FOCUS_2022-40_Vorschau
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AUSGABE <strong>40</strong> 1. Oktober <strong>2022</strong> € 4,90 EUROPEAN MAGAZINE AWARD WINNER <strong>2022</strong> POLITICS & SOCIETY /// INFOGRAPHIC<br />
Olaf<br />
Scholz<br />
Wie der Kanzler<br />
im Ausland die<br />
Probleme daheim<br />
zu lösen sucht<br />
DER PIPELINE-KRIMI<br />
UND GAZPROM<br />
PUTINS<br />
Shirin<br />
Neshat<br />
Wie gefährlich<br />
werden die Proteste<br />
für das Regime<br />
in Teheran?<br />
Wolfgang<br />
Tillmans<br />
Wie der deutsche<br />
Fotograf in<br />
New York zum<br />
Weltkünstler wird<br />
MACHT-<br />
MASCHINE
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E-PAPER LESEN:
EDITORIAL<br />
Rasender Stillstand in Berlin<br />
Von Robert Schneider, Chefredakteur<br />
Fo t o : P e t e r R i g a u d f ü r F O C U S - M a g a z i n<br />
Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
beim Blick auf Politik in diesen Tagen kann<br />
man zwei sehr gegensätzliche Beobachtungen<br />
machen. Zum einen scheint sie zu<br />
rasen: Man wähnt den Kanzler noch in<br />
Katar, da ist Olaf Scholz schon mit Corona<br />
in der Dienstwohnung im Kanzleramt isoliert.<br />
An der Konferenz mit den Ministerpräsidenten<br />
zur Energiekrise am Mittwoch<br />
werde er per Video teilnehmen, heißt es<br />
am Montag, bevor das Treffen am Dienstag<br />
dann abgesagt wird – wegen Corona<br />
des Kanzlers. Ein anderes Beispiel: Der<br />
Wirtschaftsminister beschimpft am Mittwoch<br />
vergangener Woche im Bundestag<br />
in einem wilden Auftritt die Opposition,<br />
weil sie das Aus für die vermurkste Gasumlage<br />
fordert. Am selben Tag verschickt<br />
Robert Habecks Haus einen Vermerk mit<br />
verfassungsrechtlichen Bedenken gegen<br />
die Gasumlage.<br />
Oder auch: Habeck verkündet am<br />
Dienstag den voraussichtlichen Weiterbetrieb<br />
von zwei Atomkraftwerken über<br />
den 31. Dezember hinaus, den er in der<br />
Woche zuvor noch strikt abgelehnt hatte.<br />
Und so schnell wie CDU-Chef Friedrich<br />
Merz hat sich schon lange kein Politiker<br />
mehr selbst widersprochen; für den<br />
von ihm am Montagabend behaupteten<br />
Sozialtourismus ukrainischer Flüchtlinge<br />
waren am Dienstagmorgen doch keine<br />
Belege zu finden.<br />
Kommen wir zur zweiten Beobachtung:<br />
Der politische Betrieb rast, aber es geschieht<br />
in Wahrheit nichts oder wenig.<br />
Mir fällt dazu ein Begriff des bekannten<br />
französischen Philosophen Paul Virilio<br />
ein: „Rasender Stillstand“ als Endstadium<br />
stetiger Beschleunigung. Dem Publikum<br />
wird zunehmend schwindelig. Während<br />
der Kanzler stoisch daran festhält, dass<br />
seine Regierung das Land gut durch<br />
Herbst und Winter bringen werde, raunt<br />
sein Wirtschaftsminister zur Lage der<br />
deutschen Volkswirtschaft: „Teils ist es<br />
erst ein Schwelbrand, teils brennt schon<br />
die Hütte.“ In jedem Fall aber sei „die<br />
Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft in<br />
Gefahr“, Dauerschäden drohten.<br />
Jobs, Wachstum und Wohlstand<br />
stehen auf dem Spiel, doch die Koalition<br />
