />
auf der Hand liegen?<br />
Nach den bisherigen Ausführungen<br />
mag es kaum überraschen, dass die Menschenwürde<br />
und das damit verbundene<br />
Lebensrecht des ungeborenen Kindes<br />
in den Entschließungen des EU-Parlaments<br />
mit keiner Silbe erwähnt werden.<br />
Mehr noch: Der Begriff »ungeborenes<br />
Kind« findet sich in derjenigen<br />
vom 9. Juni bloß in einem Zitat, in der<br />
jüngeren gar nicht. Umgekehrt verhält<br />
es sich mit der »Menschenwürde«, die<br />
im Text vom 7. Juli nur ein einziges Mal<br />
auftaucht (wie oben zitiert). Zum Vergleich:<br />
Die bereits erwähnte Formulierung<br />
»reproduktive Gesundheit« bzw.<br />
»reproduktive Rechte« hat es um einiges<br />
häufiger in die Texte geschafft, nämlich<br />
32- (9. Juni) bzw. 17-mal (7. Juli).<br />
16 LEBENSFORUM <strong>143</strong>
POLITIK<br />
Somit scheint es der »Menschenwürde«<br />
anders zu ergehen als etwa<br />
den »Menschenrechten«. Während der<br />
zweite Begriff von den Lebensschutzgegnern<br />
korrumpiert wird, haben sie<br />
sich offenbar darauf verständigt, ersteren<br />
– und damit auch das Konzept –<br />
einfach fallenzulassen.<br />
Die Reaktionen<br />
Die Vertretung der katholischen Bischöfe<br />
bei der EU (COMECE) bekräftigte<br />
ihre Ansicht, das Vorhaben sei ungerecht,<br />
ohne ethische Grundlage und<br />
werde zu ständigen Konflikten zwischen<br />
den Bürgern der EU führen. Auch die<br />
Deutsche Bischofskonferenz positionierte<br />
sich in diesem Sinne. Ihr Sprecher<br />
Matthias Kopp betonte, die Gesundheit<br />
und Rechte von Frauen zu schützen, sei<br />
»ohne Zweifel ein herausragendes Anliegen«.<br />
Ein Recht auf Abtreibung lasse<br />
jedoch den Schutz des ungeborenen<br />
Lebens »völlig unberücksichtigt und<br />
wird der Komplexität der Situation in<br />
keiner Weise gerecht«. Inwiefern allerdings,<br />
wie Kopp fordert, eine »Polarisierung<br />
der Debatte« noch zu vermeiden<br />
ist, erscheint fraglich. Schließlich<br />
setzt sich ein Extrempol gerade wieder<br />
und wieder politisch durch.<br />
Alexandra Linder nennt als Vorsitzende<br />
des Bundesverbands Lebensrecht die<br />
Entschließung eine »Grundrechtsverwirrung«<br />
und »bizarr«, denn: »Unmittelbar<br />
nach dem Verweis auf die Menschenwürde,<br />
auf das Recht jeder Person<br />
auf Leben und Unversehrtheit, nach<br />
dem Verbot eugenischer Praktiken und<br />
dem Recht auf Freiheit und Sicherheit<br />
würden in dieser Charta einer ganzen<br />
Gruppe von Menschen alle Rechte mit<br />
einem Satz wieder genommen.«<br />
Aus dem politischen Spektrum kommentiert<br />
unter (insgesamt wenigen) anderen<br />
Hessens Europaministerin Lucia<br />
Puttrich (CDU) die Entwicklung in der<br />
»FAZ«. Darin geht sie über moralische<br />
Abwägungen zum Thema Abtreibung<br />
hinaus und kritisiert erstens die Anmaßung<br />
der EU gegenüber den USA, »gegen<br />
die man sich im umgekehrten Fall<br />
vermutlich lautstark verwahren würde«.<br />
Zweitens stört sie sich am Vorhaben<br />
des EU-Parlaments, »neue gesamteuropäische<br />
Werte zu definieren«, was als<br />
übergriffig empfunden werden könne.<br />
Unter den Befürwortern der Entschließung<br />
sei die grüne Europa-Abgeordnete<br />
Terry Reintke erwähnt. Neben<br />
einem Jubel-Tweet äußerte sie sich<br />
auch grundsätzlich: Man habe ihr gesagt,<br />
sie solle sich in der Politik auf die<br />
»großen Themen« konzentrieren. Darauf<br />
antwortet sie, dass an erster Stelle<br />
»das Recht auf unsere eigenen Körper«<br />
(womit im Wesentlichen Abtreibung<br />
gemeint ist) eben so ein großes<br />
Thema sei. Das gilt es, sich einzuprägen:<br />
Für Lebensschutzgegner hat ihre<br />
radikale Agenda absolute Priorität.<br />
Und solange das Thema Lebensschutz<br />
für Kirchen, Konservative und sonstige<br />
Unterstützer nicht dieselbe Priorität<br />
bekommt, werden ausschließlich weitere<br />
Parlamentsentscheidungen wie am 7.<br />
Juli in Straßburg folgen.<br />
Die Perspektive<br />
Zu den wenigen erfreulichen Nachrichten<br />
zu diesem Thema gehört, dass<br />
allein mit dem Votum des EU-Parlaments<br />
noch kein EU-Grundrecht auf<br />
Abtreibung geschaffen wurde. Hierfür<br />
bräuchte es einen einstimmigen<br />
Beschluss des Rates der Europäischen<br />
Homepage der Kommission der Bischofskonferenzen in der Europäischen Union<br />
Union. Und dort könne ein Nein unter<br />
anderem von Polen, Ungarn und Malta<br />
als sicher gelten, betonte der Journalist<br />
David Wengenroth am 9. Juli<br />
bei »IDEA«. Doch dieser Trost bleibe<br />
schwach, denn die Resolution zeige,<br />
»wie in Europa ein blindwütiger Linkspopulismus<br />
um sich greift, dem Recht<br />
und Realität gleichermaßen gleichgültig<br />
sind.« Trauriger Vorreiter: die Ampelkoalition<br />
in Deutschland. Nach der<br />
Streichung des Werbeverbots für Abtreibungen<br />
(§ 219a StGB) gebe die Entschließung<br />
den Plänen der Ampel weiteren<br />
Rückenwind. Dementsprechend<br />
resümiert Wengenroth: »Was für eine<br />
bittere Ironie: Die europäische Einigung<br />
wurde von überzeugten Christen<br />
als Friedensprojekt begonnen – gerade<br />
weil sie Ehrfurcht vor dem menschlichen<br />
Leben hatten. 65 Jahre später liefert<br />
sie ein europäisches Gütesiegel für<br />
eine Politik, die auf eben diese Ehrfurcht<br />
pfeift.«<br />
Womit einmal mehr unterstrichen<br />
wird: Etwas Entscheidendes fehlt sowohl<br />
dem Text der Entschließung als<br />
auch einer Mehrheit im EU-Parlament.<br />
Und das ist ein universelles Verständnis<br />
von Menschenwürde.<br />
LEBENSFORUM <strong>143</strong><br />
17
PRO-LIFE<br />
Congress<br />
16. – 18. SEPTEMBER <strong>2022</strong><br />
BERLIN<br />
FR.,16. SEPTEMBER <strong>2022</strong><br />
SO.,18. SEPTEMBER <strong>2022</strong><br />
18.00 Uhr → Ankunft und Anmeldung der<br />
Teilnehmer<br />
19.30 Uhr → Abendessen<br />
Anschließend → Get connect:<br />
Vernetzung im Lebensschutz<br />
SA.,17. SEPTEMBER <strong>2022</strong><br />
bis 9:00 Uhr → Frühstück<br />
9.00 Uhr → Vortrag (Special Guest)<br />
10.00 Uhr → Workshops<br />
1. Argumentieren im Lebensschutz<br />
2. Schwangerschaftskonflikt:<br />
Was sind Gründe für Abtreibung?<br />
Was brauchen Frauen?<br />
3. Kirche, Politik und Lebensschutz<br />
4. Pro Life Bewegung im Ausland<br />
11.30 Uhr → Ansage und Pause<br />
12.00 Uhr → Kick-off<br />
13.00 Uhr → Kundgebung und Marsch für das<br />
Leben<br />
18.00 Uhr → Abendessen<br />
19.15 Uhr → Input- Was DU jetzt tun kannst<br />
19.30 Uhr → Pro Life Party<br />
bis 9:30 Uhr → Frühstück und Abreise<br />
95 € für Schüler, Studenten, Auszubildende<br />
125 € für junge Berufstätige<br />
In den Kosten inbegriffen sind:<br />
Übernachtungen, Vollpension, Kaffeepause,<br />
Lunchpaket, Kongressgebühr und Material.<br />
Eine Kooperation der CDL<br />
und der Jugend für das Leben<br />
→ Anmeldung unter:<br />
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Jugend für das Leben<br />
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ESSAY<br />
NOEL POWELL/STOCK.ADOBE.COM<br />
»Recht auf<br />
Abtreibung«?<br />
Die Tötung eines Menschen im Mutterleib ist keine private, sondern eine ganz und gar öffentliche<br />
Angelegenheit. Denn wer meint, entscheiden zu dürfen, ob ein anderer weiterleben darf,<br />
bestreitet die Unverfügbarkeit des Lebens von Menschen durch ihresgleichen und erklärt<br />
damit zugleich auch das Leben aller anderen de facto für antastbar.<br />
Von Stefan Rehder<br />
Manchmal ist es ratsam, sich<br />
einfach mal zurückzulehnen.<br />
Das entspannt nicht nur,<br />
es schafft auch Distanz. Distanz führt,<br />
schon rein physisch, zu einer Erweiterung<br />
des Sichtfeldes und ermöglicht es<br />
so, Beobachtbares aus einer erweiterten<br />
Perspektive zu betrachten. Nirgendwo<br />
ist ein solches Zurücklehnen derart angebracht<br />
wie dort, wo diametral entgegengesetzte<br />
Überzeugungen unversöhnlich<br />
aufeinanderprallen. Und nirgendwo<br />
scheint dies gegenwärtig so ratsam<br />
wie dort, wo es um die Frage geht, ob es<br />
ein »Recht auf Abtreibung« gibt. Dass<br />
es ein solches gebe, wird nicht nur von<br />
einer Mehrheit des Europäischen Parlaments<br />
behauptet. In den USA sucht<br />
Präsident Joe Biden nach Möglichkeiten,<br />
ein solches Recht in einem Bundesgesetz<br />
zu verankern. Und Frankreichs<br />
Präsident, Emmanuel Macron, will es<br />
gar in die Verfassung der »Grand Nation«<br />
aufnehmen lassen.<br />
Ein Recht auf etwas zu haben, meint,<br />
einen berechtigten Anspruch auf ein Gut<br />
oder eine Leistung zu besitzen. Dabei<br />
20 LEBENSFORUM <strong>143</strong>
ESSAY<br />
kommt es entscheidend auf das Adjektiv<br />
»berechtigt« an. Denn beanspruchen<br />
lässt sich selbstverständlich alles<br />
und jedes. Angefangen bei kostenloser<br />
Logis und Verpflegung über die Bereitstellung<br />
eines Fuhrparks oder eines Privatjets<br />
bis hin zur Herrschaft als König<br />
oder Verehrung als Gott.<br />
Ansprüche erwerben kann. Es ist daher<br />
auch ungenau, von einem »Recht<br />
auf Leben« zu sprechen. In Wirklichkeit<br />
meint das »Recht auf Leben«, dass<br />
Menschen einen berechtigten Anspruch<br />
darauf haben, nicht von anderen Menschen<br />
getötet zu werden. Ob dieser Anspruch,<br />
der Menschen »qua Natur«<br />
zukommt, verwirkt werden kann, ist,<br />
wie die Diskussion um die Todesstrafe<br />
zeigt, durchaus umstritten. Völlig unbestritten<br />
ist jedoch, dass kein Mensch<br />
das Recht hat, einen unschuldigen und<br />
wehrlosen Menschen zu töten.<br />
nur, weil auch die Existenz der Befürworter<br />
eines »Rechts auf Abtreibung«<br />
einmal genauso begonnen hat und ein<br />
»Recht auf Abtreibung« überdies nur<br />
der fordern kann, bei dem von diesem<br />
kein Gebrauch gemacht wurde. Sondern<br />
vor allem, weil bis auf den heutigen<br />
Tag noch niemand zu zeigen vermochte,<br />
wie und wodurch aus einem »Etwas«<br />
ein »Jemand« und aus einem »Nochnicht-Mensch«<br />
ein »Mensch« wurde.<br />
Warum ist das so? Die Frage ist alles<br />
andere als trivial. Schließlich hat es<br />
Abtreibungen, genauso wie Mord und<br />
LIFE ISSUES INSTITUTE<br />
US-Präsident Joe Biden<br />
Bei der Prüfung, ob ein erhobener<br />
Anspruch zu Recht besteht, lassen sich<br />
für gewöhnlich zwei Modi unterscheiden.<br />
Der erste betrifft Ansprüche, die<br />
erworben werden können, der zweite<br />
solche, die Menschen »qua Natur« zukommen.<br />
Unterzeichnet etwa jemand<br />
einen Mietvertrag für eine Wohnung<br />
oder ein Haus, so erwirbt er, unter der<br />
Voraussetzung, dass er selbst nicht vertragsbrüchig<br />
wird, nach allgemeinem<br />
Dafürhalten damit das Recht auf eine<br />
entsprechende Nutzung der Immobilie.<br />
Anders verhält es sich beim »Recht<br />
auf Leben«. Ein berechtigter Anspruch<br />
auf Leben muss und kann nicht erworben<br />
werden, sondern kommt nach allgemeinem<br />
Dafürhalten jedem Menschen<br />
»qua Natur« zu; einzig und allein, weil<br />
er Mensch ist.<br />
Könnte oder müsste ein Anspruch<br />
auf Leben erworben werden, stellte sich<br />
natürlich die Frage: wodurch? Den Anspruch<br />
auf Nutzung einer Immobilie etwa<br />
erwirbt, wer den im Mietvertrag vereinbarten<br />
Mietzins fristgerecht entrichtet.<br />
Vergleichbares ist beim »Recht auf<br />
Leben« undenkbar. Einen Anspruch auf<br />
Leben kann schon deshalb niemand erwerben,<br />
weil das Leben Voraussetzung<br />
dafür ist, dass jemand Rechte haben und<br />
Sieht so etwa ein »Zellhaufen« oder »Schwangerschaftsgewebe« aus?<br />
Nicht einmal die Befürworter eines<br />
»Rechts auf Abtreibung« behaupten,<br />
Frauen hätten das Recht, einen Arzt<br />
mit der Tötung eines unschuldigen und<br />
wehrlosen Menschen zu beauftragen. Sie<br />
tun stattdessen so, als wäre das ungeborene<br />
Kind im Mutterleib noch kein<br />
Mensch. Statt von einem Menschen im<br />
Frühstadium seiner Existenz sprechen<br />
sie von »menschlichem Leben« oder einem<br />
»Zellhaufen«, als handele es sich<br />
dabei um Entitäten, die keine Rechte<br />
haben könnten.<br />
Eine solche »Entmenschlichung«<br />
ist jedoch wissenschaftlich unhaltbar<br />
und daher zutiefst unredlich. Nicht<br />
Totschlag, immer gegeben. Und offensichtlich<br />
haben sich Frauen, die sich mit<br />
einem solchen Ansinnen trugen, mit diesem<br />
auch früh an Ärzte gewandt. Der<br />
griechische Arzt Hippokrates von Kós<br />
etwa, der um 460 bis 370 vor Christus<br />
lebte, ließ seine Schüler gar einen<br />
Eid sprechen. Mit ihm riefen die jungen<br />
Ärzte die Heilgötter Apollon, Asklepios,<br />
Hygieia und Panakeia an und<br />
schworen, sie zu Zeugen nehmend, die<br />
von ihrem Lehrer erlernte Kunst ausschließlich<br />
zum Erhalt des Lebens einzusetzen.<br />
Die in diesem Kontext relevante<br />
Passage lautet: »Nie werde ich jemandem,<br />
auch auf Verlangen nicht, ein<br />
LEBENSFORUM <strong>143</strong><br />
21
ESSAY<br />
tödlich wirkendes Gift geben und auch<br />
keinen Rat dazu erteilen; gleicherweise<br />
werde ich keiner Frau ein fruchtabtreibendes<br />
Mittel geben.« Dabei hätten<br />
Hippokrates und seine Schüler vor<br />
rund 2.400 Jahren vermutlich allen<br />
Grund gehabt, in der »Frucht« vieles,<br />
nur eben keinen Menschen zu erblicken.<br />
Aber auch sie wussten bereits,<br />
dass diese nie eine andere Gestalt ausbildet<br />
als die eines Menschen. Heute<br />
wissen wir weit mehr.<br />
Wir wissen, dass während des Befruchtungsvorgangs,<br />
der etwa 24 Stunden<br />
dauert, aus den mütterlichen und<br />
väterlichen Chromosomen ein neuer<br />
Chromosomensatz hergestellt wird,<br />
der das einmalige, individuelle genetische<br />
Entwicklungsprogramm eines neuen<br />
und einzigartigen Menschen – einschließlich<br />
seines Geschlechts – beinhaltet.<br />
Wir wissen, dass die befruchtete<br />
Eizelle, obgleich für das bloße Auge<br />
noch unsichtbar, schon vor ihrer Einnistung<br />
in die Gebärmutter eine ganze<br />
Reihe komplexer Vorgänge steuert.<br />
Dazu gehören neben der koordinierten<br />
Zellteilung und der Zellspezialisierung<br />
auch die Wanderung durch den Eileiter<br />
sowie ein Selbstheilungsprogramm,<br />
welches der befruchteten Eizelle das Erkennen<br />
und Abstoßen sich abnorm entwickelnder<br />
Zellen ermöglicht.<br />
Wir wissen, dass der neu entstandene<br />
winzige Organismus bereits zwischen<br />
dem Vier- und Acht-Zellstadium biochemische<br />
Signale an den Organismus<br />
der Mutter sendet, die den embryo-maternalen<br />
Dialog, auch »crosstalk« genannt,<br />
einleiten und zu einer Umstellung<br />
des mütterlichen Organismus führen.<br />
Lange bevor eine Frau überhaupt<br />
weiß, dass sie schwanger ist, sorgen diese<br />
Signale dafür, dass sich ihr Organismus<br />
umstellt. Auf diese Weise schafft<br />
sich die befruchtete Eizelle selbst die<br />
Voraussetzungen für ihre erfolgreiche<br />
Einnistung. Mit ihr verschafft sie sich<br />
Zugang zum mütterlichen Gefäßsystem,<br />
das ihn für die weitere Entwicklung mit<br />
Nährstoffen versorgt. Das erste Organsystem,<br />
das der Organismus bildet, ist<br />
Kann dieser Mensch keinen Anspruch darauf besitzen, nicht getötet zu werden?<br />
der aus Herz und Blutgefäßen bestehende<br />
Blutkreislauf. Es wird zur Verteilung<br />
der Nährstoffe benötigt. Bereits in der<br />
3. Woche nach der Befruchtung besitzt<br />
der Embryo ein s-förmiges Herz, dessen<br />
Schlagen heute um die 6. Woche<br />
nachgewiesen werden kann.<br />
Wir wissen heute, dass parallel dazu<br />
die Ausbildung des Zentralnervensystems<br />
erfolgt und der Embryo über<br />
die Ausbildung der Gliedmaßen, die ab<br />
Mitte der 5. Woche sichtbar werden,<br />
beginnt, seine Umgebung zu erkunden.<br />
Wir wissen, dass in der 7. Woche<br />
LIFE ISSUES INSTITUTE<br />
nach der Befruchtung die Entwicklung<br />
des Herzens abgeschlossen ist, dass das<br />
Herz des Kindes mit bis zu 180 Schlägen<br />
pro Minute rund doppelt so schnell<br />
schlägt wie das seiner Mutter und es mit<br />
seinem eigenen »Motor« die Blutzirkulation<br />
vorantreibt. Oft erfährt die Mutter<br />
durch Ausbleiben der Regelblutung<br />
erst jetzt, dass sie schwanger ist.<br />
Kurz: Wir wissen längst, dass Menschen<br />
»biologische Wunder« sind, die<br />
sich nicht »zu«, sondern »als« Menschen<br />
entwickeln, und die Bezeichnung<br />
»Zellhaufen« eine unzulässige Unterbestimmung<br />
eines Wesens darstellt, das<br />
jeder im ausgewachsenen Zustand als<br />
Mensch bezeichnet. Wir wissen, dass es<br />
die »Menschwerdung« im eigentlichen<br />
Sinne in der Geschichte der Menschheit<br />
daher maximal ein einziges Mal gab,<br />
nämlich als Gott, wie Christen glauben,<br />
in Jesus Christus Mensch wurde.<br />
Wenn der Mensch einen berechtigten<br />
Anspruch darauf besitzt, von anderen<br />
Menschen nicht getötet zu werden,<br />
und ihm dieser »qua Natur« zukommt,<br />