vertagt täglich die notwendi-<br />
gen Entscheidungen, wie die über eine<br />
Alternative für die inzwischen ja von allen<br />
für unbrauchbar gehaltene Gasumlage,<br />
die aber an diesem Wochenende in Kraft<br />
tritt, wenn nicht noch ein Ampelwunder<br />
geschieht. Und Habeck philosophiert weiter<br />
darüber, dass Deutschland kein Strommengenproblem<br />
habe, sondern lediglich<br />
„ein Netzstabilitätsproblem“ – ausgelöst<br />
freilich durch den zu erwartenden Ausfall<br />
von Stromlieferungen aus französischen<br />
AKWs. Wirklich kein Mengenproblem?<br />
Möglicherweise haben doch die recht,<br />
die da sagen: Wer den Strompreis senken<br />
will, muss das Stromangebot erhöhen.<br />
Jedenfalls haben sie die Gesetze der<br />
Marktwirtschaft auf ihrer Seite. Dasselbe<br />
gilt auch für den Gaspreis sowie für<br />
Benzin. Wenn es gelänge, die dramatisch<br />
hohen Energiepreise zu deckeln und dann<br />
zu senken, könnte sich die Regierung ihre<br />
komplizierten und hochbürokratischen<br />
Entlastungsprogramme schenken, die<br />
schon deshalb verpuffen, weil sie kaum<br />
einer noch überschaut. Und deswegen<br />
bewirken sie auch nicht bei Mittelstand<br />
und Bürgern wieder mehr Zuversicht –<br />
eine der wichtigsten Voraussetzungen für<br />
eine Besserung der ökonomischen Situation.<br />
Kein Wunder, dass die Konsumstimmung<br />
der Deutschen auf den niedrigsten<br />
jemals gemessenen Stand gesunken ist.<br />
Aufhorchen ließ in dieser Woche ein<br />
Vorschlag des bayerischen Ministerpräsidenten<br />
Markus Söder. So wie die damalige<br />
Kanzlerin Angela Merkel und ihr Finanz-<br />
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minister Peer Steinbrück in der Finanzkrise<br />
die Sicherheit der Sparkonten verbürgt<br />
hatten, müssten Scholz, Habeck<br />
und Finanzminister Christian Lindner eine<br />
Energiepreis-Garantie geben. Nur wenn<br />
Bürger und Wirtschaft die Gewissheit<br />
hätten, dass Gas-, Strom- und Spritpreise<br />
vom Staat abgefedert würden, könnte eine<br />
Katastrophe noch abgewendet werden.<br />
Daran ist richtig, dass die Wirtschaft erst<br />
wieder kalkulieren kann, wenn sie in etwa<br />
weiß, wie hoch die Energierechnung ausfällt.<br />
Und auch die Bürger brauchen für<br />
Anschaffungen, Urlaub oder Weihnachtsgeschenke<br />
Gewissheit darüber, was sie<br />
sich noch leisten können.<br />
Zu Söders Überlebenskonzept für das<br />
Land gehört die staatliche Deckelung der<br />
Strom-, Gas- und Benzinpreise, aber auch<br />
eine massive Ausweitung des Energieangebots<br />
durch Weiterbetrieb der drei Atomkraftwerke<br />
sowie die Wiederinbetriebnahme<br />
drei weiterer, bereits abgeschalteter<br />
Kernkraftwerke, das Wiederanfahren aller<br />
vom Netz gegangenen Kohlekraftwerke<br />
(statt wie bislang nur zwei von insgesamt<br />
18) und die Beschaffung zusätzlicher Gasmengen.<br />
Über Stadtwerke und soziale<br />
Einrichtungen will er staatliche Schutzschirme<br />
aufspannen.<br />
Im Prinzip folgt das Konzept aus München<br />
der Logik der Rettungspläne und<br />
Auffangnetze der Corona-Krise. Ich bin<br />
weder Kanzler, Wirtschaftsminister noch<br />