dann muss dieses Recht auch<br />
den unschuldigsten und wehrlosesten<br />
Exemplaren der Gattung zukommen.<br />
Oder aber es gilt für niemanden. Alles<br />
andere wäre eine beispiellose Diskriminierung.<br />
Denn welche Diskriminierung<br />
könnte schlimmer und entsetzlicher<br />
sein, als unschuldig und wehrlos<br />
von den eigenen Eltern zum Tode verurteilt<br />
zu werden?<br />
Die Forderung nach einem »Recht<br />
auf Abtreibung« und der Versuch, dieses<br />
mit einem »Recht auf Privatheit« zu<br />
begründen, ist daher in Wahrheit der<br />
Versuch der Eröffnung bzw. Verteidigung<br />
eines rechtsfreien Raumes, in dem<br />
Staaten das Gewaltmonopol privatisieren<br />
und Ärzte auf Wunsch der Eltern<br />
vom Tötungsverbot suspendieren. Im<br />
Grunde müsste Ärzten, die sich dafür<br />
hergeben, auf der Stelle die Approbation<br />
entzogen werden. Denn eine Abtreibung<br />
ist die einzige Operation, die<br />
statt der Heilung des Patienten die Tötung<br />
eines Wehrlosen zum Ziel hat und<br />
dabei auch noch die mögliche Traumatisierung<br />
seiner Mutter in Kauf nimmt.<br />
Besonders erbärmlich aber ist es, das<br />
vermeintliche »Recht auf Abtreibung«<br />
mit dem »Recht auf körperliche Selbstbestimmung«<br />
begründen zu wollen. Das<br />
heißt natürlich nicht, dass es ein sol-<br />
22 LEBENSFORUM <strong>143</strong>
ESSAY<br />
durch den jeweils anderen nicht zum<br />
Vater oder zur Mutter gemacht zu werden,<br />
der kann genauso meinen, wer im<br />
Auto einen Sicherheitsgurt anlegt, erwerbe<br />
damit auch zugleich das Recht<br />
auf eine unfallfreie Fahrt.<br />
NOEL POWELL/STOCK.ADOBE.COM<br />
Auch dass es Lebensumstände gibt,<br />
unter denen die Zeugung eines Kindes<br />
unverantwortlich erscheinen mag, lässt<br />
sich nicht bestreiten. Und es ist nicht<br />
schwer zu verstehen, dass Menschen<br />
dies in solchen Fällen gerne »korrigieren«<br />
würden. Aber die vorgeburtliche<br />
Tötung eines Kindes ist eben nicht die<br />
Korrektur einer unverantwortlichen Tat,<br />
sondern die Hinzufügung einer noch<br />
weitaus unverantwortlicheren. Denn die<br />
Tötung eines wehrlosen und unschuldigen<br />
Menschen lässt sich niemals und<br />
von niemandem verantworten.<br />
Christen wissen, dass Gott auch das<br />
Unverantwortbare (im Grunde ist jede<br />
Sünde unverantwortbar) zu verzeihen<br />
vermag. Dies auch noch gern zu tun, gehört<br />
gewissermaßen zu seinem Kerngeschäft.<br />
Der Staat aber, zu dessen Kerngeschäft<br />
die Wahrung der äußeren und<br />
inneren Sicherheit gehört, muss Menschen<br />
davor schützen, von ihresgleichen<br />
getötet zu werden. Tut er es nicht, so<br />
versagt er auf ganzer Linie. Die Tötung<br />
eines Exemplars der Spezies Mensch im<br />
Mutterleib ist daher auch keine private<br />
Angelegenheit, sondern eine ganz und<br />
gar öffentliche. Denn wer einen unschuldigen<br />
und wehrlosen Menschen tötet,<br />
tötet auf symbolische Weise auch alle<br />
anderen. Ein Mensch, der meint, entscheiden<br />
zu dürfen, ob ein anderer weiterleben<br />
darf, bestreitet nämlich die Unverfügbarkeit<br />
des Lebens an sich und erklärt<br />
damit zugleich auch das Leben aller<br />
anderen de facto für antastbar. Und<br />
weil das Recht, nicht getötet zu werden,<br />
das Fundament ist, auf dem alle anderen<br />
Rechte fußen, ruft, wer ein »Recht<br />
auf Abtreibung« deklamiert, in Wahrheit<br />
die Anarchie aus.<br />
Im Portrait<br />
Stefan Rehder<br />
Abtreibung = Tötung eines wehrlosen und unschuldigen Kindes im Mutterleib<br />
ches Recht nicht gäbe. Selbstverständlich<br />
gibt es ein »Recht auf körperliche<br />
Selbstbestimmung«. Nur setzt dieses<br />
eben bereits ein, wenn sich ein Paar<br />
zum Geschlechtsverkehr entscheidet,<br />
und nicht erst, wenn ein Schwangerschaftstest<br />
positiv ausfällt. Ein »Recht<br />
auf Abtreibung« würde bedeuten, dass<br />
der Staat Menschen ermächtigt, die von<br />
ihnen gezeugten Kinder als »zu töten«<br />
zu deklarieren, die sie als »unerwünscht«<br />
oder »ungelegen« betrachten.<br />
Mit der eigenen Sexualität verantwortungsvoll<br />
umzugehen, ist keine kleine<br />
oder leichte Aufgabe, sondern etwas,<br />
das erst und oft mühsam erlernt<br />
werden muss. Dazu zählt auch die Anerkennung<br />
der Tatsache, dass der heute<br />
weit verbreitete Gebrauch von Kontrazeptiva<br />
die Wahrscheinlichkeit, dass<br />
bei einem Geschlechtsverkehr ein neuer<br />
Mensch gezeugt wird, lediglich minimieren,<br />
aber niemals restlos ausschließen<br />
kann. Wer meint, er erwerbe durch<br />
ihren Gebrauch einen Anspruch darauf,<br />
Stefan Rehder, geboren 1967 in<br />
Hilden, ist Journalist und Sachbuchautor.<br />
Der Bioethik-Experte<br />
ist Chefredakteur von »Lebens-<br />
Forum« und Korrespondent der in<br />
Deutschland, Österreich und der<br />
Schweiz erscheinenden katholischen<br />
Wochenzeitung »Die Tagespost«.<br />
Dort verantwortet er auch<br />
die Seite »Glaube & Wissen«. Rehder<br />
studierte Geschichte, Philosophie<br />
und Germanistik in Köln und<br />
München. Nach dem Examen arbeitete<br />
er zunächst als Redakteur<br />
der »Passauer Neuen Presse«<br />
sowie als Pressereferent des<br />
Bundesministeriums für Bildung,<br />
Wissenschaft, Forschung und<br />
Technologie. Der Katholik ist verheiratet<br />
und Vater dreier Kinder.<br />
LEBENSFORUM <strong>143</strong><br />
23
ZWISCHENRUF<br />
Auf der Seite<br />
des Lebens<br />
Gott kann heilen, was im Leben von Menschen zerbrochen wurde. Das gilt sogar für die Selbsttötung.<br />
Aber die Würde verpflichtet uns auch zu einem entsprechenden Umgang mit uns selbst. Wir<br />
sind mehr, als wir sehen; zumal dann, wenn wir nur Krankheit, Lebensüberdruss und Angst wahrnehmen.<br />
Wer sich aus Krankheit, Lebensüberdruss oder Angst das Leben nimmt, engt sich auf die<br />
Verzweiflung ein, die er spürt. Und wer jemandem dabei hilft, folgt dessen verzweifelter Selbstwahrnehmung,<br />
statt ihm eine erweiterte Perspektive zu ermöglichen.<br />
Von Bischof em. Heinz Josef Algermissen, Fulda<br />
In den letzten Jahren nahm die Aktivität<br />
von Vereinen und Einzelpersonen<br />
zu, den Sterbewilligen<br />
Hilfsdienste beim Suizid anzubieten.<br />
Sie besorgen tödliche Substanzen, geben<br />
Hinweise zur Einnahme und bleiben<br />
gelegentlich auch bei der Selbsttötung<br />
zugegen. Manche stellen dafür<br />
Rechnungen wie für jede andere Dienstleistung,<br />
andere legen Wert darauf, ehrenamtlich<br />
zu handeln. Ob sie gegen das<br />
Recht verstoßen, war bislang nicht klar.<br />
Wenn ich mich in diesem Kontext<br />
kritisch in die Debatte einbringe, so<br />
hat das auch zwei Gründe:<br />
• Einerseits scheint mir die Würde des<br />
Sterbenden noch immer nicht klar<br />
genug herausgestellt zu werden.<br />
• Andererseits glaube ich, die Diskussion<br />
braucht mehr Weite. Ob Menschen<br />
bei nachlassenden Kräften den<br />
Wunsch haben, sich das Leben zu<br />
nehmen oder nicht, hängt wesentlich<br />
davon ab, ob sie überhaupt ein<br />
Verhältnis dazu gefunden haben, dass<br />
wir endliche und zerbrechliche Wesen<br />
sind. Eine Gesellschaft, die nur<br />
auf Aktivität und Leistung setzt, wird<br />
unmenschlich. Es bedarf einer neuen<br />
Kultur des Geschehenlassens.<br />
Um diese beiden Aspekte soll es im Folgenden<br />
gehen.<br />
Zunächst zur Würde des Sterbenden:<br />
Was ist Würde? Unser Grundgesetz<br />
spricht zwar von der »Würde des Menschen«<br />
(Art. 1, Abs. 1 GG), sagt aber<br />
nicht, was es darunter versteht. Viele von<br />
uns füllen daher den Begriff je nach Situation<br />
anders. Und tatsächlich bedeutet<br />
es Grundverschiedenes, wenn man zum<br />
Beispiel von einem »würdevollen Requiem«,<br />
einer »Würde des Amtes« oder<br />
der »Menschenwürde« spricht. Diese<br />
Begriffsunschärfe ist problematisch. Ich<br />
glaube, wir kommen nicht umhin, klar<br />
zur Sprache zu bringen, was wir unter<br />
Würde verstehen wollen. In Übereinstimmung<br />
mit einer großen abendländischen<br />
Tradition sage ich daher:<br />
Würde zu besitzen heißt, man darf<br />
niemals zu einem »Objekt, zu einem<br />
bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe<br />
herabgewürdigt« werden [Dürig, Günter<br />
(1956), Der Grundrechtssatz von der<br />
Menschenwürde. In: Archiv für öffentliches<br />
Recht, 81. Jg., 118-157].<br />
Als Arbeitnehmer oder Konsumenten<br />
sind wir durch andere vertretbar. Wir<br />
sind aber grundsätzlich mehr als nur<br />
Arbeitnehmer oder nur Konsumenten.<br />
Erst recht sind wir mehr als nur Patienten,<br />
die durch ihre Krankheit definiert<br />
sind. Deshalb liegt ein Verstoß gegen die<br />
Würde vor, wenn man vom »Hautkrebs<br />
auf Zimmer 12« spricht und den Mitmenschen<br />
meint, der an dieser Krankheit<br />
leidet. Aber es liegt kein Verstoß<br />
gegen die Menschenwürde vor, wenn<br />
man etwa auf der Intensivstation ein<br />
Flügelhemd tragen muss. Würde ist<br />
kein anderes Wort für gepflegtes Äußeres<br />
oder Schönheit. Auch Leid und<br />
Traurigkeit sind als solche noch kein Anschlag<br />
auf unsere Würde. Nur wo wir<br />
nicht als wir selbst behandelt werden,<br />
sondern wie eine Sache, eine Funktion<br />
oder ein Krankheitsbild, steht unsere<br />
Würde auf dem Spiel.<br />
Meine Würde verpflichtet mich freilich<br />
auch zu einem entsprechenden<br />
Umgang mit mir selbst. Ich bin mehr,<br />
als auch ich von mir sehe; zumal dann,<br />
wenn ich in mir nur Lebensüberdruss<br />
und Angst wahrnehme. Wer sich aus<br />
Krankheit, Lebensüberdruss und Angst<br />
das Leben nimmt, engt sich ein auf die<br />
Verzweiflung, die er spürt. Und wer<br />
ihm hilft sich umzubringen, folgt dessen<br />
verzweifelter Selbstwahrnehmung,<br />
statt ihm eine Öffnung der verengten<br />
Perspektive zu ermöglichen.<br />
Es kränkt die Menschenwürde massiv,<br />
wenn auf eine tödliche Verzweiflung<br />
mit der Tötung des Verzweifelten reagiert<br />
wird. Das gilt auch für die Selbsttötung,<br />
ob assistiert oder ohne fremde<br />
Hilfe vollzogen.<br />
Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich<br />
sage das nicht, um Suizidenten zu ver-<br />
24 LEBENSFORUM <strong>143</strong>
ZWISCHENRUF<br />
urteilen. Sie seien unserem liebenden<br />
Gott anempfohlen, der heilen kann,<br />
was in ihrem Leben zerbrochen wurde<br />
– von anderen oder ihnen selbst (vgl.<br />
Katechismus der Katholischen Kirche,<br />
Nr. 2283).<br />
Es geht mir auch nicht darum, den<br />
Suizid oder seinen Versuch unter Strafe<br />
zu stellen. Das Strafrecht wird keinen<br />
Verzweifelten zur Achtung der eigenen<br />
Würde bringen. Dass unser Gesetz<br />
Suizide nicht ahndet, heißt aber nicht,<br />
dass uns Selbsttötungen egal sein dürften.<br />
Wäre dem so, befänden wir uns bereits<br />
im kalten Reich der Gleichgültigkeit<br />
und Indifferenz. Eine Gesellschaft,<br />
die achselzuckend auf das Selbstbestimmungsrecht<br />
verweist, wenn sich jemand<br />
umbringt, ist nicht frei. Sie ist zynisch.<br />
Wir brauchen dagegen Signale, die uns<br />
vergewissern: Wir als Gesellschaft<br />
stehen auf der Seite des<br />
Lebens. Das umfassende Verbot<br />
jeder Suizidförderung wäre<br />
ein solches Signal.<br />
So fordere ich im Namen der<br />
Menschenwürde und der Lebensfreundlichkeit<br />
vom Gesetzgeber<br />
eine klare Absage an jede Suizidunterstützung.<br />
Es darf keinerlei<br />
Zweifel an ihrer Rechtswidrigkeit<br />
geben.<br />
Suizidwunsch und Suizidhilfe<br />
sind indes keine Themen, die sich<br />
aus heiterem Himmel ergeben.<br />
Sie erwuchsen aus dem Gesamtzusammenhang<br />
unseres Selbstbildes<br />
und Freiheitsverständnisses,<br />
unserer Träume und Ängste.<br />
Darauf will ich kurz eingehen.<br />
Wir können niemals ganz verhindern,<br />
dass Alter und Krankheit<br />
unsere Schaffenskraft beeinträchtigen<br />
und unsere Freiheitsräume<br />
verengen. Und ist es<br />
nicht naheliegend, dass jemand,<br />
der sich ein Leben lang über seine<br />
Aktivitäten definiert hat, lieber<br />
den schnellen Tod sucht, als<br />
dabei zuzuschauen, wie Krankheit<br />
und Alter nach und nach seine<br />
Tatkraft stilllegen?<br />
Die Wahrheit aber ist: Niemand verliert<br />
seine Würde, weil er mit 80 Jahren<br />
nicht mehr das vermag, was ihm<br />
mit 40 noch leichtfiel. Es ist vielmehr<br />
so, dass uns unsere Würde verbietet,<br />
uns mit dem gleichzusetzen, was wir<br />
können und leisten. Auch hier gilt: Wir<br />
sind stets mehr, als wir sehen – und erst<br />
recht, als wir tun. Ich glaube daher, es<br />
ist höchste Zeit, dass wir den einseitigen<br />
Kult des tätigen Lebens aufgeben.<br />
• Wenn es uns nicht gelingt, aus dem<br />
verengten Selbstbild der stets Aktiven,<br />
Mobilen und Unabhängigen<br />
auszubrechen,<br />
• wenn wir dem Geschehenlassen und<br />
der Bedürftigkeit nicht den Platz geben,<br />
der ihnen gebührt,<br />
• wenn wir keinen Weg finden, mit<br />
naturnotwendigen Freiheitsverlusten<br />
gelassen umzugehen,<br />
wird der Wunsch, dem Kontrollverlust<br />
bei schwerer Krankheit, beim Altern und<br />
Sterben durch Selbsttötung zu entkommen,<br />
kein Einzelphänomen bleiben.<br />
Bischof em. Heinz Josef Algermissen<br />
Der evangelische Theologe Eberhard<br />
Jüngel schreibt: »Es gibt eine Passivität,<br />
ohne die der Mensch nicht menschlich<br />
wäre. Dazu gehört, dass man geboren<br />
wird. Dazu gehört, dass man<br />
geliebt wird. Dazu gehört, dass man<br />
stirbt« [Jüngel, Eberhard (1985), Tod.<br />
Gütersloh (3. Aufl.)].<br />
Eine Kultur des Geschehenlassens<br />
verlangt aber nicht nur den ehrlicheren<br />
Blick auf uns selbst in unserer Bedürftigkeit.<br />
Sie erfordert auch strukturelle<br />
Veränderungen in der Gesellschaft.<br />
Es bleibt zwar richtig und wichtig, dass<br />
wir auf die Aktivierung alter Menschen<br />
setzen und sie in ihrer Selbständigkeit<br />
unterstützen. Darüber hinaus müssen<br />
wir aber auch Strukturen schaffen, die<br />
es erlauben, die eigene Hinfälligkeit<br />
zu bejahen. Vielleicht haben wir dafür<br />
bisher nicht genug getan. Pflegeheime<br />
und Pflegestationen beispielsweise<br />
dürfen uns nicht wie Auffanglager erscheinen.<br />
Sie müssen »Heiligtümer der<br />
Humanität« sein, wie Papst Franziskus<br />
sagt, Orte ganzen und guten Menschseins;<br />
Orte, an denen noch Entscheidendes<br />
passieren kann. Das<br />
haben gerade auch die Seelsorgerinnen<br />
und Seelsorger wahrzunehmen<br />
und zu unterstützen.<br />
Zugegeben: Gute Pflege ist<br />
teuer. Aber wenn wir an ihr sparen,<br />
müssen wir uns nicht wundern,<br />
wenn die Kultur des Todes<br />
weiter um sich greift.<br />
Wer, wenn nicht wir, sollte<br />
die Letztverfügung des Menschen<br />
über sich selbst eindeutig<br />
zurückweisen und sich klar<br />
auf die Seite des Lebens stellen?<br />
Wer, wenn nicht wir, sollte den<br />
ganzen Menschen bejahen, auch<br />
seine Begrenztheit?<br />
Weil das Leben ein Geschenk<br />
Gottes ist, hat kein Mensch das<br />
Recht, über seinen eigenen Tod<br />
zu verfügen. Das geschenkte Leben<br />
bis zu seinem Ende zu leben<br />
und auch das Sterben, ist<br />
Ausdruck der wahren Selbstbestimmung<br />
des Menschen. Lassen<br />
Sie uns unter allen Umständen<br />
dafür eintreten. Und für eine<br />
neue Kultur des Geschehenlassens.<br />
Wir glauben nämlich,<br />
dass wir nicht ver-enden werden,<br />
nur weil unsere Kraft zur<br />
Selbstbestimmung endet. Wir glauben,<br />
wir müssen nicht alles selbst vollbringen,<br />
was uns ausmacht. Und wir glauben,<br />
das letzte Wort über uns sprechen<br />
nicht wir. Es spricht die Liebe<br />
Gottes.<br />
LEBENSFORUM <strong>143</strong><br />
25
GESELLSCHAFT<br />
JULIA STEINBRECHT/KNA<br />
Warten auf ein<br />
Machtwort<br />
Die Präsidentin des Zentralkomitees der Katholiken in Deutschland steht unter Druck.<br />
In den katholischen Verbänden grummelt es, Stetter-Karp selbst sieht sich »Beleidigungen<br />
und Beschuldigungen« ausgesetzt, per Unterschriftenkampagne wird<br />
ihr Rücktritt gefordert. Und das aus gutem Grund.<br />
Von Cornelia Kaminski<br />
In einem Beitrag für »Christ und<br />
Welt«, der in der Wochenzeitung<br />
»Die Zeit« erschienen ist – immerhin<br />
eine der auflagenstärksten und<br />
einflussreichsten deutschen Zeitungen<br />
–, hat Irme Stetter-Karp betont, es<br />
sei »sicherzustellen, dass der medizinische<br />
Eingriff eines Schwangerschaftsabbruchs<br />
flächendeckend ermöglicht<br />
wird«. Diese flächendeckende Verfügbarkeit<br />
von Abtreibungen gebe es derzeit<br />
nicht, weil insbesondere im ländlichen<br />
Raum – unabhängig von seiner<br />
konfessionellen Prägung – die gynäkologische<br />
Versorgung fehle, weswegen<br />
ein Nachdenken darüber nötig sei, wie<br />
man dieses Angebot sicherstellen könne.<br />
Das umfasse auch die Schulung von<br />
Ärzten in der Ausbildung. Das sind ein<br />
paar steile Aussagen von der Präsidentin<br />