Wirtschaftsweiser und kann deshalb nicht<br />
beurteilen, ob jeder einzelne Punkt funktionieren<br />
würde. Und ja: Der Söder-Plan<br />
würde den Steuerzahler enorm viel Geld<br />
kosten. Denn Preisdeckel bedeuten, dass<br />
der Staat den Verbrauchern eine Preisobergrenze<br />
zusichert und für die Differenz<br />
zum Marktpreis aufkommt oder einen<br />
prozentualen Anteil an den Energierechnungen<br />
übernimmt. Aber es wäre ein Big<br />
Bang gegen die vielleicht größte Krise der<br />
Bundesrepublik Deutschland seit ihrer<br />
Gründung. Und wir brauchen nach meiner<br />
Überzeugung jetzt einen Big Bang; mit<br />
Knallfröschen à la Gasumlage kommen<br />
wir nicht weiter.<br />
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<strong>FOCUS</strong> <strong>40</strong>/<strong>2022</strong> 3
Eis am Ende<br />
Michael Kneissler<br />
reiste auf einem<br />
Forschungsschiff<br />
bis in die Arktis<br />
Seite 62<br />
Hinter der Erwartung<br />
Olaf Scholz ist<br />
ein Kanzler, der<br />
durch Abwesenheit<br />
auffällt. Warum?<br />
Seite 28<br />
Über den<br />
Laufsteg<br />
Wie Aelrun<br />
Goette die<br />
Modeszene der<br />
DDR in ihrem<br />
neuen Film<br />
inszeniert<br />
Seite 98<br />
Auf der<br />
Straße<br />
Im Iran bringen<br />
wütende<br />
Frauen das<br />
Regime in<br />
Bedrängnis<br />
Seite 42<br />
Endlich ganz oben<br />
Das Museum of Modern<br />
Art widmet dem<br />
deutschen Wolfgang<br />
Tillmans eine monumentale<br />
Schau<br />
Seite 22<br />
Außen ganz kross Die Croquetas von Yotam Ottolenghi Seite 106<br />
4 <strong>FOCUS</strong> <strong>40</strong>/<strong>2022</strong>
INHALT NR. <strong>40</strong> | 1. OKTOBER <strong>2022</strong><br />
Titelthema<br />
Wirtschaft<br />
54 Code für ein besseres Leben<br />
Ein früherer Filmemacher bringt Mädchen<br />
im Slum von Mumbai das Programmieren<br />
bei – und verändert damit alles<br />
72 Kranke Krankenhäuser<br />
Unser Gesundheitssystem ist nicht zukunftsfähig,<br />
meint Klinikchef Jochen Werner<br />
75 Klimaschädliche Aufforstung<br />
In Trockengebieten gibt es paradoxe Effekte<br />
Titel: action press, ddp, dpa, Getty Images (2), Cavan Images/imago images,<br />
Composing <strong>FOCUS</strong>-Magazin<br />
44 Putins Machtmaschine<br />
Die Geschichte eines Unternehmens,<br />
das im Zentrum des brutalen Wirtschaftskrieges<br />
steht. Wie der Gasgigant zur<br />
Machtbasis von Wladimir Putin wurde<br />
49 Das Gazprom-Geflecht<br />
Der Konzern ist ein weitverzweigtes Netz,<br />
das Putins Kader versorgt und dessen Fühler<br />
bis nach Deutschland reichen<br />
Agenda<br />
22 Tillmans total<br />
Wolfgang Tillmans ist der bedeutendste<br />
zeitgenössische Künstler aus Deutschland.<br />
Das MoMA ehrt ihn nun mit der größten<br />
Schau, die ein Lebender je bekommen hat<br />
58 Sauberer schweben<br />
Jüngste Erfolge von E-Flugzeugen<br />
beeindrucken. Doch als Lösung unserer<br />
Transportprobleme taugen sie noch nicht<br />
60 Geldmarkt<br />
Wissen<br />
62 Abenteuer Arktis<br />
Ein <strong>FOCUS</strong>-Reporter reist als Laienforscher<br />
an Bord der „Cape Race“ ins Nordpolarmeer,<br />
wo das Eis auch nicht mehr ewig ist<br />