eines Komitees, das für sich in An-<br />
26 LEBENSFORUM <strong>143</strong>
GESELLSCHAFT<br />
spruch nimmt, die Anliegen der Katholiken<br />
in der Öffentlichkeit zu vertreten.<br />
Schauen wir zunächst auf das, was<br />
an ihren Aussagen stimmt. Tatsache<br />
ist: In Deutschland herrscht tatsächlich<br />
ein Mangel an Fachärzten für Frauenheilkunde.<br />
Das zeigt sich insbesondere<br />
an der Zahl der geburtshilflichen<br />
Einrichtungen. In Deutschland gibt es<br />
noch knapp 650 Geburtshilfen – das ist<br />
ein Rückgang um über 40 Prozent seit<br />
1991. Die Zahl der Geburten ging im<br />
selben Zeitraum jedoch lediglich um<br />
fünf Prozent zurück und lag 2021 bei<br />
795.000. Dem stehen ca. 95.000 Abtreibungen<br />
gegenüber, die in über 1.000 Abtreibungseinrichtungen<br />
in Deutschland<br />
durchgeführt werden können.<br />
Wo besteht also wirklich ein Mangel?<br />
Geburten lassen sich nicht terminieren,<br />
Abtreibungen schon. Für eine<br />
hochschwangere Frau und ihr ungeborenes<br />
Kind ist es ein erhebliches Risiko,<br />
weite Wege zum Kreißsaal zurücklegen<br />
zu müssen. Ist eine Fahrt von 100 Kilometern<br />
in die nächste Abtreibungseinrichtung<br />
wirklich eine Zumutung für eine<br />
Frau, die ohnehin vermutlich lieber<br />
nicht beim Frauenarzt um die Ecke abtreibt?<br />
Wer Familienpolitik betreiben<br />
und sich für Frauengesundheit starkmachen<br />
möchte, der stärkt die Geburtshilfe.<br />
Wie kommt also Frau Stetter-Karp,<br />
promovierte Sozialwissenschaftlerin, deren<br />
Mutter zwölf Kinder geboren hat,<br />
dazu, diese Fakten zu ignorieren und<br />
stattdessen lieber das Narrativ der Abtreibungslobby<br />
zu bedienen?<br />
Auch an anderer Stelle betet Stetter-<br />
Karp unreflektiert Aussagen der Abtreibungsbefürworter<br />
nach, die keiner Überprüfung<br />
standhalten. Etwa die Behauptung,<br />
in Ländern mit restriktiver Abtreibungsgesetzgebung<br />
gäbe es besonders<br />
viele illegale Abtreibungen. Dabei<br />
wissen wir, dass das Gegenteil der Fall<br />
ist. Beispiel USA: Hier verdoppelten<br />
sich nach dem Grundsatzurteil »Roe vs.<br />
Wade«, das Abtreibungen erlaubte, die<br />
Zahlen innerhalb von sieben Jahren. In<br />
allen Ländern, in denen Abtreibungen<br />
legalisiert wurden, führte dies zu einer<br />
Zunahme der Abtreibungen, und nicht<br />
zu einer Abnahme. Was ja auch völlig<br />
logisch ist. Wäre es anders, so wäre der<br />
Gesetzgeber gut beraten, Steuerhinterziehungen<br />
zu erlauben, um deren Häufigkeit<br />
einzudämmen.<br />
Besonders absurd ist jedoch Frau<br />
Dr. Stetter-Karps Forderung, zur Sicherung<br />
der Versorgung mit flächendeckenden<br />
Abtreibungseinrichtungen<br />
sei es notwendig, dass Ärzte im Rahmen<br />
ihrer Ausbildung das Handwerk<br />
der vorgeburtlichen Kindstötung erlernen<br />
sollten.<br />
Eine solche Forderung ließe sich nur<br />
umsetzen, wenn gleichzeitig für diese<br />
Ärzte die Gewissens- und Religionsfreiheit<br />
nicht mehr gelten würde. Wir<br />
sehen: Wenn das Grundrecht auf Leben<br />
einem Teil der Bevölkerung aberkannt<br />
wird, dann büßen eben andere<br />
Menschen ebenfalls ihre Grundrechte<br />
ein. Auch das ist nur folgerichtig: Das<br />
Recht auf Leben ist das erste und grundlegendste<br />
aller Menschenrechte. Wenn<br />
dies einzelnen Bevölkerungsgruppen<br />
abgesprochen werden kann – und zwar<br />
einzig und allein, weil es anderen Menschen<br />
einen Vorteil verschafft –, stehen<br />
alle anderen Menschenrechte ebenfalls<br />
zur Disposition.<br />
Dass dies zum Plan gehört, erkennen<br />
wir an den Vorhaben der Ampelkoalition,<br />
deren Koalitionsvertrag explizit<br />
vorsieht, Gebetswachen vor Abtreibungskliniken<br />
zu verbieten – das ist<br />
nicht nur das Ende der Religionsfreiheit,<br />
sondern auch der Meinungsfreiheit und<br />
der Demonstrationsfreiheit im öffentlichen<br />
Raum. Glaube nur niemand, dass<br />
er von diesen Grundrechtseinschränkungen<br />
unbetroffen bleiben wird!<br />
Sah eine Grenze überschritten und wandte sich mit einen Offenen Brief an die<br />
Deutsche Bischofskonferenz: Die Initiative Maria 1.0<br />
Was es in dieser Situation in Deutschland<br />
gebraucht hätte, wäre eine starke,<br />
katholische Stimme, die diese Menschenrechte<br />
gegenüber einer übergriffigen<br />
Regierung mutig verteidigt. Was<br />
es überhaupt nicht braucht, ist eine Präsidentin<br />
des Zentralkomitees deutscher<br />
Katholiken, die sich vor dieser Regierung<br />
in den Staub wirft und nicht bereit<br />
ist, sich aus diesem wieder zu erheben<br />
– trotz eindeutiger und, wie aus einer<br />
Stellungnahme des Generalsekretärs<br />
des ZdK auch bekannt ist, zahlreicher<br />
entsprechender Aufforderungen.<br />
Wie konnte es dazu kommen, dass die<br />
oberste deutsche Laienkatholikin sich<br />
dermaßen auf die schiefe Bahn begeben<br />
hat? Stetter-Karp war ebenso wie Rita<br />
Süßmuth 1999 Mitgründerin von »Donum<br />
Vitae«. Dieser Verein, so Stetter-<br />
LEBENSFORUM <strong>143</strong><br />
27
GESELLSCHAFT<br />
Karp, habe damals dafür sorgen wollen,<br />
»das katholische Profil im System<br />
der staatlich anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungen<br />
zu erhalten«.<br />
Donum Vitae hat damit vor über<br />
20 Jahren einen Weg beschritten, von<br />
dem viele Lebensrechtler damals sagten,<br />
dass er in die Irre führen werde.<br />
Heute zeigt sich, wie Recht sie damit<br />
hatten. Wer meint, er könne an einem<br />
System mitwirken, das millionenfache<br />
vorgeburtliche Kindstötungen ermöglicht,<br />
macht sich nicht nur die Hände<br />
schmutzig. Er wird schließlich Teil dieses<br />
Systems und übernimmt seine Sprache,<br />
sein Narrativ, seine Ideologie. Anders<br />
geht es nicht. Und so haben wir heute<br />
mit Prof. Rita Süßmuth eine ehemalige<br />
Vizepräsidentin des Familienbundes<br />
deutscher Katholiken, die eine Laudatio<br />
auf Deutschlands bekannteste Abtreibungsärztin<br />
Kristina Hänel hält,<br />
und mit Dr. Stetter-Karp eine oberste<br />
deutsche Laienkatholikin, die die Lügen<br />
der Abtreibungslobby nachbetet:<br />
Es gebe eine unzureichende Versorgung<br />
mit Abtreibungseinrichtungen,<br />
das Werbeverbot für Abtreibung habe<br />
mit dem Schutz des ungeborenen<br />
Lebens nichts zu tun, und wenn Ärzte<br />
erst allesamt schon in der Ausbildung<br />
lernten, wie man vorgeburtlich Kinder<br />
tötet, könnten Frauen in Deutschland<br />
endlich selbstbestimmt über ihre Körper<br />
verfügen.<br />
Weit über 4.000 Unterschriften: Petition fordert den Rücktritt von Stetter-Karp<br />
Wie schizophren man dabei werden<br />
kann, wenn man sich von diesem Lügennetz<br />
einfangen lässt, zeigen Behauptungen<br />
wie diese: »Auch wenn das ein<br />
Widerspruch zu sein scheint: Zielorientierung<br />
und Ergebnisoffenheit zu berücksichtigen<br />
trägt dazu bei, das Recht<br />
auf Leben und das Recht auf Selbstbestimmung<br />
gleichermaßen zu garantieren.«<br />
Das scheint nicht nur ein Widerspruch<br />
zu sein, das ist einer, wie jeder,<br />
der des logischen Denkens fähig ist,<br />
unschwer erkennt. Denn das Recht auf<br />
Leben wird durch diese Regelung keinesfalls<br />
garantiert, sondern ausdrücklich<br />
zur Disposition gestellt und einem<br />
vermeintlichen Recht auf Selbstbestimmung<br />
der Mutter geopfert, das<br />
allemal Vorrang hat. Das Leben eines<br />
Kindes ließe sich ja nur schützen, wenn<br />
die Mutter selbstbestimmt »Ja« zu ihrem<br />
Kind sagen könne, so die Präsidentin<br />
weiter. Dass tausendfach Mütter<br />
keinesfalls selbstbestimmt »Ja« zu<br />
einer Abtreibung sagen, sondern dazu<br />
gedrängt werden, ignoriert sie. Dass das<br />
vermeintliche Recht auf Selbstbestimmung<br />
eine totale Lüge ist, die sich an<br />
keiner Stelle deutlicher zeigt als bei einer<br />
ungeplanten Schwangerschaft, ignoriert<br />
sie ebenfalls – gäbe es diese Selbstbestimmung<br />
über den eigenen Körper,<br />
wären die Frauen gar nicht erst schwanger<br />
geworden. Das Recht auf Selbstbestimmung<br />
ist also vielmehr das Recht<br />
auf Tötung eines anderen, ungeplanten,<br />
unerwünschten Menschen. Abtreibungen<br />
sind genau aus diesem Grund,<br />
wie das II. Vatikanum treffend formuliert,<br />
ein abscheuliches Verbrechen. Sie<br />
sind, wie Mutter Teresa bei der Verleihung<br />
des Friedensnobelpreises sagte,<br />
der größte Zerstörer des Friedens in<br />
unserer Welt.<br />
Abtreibungen zerstören das Leben<br />
der Kinder und das Gewissen der Eltern.<br />
Sie zerstören aber auch das Verantwortungsbewusstsein<br />
in unserer Gesellschaft.<br />
Mit dem Etikett der »selbstbestimmten<br />
Entscheidung« erhalten Abtreibungen<br />
quasi ein Gütesiegel. Sie sind<br />
nicht mehr der letzte Ausweg in höchster<br />
Not, sondern werden geadelt als<br />
selbstbewusster Ausdruck der autonomen<br />
Entscheidungsfähigkeit der Frau.<br />
Damit befreien Abtreibungen und alle,<br />
die dieses Narrativ nachbeten, die Gesellschaft<br />
von ihrer Verantwortung gegenüber<br />
beiden: der ungewollt Schwangeren<br />
und ihrem Kind. Der Frau wird<br />
vorgehalten, sie möge sich doch bitte<br />
selbstbestimmt und autonom verhalten,<br />
das Kind wird entmenschlicht und sämtlicher<br />
Rechte beraubt, und schon sind<br />
alle aus dem Schneider, denen man eigentlich<br />
zurufen müsste: Du bist der Vater!<br />
Kümmere dich! Ihr seid die Großeltern!<br />
Bringt euch ein!<br />
Im Falle einer Konfliktschwangerschaft<br />
müsse die letzte Entscheidung<br />
bei der Frau liegen, so Stetter-Karp.<br />
Ja, die letzte Entscheidung sollte bei<br />
der Frau liegen – allerdings deutlich<br />
vor dem Eintreten einer ungeplanten<br />
Schwangerschaft. Autonom und selbstbestimmt<br />
sollten Frauen entscheiden, ob<br />
Folge des Geschlechtsakts zum gegebe-<br />
28 LEBENSFORUM <strong>143</strong>
GESELLSCHAFT<br />
nen Zeitpunkt eventuell eine Schwangerschaft<br />
sein könnte, ob in dem Fall<br />
ihr Sexualpartner auch als Kindsvater<br />
taugt, ob die Beziehung tragfähig ist<br />
und Kinder darin willkommen sind,<br />
ob sie mit der Konsequenz einer ungeplanten<br />
oder unerwünschten Schwangerschaft<br />
auf verantwortungsvolle, lebensbejahende<br />
Weise umgehen könnte.<br />
Es ist, um es einmal ganz deutlich zu<br />
sagen, erbärmlich, was für ein Frauenbild<br />
sich in den Einlassungen Stetter-<br />
Karps zeigt: nämlich genau das Gegenteil<br />
einer selbstbestimmten, sich ihres<br />
eigenen Wertes bewussten Frau. Zum<br />
Narrativ des Rechts auf reproduktive<br />
Selbstbestimmung gehört eben auch,<br />
dass die gesamte Entstehungsgeschichte<br />
der Konfliktschwangerschaft darin nicht<br />
vorkommt. Wären Frauen so selbstbestimmt<br />
und selbstbewusst, wie dieses<br />
Narrativ uns glauben machen möchte,<br />
würden sie ihren Körper schützen, den<br />
Sexualpartnern Grenzen aufzeigen und<br />
deren Verantwortung einfordern. Darin<br />
sollten Frauen bestärkt werden. Für<br />
diese Haltung brauchen Frauen Ermutigung<br />
und Zuspruch. Wer Frauenrechte<br />
dagegen hauptsächlich dann respektiert,<br />
wenn er sich damit seiner eigenen<br />
Verantwortung elegant entledigen kann,<br />
wer dafür dann Leben zerstört und Frauen<br />
traumatisiert, der respektiert Frauen<br />
nicht. Der verachtet sie im Grunde genommen.<br />
Mit Verlaub, von einer Frau<br />
an der Spitze des Zentralkomitees deutscher<br />
Katholiken hätte ich eine solche<br />
Respektlosigkeit nicht erwartet.<br />
Womit wir auch bei der Frage wären,<br />
ob jemand, der sich auf diese Weise<br />
öffentlich positioniert, überhaupt<br />
noch als katholisch bezeichnet werden<br />
kann. Der unbedingte Schutz jeglichen<br />
menschlichen Lebens ist integraler Bestandteil<br />
der katholischen Lehre. Nichts,<br />
aber auch gar nichts an ihr macht Sinn,<br />
wenn dieser Grundsatz fällt: Du darfst<br />
nicht töten. Jede Relativierung dieses<br />
Grundsatzes stößt wie Dominosteine<br />
alle anderen Grundregeln des christlichen<br />
Miteinanders, der Beziehung zwischen<br />
Gott und den Menschen um. Hier<br />
darf es kein »Ja, aber«, keine wie auch<br />
immer geartete Ausnahme geben. Gott<br />
hat jeden Einzelnen von uns ins Leben<br />
gerufen, jeder Einzelne von uns ist Teil<br />
seines Heilsplans. Wer aber meint, ungeborene<br />
Kinder beseitigen zu können,<br />
HARALD OPPITZ/KNA<br />
erhebt sich über diesen Plan und teilt<br />
dem Schöpfer auf unendlich überhebliche<br />
Weise mit: Dieses Kind war unnötig,<br />
passte nicht in den Plan der Eltern,<br />
lass uns das mal anders lösen. Es<br />
interessiert mich nicht, was du mit dem<br />
Kind vorhattest. Jedes Kind, das geboren<br />
wird, sendet die Botschaft Gottes<br />
in die Welt, dass es Hoffnung und Zukunft<br />
für die Menschheit gibt. Mit jedem<br />
Kind, das wir vorgeburtlich töten,<br />
zerstören wir somit auch einen Teil dieser<br />
Zukunftshoffnung für uns selbst.<br />
Katholisch ist es daher vielmehr, diese<br />
Annahme zugrunde zu legen und zu<br />
fragen: Was ist meine Aufgabe in diesem<br />
Plan, und zwar genau jetzt, ganz<br />
konkret, bei der unglücklich-ungewollt<br />
schwangeren Frau? Was soll ich tun,<br />
um den Knoten zu lösen, das Leben des<br />
Kindes zu retten? Zur Abtreibung raten?<br />
Bequemer ist das für die, die nicht<br />
selbst auf den OP-Tisch steigen müssen.<br />
Mit dieser Haltung dient man jedoch<br />
vor allem sich selbst. Die christliche<br />
Haltung hingegen ist die der Nächstenliebe,<br />
die auch das Kind im Mutterleib<br />
miteinschließt.<br />
Erfreulicherweise hat sich die deutsche<br />
Bischofskonferenz geäußert und<br />
mit klaren Worten von Stetter-Karps<br />
Verwirrtheiten distanziert. Es ist, wie<br />
ihr Sprecher festhielt, unsere Aufgabe,<br />
diese Verantwortung gegenüber dem<br />
ungeborenen Menschen zu erkennen<br />
und ihn durch unsere konkrete Unterstützung<br />
und Hilfe für seine Eltern<br />
bestmöglich zu schützen. Es darf niemals<br />
unser Anliegen sein, die Möglichkeiten<br />
für seine Vernichtung noch weiter<br />
auszuweiten. Diese Stellungnahme<br />
Zeigt von Einsicht bislang keine Spur: ZdK-Präsidentin Dr. Irme Stetter-Karp<br />
reicht jedoch nicht. Wer die katholische<br />
Lehre in einem so elementaren Punkt<br />
dermaßen mit Füßen tritt, hat an der<br />
Spitze ihrer Laienorganisation nichts<br />
verloren. Es ist Aufgabe der Bischöfe,<br />
unmissverständliche Orientierung zu<br />
bieten und die Gläubigen vor falschen<br />
Propheten zu schützen. Wir brauchen<br />
gerade jetzt glaubwürdige Menschen in<br />
katholischen Spitzenpositionen, die den<br />
weiteren Grausamkeiten, die der Koalitionsvertrag<br />
noch bereithält, mutig Paroli<br />
bieten. Wir brauchen niemanden,<br />
der sich an die frauen- und familienfeindlichen<br />
Vorhaben der Ampelkoalition<br />
dergestalt anbiedert, wie das ZdK<br />
es zurzeit tut.<br />
Sollte Stetter-Karp im Amt bleiben,<br />
nützt auch die wohlfeile Stellungnahme<br />
der Bischofskonferenz herzlich wenig<br />
– sie degeneriert zum Feigenblatt,<br />
und wie wenig das nützt, wissen wir seit<br />
der Vertreibung aus dem Paradies. Es<br />
ist daher höchste Zeit für ein Machtwort<br />
der deutschen Bischöfe.<br />
LEBENSFORUM <strong>143</strong><br />
29
BÜCHERFORUM<br />
Genug geschwiegen!<br />
Dieses Buch ist ein Lehr- und<br />
Studienbuch. Richtig genutzt,<br />
rettet es Leben. Nicht eines,<br />
sondern Hunderttausende. Denn es<br />
vermittelt nicht bloß die wichtigsten<br />
Gesprächstechniken und jede Menge<br />
nützliche Informationen, mit denen<br />
Lebensrechtler jede noch so brenzlige<br />
Situation und jedes noch so schwierige<br />
Gespräch über das emotional hochbelastete<br />
Thema Abtreibung meistern<br />
können. Mehr noch: In den richtigen<br />
Händen vermag es die Reihen der Abtreibungsbefürworter<br />
zu lichten und<br />
Menschen veranlassen, ins Pro-Life-<br />
Lager zu wechseln. Dieses Buch hat<br />
also das Zeug, ein echter Gamechanger<br />
zu werden.<br />
Bei all dem liest es sich leicht und<br />
beinah süffig. Mit ihm wendet sich die<br />
Lebensrechtlerin Justina van Manen an<br />
ihresgleichen. Am Canadian Centre for<br />
Bio-Ethical Reform (CCBR) ausgebildet<br />
und in zahllosen Straßeneinsätzen<br />
geschult, versteht sie es, zügig auf den<br />
Punkt zu kommen. Und so beginnt<br />
»Genug geschwiegen!« gleich mit einem<br />
Paukenschlag: »Als ich ein Teenager<br />
war, fragte mich eine Freundin:<br />
›Sam, was würdest du einem Mädchen<br />
raten, das eine Abtreibung in Betracht<br />
zieht?‹ Ich war ehrlich zu ihr. Ich habe<br />
ihr gesagt, ich wisse es nicht. Ich war<br />
damals 18 Jahre alt (…) und Abtreibungen<br />
interessierten mich nicht. Ich dachte,<br />
sie würde eine hypothetische Frage<br />
stellen. Ich habe nicht verstanden, dass<br />
sie mich um Hilfe bat. Ich wusste nicht,<br />
dass sie schwanger war. (…) Ich wusste<br />
nicht, dass ich mit meiner Antwort ein<br />
Leben hätte retten können. Ich wusste<br />
nicht, dass meine Freundin nur wenige<br />
Tage später eine Abtreibung vornehmen<br />
lassen würde.«<br />
Viele Gespräche, die Lebensrechtler<br />
mit vermeintlichen Abtreibungsbefürwortern<br />
führen, enden ergebnislos. Das<br />
muss, wie die Autorin überzeugend darlegt,<br />
aber gar nicht sein, wenn es gelingt,<br />
zunächst die Lücke zu schließen, die aus<br />
den unterschiedlichen Blickwinkeln<br />
resultiert, mit denen Abtreibungsbefürworter<br />
und -gegner auf Abtreibung<br />
schauen. Während sich Lebensrechtler<br />
auf die alles entscheidende Frage fokussierten,<br />
ob der Embryo ein Mensch<br />
sei, konzentrierten sich Gesprächspartner<br />
»häufig beinah vollständig auf die<br />
Angst, die Unsicherheit, ja sogar die<br />
Verzweiflung, die eine Frau empfinden<br />
kann, wenn sie mit einer ungewollten<br />
Schwangerschaft konfrontiert ist«. Die<br />
dadurch entstehende Lücke kann, wie<br />
van Mannen eindrucksvoll zeigt, in<br />
einem Dreischritt (Gemeinsame Basis<br />
finden, Analogien benutzten, Fragen<br />
stellen) geschlossen werden. Gegliedert<br />
ist das beeindruckende Werk in<br />
sieben Teile (Umstände, Menschenrechte,<br />
Person-Sein, Es ist mein Körper,<br />
Härtefälle, Abtreibungsverfahren, Die<br />
richtige Perspektive). Jeder Teil enthält<br />
eine Zusammenfassung, praktische<br />
Übungen und weitergehende Literaturempfehlungen.<br />
Ermöglicht haben die<br />
Herausgabe der deutschen Ausgabe die<br />
»Stiftung Ja zum Leben« und der Verein<br />
»ProLife Europe«. Ein Muss für jeden<br />
Lebensrechtler.<br />
Stefan Rehder<br />
Justina van Manen: Genug geschwiegen!<br />
Schwierigen Abtreibungsfragen<br />
selbstsicher begegnen. Aus dem Englischen<br />
von Bernhard Weiskirch. Bernadus-Verlag,<br />
Aachen <strong>2022</strong>. Kartoniert.<br />
262 Seiten. 15,00 EUR.<br />
Babyschlaf<br />
Die Autorin ist praktizierende Ärztin, seit 30 Jahren<br />
mit der Kinderheilkunde befasst und arbeitet am<br />
Kinderzentrum München in der »Münchner Sprechstunde<br />
für Schreibabys«. Aus ihrer langjährigen Erfahrung<br />
weiß sie, Schlafprobleme betreffen heute<br />
jedes vierte Kind und sind ein heißes Eisen in der Beratung<br />
von Eltern. Übermüdete Eltern wünschen sich<br />
dringend mehr und besseren Schlaf – sowohl für<br />
ihre Kinder als auch für sich selbst. Mit zahlreichen<br />
Fallbeispielen und Dialogen aus ihrer langjährigen<br />
Beratungspraxis veranschaulicht die Autorin typische<br />
Schlafprobleme, beantwortet zahlreiche Fragen<br />
und gibt Tipps für das Überwinden von Umsetzungsschwierigkeiten.<br />
Ein lesenswertes Buch voller<br />
nachvollziehbarer Handlungsempfehlungen. reh<br />
Daniela Dotzauer: Babyschlaf. Fundiertes Wissen<br />
und konkrete Handlungsvorschläge aus der Beratungspraxis.<br />
Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main<br />
<strong>2022</strong>. 209 Seiten. 29,00 EUR.<br />
30 LEBENSFORUM <strong>143</strong>
BÜCHERFORUM<br />
Entgrenzte Autonomie?<br />
Die »Essener Gespräche zum<br />
Thema Staat und Kirche« haben<br />
sich seit ihren Anfängen<br />
im Jahr 1966 zu einem europaweit viel<br />
beachteten akademischen Klassiker<br />
entwickelt. Interdisziplinär und überkonfessionell<br />
ausgerichtet, erörtert<br />
der Fachkongress stets aktuelle Fragen<br />
zum besonderen Verhältnis von Staat<br />
und Kirche. Im Jahr 2021 hätte dies der<br />
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts<br />
vom 26. Februar 2020 gelten<br />
sollen. Mit ihr erklärte bekanntlich<br />
dessen Zweiter Senat das vom Deutschen<br />
Bundestag mit großer Mehrheit<br />
im Herbst 2015 beschlossene »Verbot<br />
der geschäftsmäßigen Förderung der<br />
Selbsttötung« für verfassungswidrig<br />
und den entsprechend gefassten<br />
§ 217 StGB für nichtig. Der vorliegende<br />
Band versammelt nun jene Beiträge,<br />
die angesichts der pandemiebedingten<br />
Einschränkungen im März 2021 nicht<br />
in der gewohnten Weise in Präsenz zur<br />
Kenntnis gegeben werden konnten. In<br />
ihm legen die Autoren, namhafte Juristen,<br />
Philosophen und Theologen, die<br />
Finger in so gut wie jede der an Wunden<br />
wahrlich reichen Entscheidung<br />
des höchsten deutschen Gerichts.<br />
»Entgrenzte Autonomie? Die assistierte<br />
Selbsttötung nach der bundesverfassungsgerichtlichen<br />
Entscheidung<br />
vom 26. Februar 2020« lautet<br />
der Titel des Bandes, der Beiträge von<br />
Theo A. Boer (Groningen), Franz-Josef<br />
Bormann (Tübingen), Gunnar Duttge<br />
(Göttingen), Anna-Bettina Kaiser und<br />
Ines Reiling (Berlin), Thomas Lobinger<br />
(Heidelberg) und Gernot Sydow<br />
(Münster) enthält. Eingeleitet werden<br />
sie mit einem Vorwort des Bischofs<br />
von Essen, Franz-Josef Overbeck, und<br />
einer Einführung des Mitherausgebers<br />
Arnd Uhle (Leipzig).<br />
Grob gesagt, und genauer geht es<br />
angesichts des Umfangs des Dokumentationsbandes<br />
und des hier zur<br />
Verfügung stehenden Platzes auch<br />
nicht, erweisen die Beiträge den Autonomiebegriff<br />
des Bundesverfassungsgerichts<br />
im Ergebnis als defizitär. Das<br />
ist mehr als bloß hochnotpeinlich für<br />
die Mitglieder des Zweiten Senats. Es<br />
ist tragisch. Denn unabhängig von der<br />
Frage des Ideologieverdachts, die sich<br />
hier wie von selbst aufdrängt, muss<br />
der Gesetzgeber bei der anstehenden<br />
rechtlichen Neuregelung der Beihilfe<br />
zum Suizid diesen defizitären Autonomiebegriff<br />
zugrunde legen. Jedenfalls<br />
dann, wenn er eine »verfassungskonforme«<br />
Regelung anstrebt. Dies kommt<br />
aber de facto dem Versuch einer Quadratur<br />
des Kreises gleich.<br />
Eilige Leser werden die »Leitsätze«<br />
am Ende jedes Beitrags zu schätzen<br />
wissen, die sie zuverlässig über die Thesen<br />
und Ergebnisse des Vorangestellten<br />
informieren. Gleichwohl zeigt erst die<br />
Zusammenschau und die in den Fußnoten<br />
zitierte Literatur, wie kritikwürdig<br />
das Urteil des Zweiten Senats in<br />
Wahrheit ist, bei dem, wie der Titel des<br />
Beitrags von Thomas Lobinger »Ein<br />
Recht auf Suizid? – Zur Rechtskreation<br />
des Bundesverfassungsgerichts« nahelegt,<br />
auch gleich die Gewaltenteilung<br />
unter die Räder geriet.<br />
Stefan Rehder<br />
Arnd Uhle / Judith Wolf (Hrsg.): Entgrenzte<br />
Autonomie? Die assistierte<br />
Selbsttötung nach der bundesverfassungsgerichtlichen<br />
Entscheidung vom<br />
26. Februar 2020. Essener Gespräche<br />
zum Thema Staat und Kirche, Bd. 56.<br />
Aschendorff Verlag, Münster 2021. Kartoniert.<br />
244 Seiten. 32,90 EUR.<br />
Besser nicht geboren sein?<br />
Mussten für dieses Buch wirklich Bäume sterben?<br />
Mit rund 60,00 Euro ist das 117 Seiten schwache Plädoyer<br />
eines Geborenen dafür, nicht geboren zu werden,<br />
zumindest ein überaus kostspieliges und jede<br />
Menge Ressourcen verschwendendes Unterfangen.<br />
Dabei beruft der Autor sich auf den südafrikanischen<br />
Philosophen David Benatar, der in seinem Hauptwerk<br />
(»Better Never to Have Been«) die erstaunliche<br />
These verficht, jedes Leben sei so schlecht, dass es<br />
stets besser sei, nicht zu existieren. Das ist natürlich<br />
Unsinn. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.<br />
Denn Sein ist immer besser als Nichtsein. Oder anders<br />
formuliert: Bewerten, zumal im Sinne von »besser«<br />
oder »schlechter«, lässt sich nur, was ist. Aber<br />
niemals das, was nicht ist. Das vorliegende Buch<br />
darf folglich getrost ignoriert werden.<br />
reh<br />
Oliver Hallich: Besser, nicht geboren zu sein? Eine<br />
Verteidigung des Anti-Natalismus. Verlag J.B. Metzler,<br />
Stuttgart <strong>2022</strong>. 117 Seiten. 59,99 EUR.<br />
LEBENSFORUM <strong>143</strong><br />
31
KURZ VOR SCHLUSS<br />
Expressis<br />
verbis<br />
Zugleich ist sicherzustellen, dass der<br />
medizinische Eingriff eines Schwangerschaftsabbruchs<br />
flächendeckend<br />
ermöglicht wird. Das ist derzeit nicht<br />
der Fall, weil insbesondere im ländlichen<br />
Raum – unabhängig von seiner<br />
konfessionellen Prägung – die gynäkologische<br />
Versorgung fehlt. Eine<br />
Reflexion darüber, wie das Angebot<br />
sichergestellt werden kann, steht an –<br />
was auch die Schulung von Ärzt*innen<br />
in der Ausbildung umfasst.«<br />
Die Präsidentin des Zentralkomitees der<br />
deutschen Katholiken, Dr. Irme Stetter-<br />
Karp, in einem Namensbeitrag für die<br />
Beilage »Christ und Welt« der Wochenzeitung<br />
»Die Zeit« (Ausg. v. 14.07.22)<br />
Tops & Flops<br />
Prof. Dr. med.<br />
Holm Schneider<br />
Der stellvertretende Bundesvorsitzende<br />
der Aktion Lebensrecht für<br />
Alle (<strong>ALfA</strong>) e.V., Prof. Dr. med. Holm<br />
Schneider, befürchtet, dass die ab 1.<br />
Juli geltende Kostenerstattung für<br />
nicht-invasive Pränataltests (NIPT)<br />
schon bald zu einer »moralischen<br />
Verpflichtung« werden könnte: »Eine<br />
STEPHAN RÖHL/CC BY SA 4.0<br />
Kristina Hänel<br />
Nach der Streichung des Werbeverbots<br />
für Abtreibungen aus dem<br />
Strafgesetzbuch hat die Ikone der<br />
Abtreibungslobby, die Gießener Abtreibungsärztin<br />
Kristina Hänel, der<br />
»Rhein-Main-Zeitung«, dem Lokalteil<br />
der »Frankfurter Allgemeinen<br />
Zeitung«, ein ausführliches Interview<br />
Die von ZdK-Präsidentin Irme Stetter-<br />
Karp vorgetragene Position zur Notwendigkeit<br />
eines flächendeckenden<br />
Angebots von Schwangerschaftsabbrüchen<br />
widerspricht der Haltung der<br />
Deutschen Bischofskonferenz. Statt einer<br />
flächendeckenden Möglichkeit für<br />
Abtreibungen brauchen wir ein flächendeckendes<br />
qualifiziertes Beratungsangebot<br />
für Frauen.«<br />
Der Pressesprecher der Deutschen Bischofskonferenz,<br />
Matthias Kopp, auf<br />
eine Anfrage des Internetportals »kath.<br />
net« am selben Tag<br />
Flächendeckend verteilt werden im<br />
ethischen Sinne kann nur ein Gut, das<br />
der Gerechtigkeit entspricht und damit<br />
dem Guten.«<br />
Prof. Dr. Katharina Westerhorstmann,<br />
Prof. Dr. Hanna-Barbara Gerl Falkovitz,<br />
Dorothea Schmidt und Prof. Dr. Marianne<br />
Schlosser in einem gemeinsamen<br />
Beitrag für die Zeitung »Die Welt« (Ausg.<br />
v. 26.07.22)<br />
Prof. Dr. med. Holm Schneider<br />
Kassenziffer für eine medizinische<br />
Leistung gilt als Qualitätsstempel. So<br />
entsteht Druck auf die Schwangere,<br />
diese Leistung auch in Anspruch zu<br />
nehmen, um sich nicht später vor der<br />
Solidargemeinschaft rechtfertigen zu<br />
müssen, wenn sie trotz früher Selektionsmöglichkeit<br />
ein Kind mit Trisomie<br />
21 (Down-Syndrom) zur Welt<br />
bringt.« Inklusionsdebatten, in denen<br />
Politiker ihre Forderung nach Diversität<br />
auch auf Menschen mit Behinderungen<br />
ausweiteten, würden durch<br />
diese Tests »als Nebelkerzen« entlarvt.<br />
»Die systematische Selektion von<br />
Menschen durch vorgeburtliche Bluttests«<br />
werde nur deswegen nicht als<br />
Eugenik gebrandmarkt, »weil sie hinter<br />
den Türen von Laboren und Abtreibungseinrichtungen<br />
geschieht«, so<br />
Schneider.<br />
reh<br />
Kristina Hänel<br />
gegeben. Auf die Frage der Redakteurin:<br />
»Spielen denn die Väter der ungeborenen<br />
Kinder in Ihrer Praxis auch<br />
eine Rolle?«, antwortet Hänel: »Also<br />
ich würde jetzt nicht den Begriff ›ungeborenes<br />
Kind‹ benutzen. Ich denke,<br />
eine Frau kann schon ab dem Moment<br />
der Empfängnis sagen: mein<br />
Kind. Sie kann das fühlen, und sie<br />
kann das auch so sagen. Aber ich finde<br />
nicht, dass es mir als Außenstehender<br />
zusteht, von einem Kind zu sprechen.<br />
Es ist medizinisch ein Embryo<br />
oder ein Fötus. Und die Frau ist noch<br />
keine Mutter, sie ist schwanger. Genauso<br />
ist der Mann noch kein Vater.<br />
Dazu wird er erst, wenn die Frau sich<br />
entscheidet, auszutragen. Andernfalls<br />
wird er nicht Vater.« Ein Niederrheiner<br />
würde das wohl so kommentieren:<br />
»Weisse Bescheid.« reh<br />
32 LEBENSFORUM <strong>143</strong>
KURZ VOR SCHLUSS<br />
Aus der Bibliothek<br />
»Das moralische Problem der Selbsttötung« (1942)<br />
»(…) Die Selbsttötung ist etwas sehr<br />
Besonderes. Sie ist, wie mir scheint,<br />
eine Flucht, in der der<br />
Mensch versucht, das<br />
verlorene Paradies<br />
wiederzufinden, statt<br />
den Himmel verdienen<br />
zu wollen. Der<br />
Wunsch nach dem<br />
Tod, der dem Willen<br />
entspricht, wenn<br />
die Versuchung der<br />
Selbsttötung über uns<br />
Herr wird, ist psychologisch<br />
gesehen<br />
der Wunsch nach einer<br />
Regression in den<br />
pränatalen Zustand.<br />
Verschwinden: keine<br />
Angriffsfläche mehr<br />
bieten. Stekel und andere<br />
haben uns die<br />
zutreffendste Psychologie<br />
der Selbsttötung<br />
geliefert: Wunsch nach<br />
dem Abgrund, nach der Mutter, nach<br />
der Rückkehr. Der ganze Vorgang wäre<br />
in Freud’schen Termini zu beschreiben.<br />
Theologisch gesehen handelt es<br />
sich in Wahrheit um eine vage Illusion<br />
der Rückkehr ins Paradies. Die rousseauitisch-werthersche<br />
Selbsttötung<br />
geht sogar mit einer Bewusstwerdung<br />
dieser dunklen Motivation einher. In<br />
dieser Hinsicht ließen sich merkwürdige<br />
Texte von Goethe, Sémancourt,<br />
Amiens und anderen<br />
anführen. Christus<br />
leitet uns durch<br />
Mühsal und Leid zu<br />
einem höheren Licht.<br />
Der Gott oder vielmehr<br />
die Göttin der<br />
Selbsttötung stürzt<br />
uns in den finsteren<br />
Schoß der Mutter. In<br />
diesem Sinn ist die<br />
Selbsttötung ein Infantilismus.<br />
Sein regressiver<br />
Charakter<br />
schließt jeden Vergleich<br />
zwischen der<br />
Selbsttötung und dem<br />
normalen Kampf des<br />
Menschen gegen das<br />
Leiden aus. Es ist das<br />
Versagen aller anderen<br />
Mittel, das in den<br />
meisten Fällen zur<br />
Selbsttötung führt, eine universelle Erfahrung<br />
der Ohnmacht. (…)«<br />
Paul Ludwig Landsberg: Das moralische<br />
Problem der Selbsttötung. Aus<br />
dem Französischen von Eva Moldenhauer.<br />
Hrsg. v. Eduard Zwierlein. Verlag<br />
Matthes & Seitz, Berlin 2017. Klappbroschur.<br />
130 Seiten. 14,00 EUR.<br />
»Die Welt. Die von morgen« (56)<br />
NATALIA SINJUSHINA/STOCK.ADOBE.COM<br />
Kurz & bündig<br />
Forscher züchten<br />
Mäuse-Embryonen<br />
aus Stammzellen<br />
Rehovot (<strong>ALfA</strong>). Israelischen Forschern<br />
um Jacob Hanna vom<br />
Weizmann Institute of Science in<br />
Rehovot ist es gelungen, Mäuse-<br />
Embryonen ohne Befruchtung einer<br />
Eizelle aus Stammzellen zu<br />
züchten. Anschließend hätten<br />
sich die Mäuse-Embryonen in einem<br />
Bioreaktor bis ins Stadium<br />
der Organbildung entwickelt. Das<br />
berichten die Forscher in der aktuellen<br />
Ausgabe der Fachzeitschrift<br />
»Cell«. Wie die Forscher schreiben,<br />
wollten sie herausfinden, wie<br />
sich Stammzellen zu verschiedenen<br />
Organen entwickeln. Eines Tages<br />
könne es so möglich werden,<br />
mit künstlichen Embryo-Modellen<br />
des Menschen Organe und Gewebe<br />
für die Transplantationsmedizin<br />
zu züchten.<br />
reh<br />
GLOSSE<br />
In der Welt von morgen gibt es kein<br />
Zentralkomitee der deutschen Katholiken<br />
(ZdK) mehr. Ein Handbuch<br />
für Kirchengeschichte vermerkt als<br />
Grund für das Aus (unter einem Datum<br />
aus der Welt von gestern) dazu<br />
knapp: »Fusion mit ›Bündnis für sexuelle<br />
Selbstbestimmung‹« sowie »letzte<br />
Präsidentin: Dr. Irme Stetter-Karp«.<br />
Unterdessen fordert das »Bündnis<br />
für sexuelle Selbstbestimmung«, Ärzten,<br />
die in der medizinischen Versorgung<br />
von Schwangeren tätig seien,<br />
das Recht auf Gewissensfreiheit abzusprechen.<br />
Nur so lasse sich – unabhängig<br />
von der »konfessionellen<br />
Prägung« ländlicher Räume – eine flächendecke<br />
Versorgung abtreibungswilliger<br />
Schwangerer »sicherstellen«.<br />
Auch sei es nicht länger hinnehmbar,<br />
dass Abtreibungsärzte »sozial ausgegrenzt«<br />
würden. So sei es ein »echter<br />
Skandal«, wenn Ärzte, die Abtreibungen<br />
vornehmen, in Dorfschenken<br />
bisweilen »gar nicht bedient« würden<br />
oder aber ihr Feierabendbier allein<br />
»am Katzentisch« trinken müssten.<br />
Eine Ärztin habe sich sogar von<br />
ihrer eigenen Tochter fragen lassen<br />
müssen: »Ernsthaft, Mama? Du tötest<br />
Babys?« Hier seien Kitas und Schulen<br />
gefordert. Der Weg zu einer »toleranten<br />
Gesellschaft« nach dem Motto<br />
»Leben und leben lassen« sei eben<br />
doch noch sehr weit.<br />
Stefan Rehder<br />
LEBENSFORUM <strong>143</strong><br />
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IMPRESSUM<br />
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LEBENSFORUM<br />
Ausgabe Nr. <strong>143</strong>, 3. Quartal <strong>2022</strong><br />
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