68 Gefährlicher Irrglauben<br />
Pia Lamberty, Expertin für<br />
Verschwörungsideologien, warnt vor<br />
dem Hang zur Esoterik<br />
Kultur<br />
76 Sehr gefürchteter Herr Präsident<br />
Der Journalist, Schriftsteller und Abenteurer<br />
Helge Timmerberg schreibt einen<br />
offenen Brief an Wladimir Putin zu dessen<br />
70. Geburtstag am 7. Oktober<br />
82 Dichtung und Wahrheit<br />
Michael Bully Herbig verfilmt den<br />
Fälschungsskandal um den „Spiegel“-<br />
Reporter Claas Relotius – aber lässt die<br />
entscheidenden Fragen offen<br />
86 Irrungen, Wirrungen, Winkelzüge<br />
Unsere Empfehlungen der Woche<br />
führen auf Lebensabwege<br />
Leben<br />
98 Der aufrechte Gang<br />
Der Film „In einem Land, das es nicht<br />
mehr gibt“ erzählt von „Sibylle“, der<br />
legendären Modezeitschrift der DDR<br />
104 Es werde bunt<br />
Style-Ideen für einen farbenfrohen,<br />
leuchtenden und warmen Herbst<br />
Fo t o s : Andreas Chudowsk, Daniel Gebhart de Koekkoek/NYT/Redux/beide laif,<br />
Ute Mahler/Ostkreuz, ddp images, Louise Hagger, dpa<br />
Politik<br />
28 Allein im Tiefflug<br />
Olaf Scholz ist einsam dieser Tage.<br />
Er kann seine Politik nicht erklären,<br />
auf Nachfrage wird er pampig.<br />
Was will er eigentlich?<br />
34 „Kriminalität lohnt sich bei uns“<br />
Der Polizist und SPD-Politiker<br />
Sebastian Fiedler über Geldwäsche in<br />
Deutschland<br />
38 Wie Eigenheim-Träume platzen<br />
Der Präsident von „Haus & Grund“ über<br />
die Immobilienpolitik der Ampel<br />
<strong>40</strong> Politischer Datenstrudel<br />
Meta-Kritik und Söder-Hobbys<br />
42 Eine Revolution der Frauen<br />
Für die Regisseurin Shirin Neshat<br />
sind die Proteste im Iran der Anfang eines<br />
Umsturzes<br />
Hinten raus wird’s schwierig<br />
Schriftsteller Helge Timmerberg<br />
schreibt in einem Brief an Wladimir<br />
Putin über das Siebzigwerden<br />
Seite 76<br />
106 Viva España!<br />
Yotam Ottolenghi befreit Kroketten von<br />
ihrem Tiefkühlimage – auf spanische Weise<br />
108 Die Bayern-Gen-Therapie<br />
Die Nationalelf spielt immer so gut wie der<br />
FC Bayern, heißt es. Blöd für die WM, dass<br />
es bei den Münchnern gerade nicht läuft<br />
112 O’zapft is!<br />
Der BMW X1 steht jetzt auch voll unter Strom<br />
3 Editorial<br />
6 Kolumne von<br />
Jan Fleischhauer<br />
9 Nachrichten<br />
10 Fotos der Woche<br />
16 Grafik der Woche<br />
Triathlon<br />
18 Menschen<br />
74 Echt irre<br />
Rubriken<br />
87 Salon<br />
88 Bestseller<br />
88 Impressum<br />
114 Die Einflussreichen<br />
116 Leserbriefe<br />
117 Nachrufe<br />
117 Servicenummern<br />
118 Tagebuch<br />
Titelthemen sind rot markiert<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>40</strong>/<strong>2022</strong> 5
WIRTSCHAFT<br />
Der Präsident und seine Freunde<br />
Alle haben oder hatten Funktionen bei<br />
Gazprom: Matthias Warnig (v. l. o.), Dmitri<br />
Medwedew, Arkadij Rotenberg, Alexej<br />
Miller. Gerhard Schröder übernahm 2005<br />
den Aufsichtsratschef-Posten<br />
der Nord Stream AG<br />
44 <strong>FOCUS</strong> <strong>40</strong>/<strong>2022</strong>
TITEL<br />
Sabotage<br />
unter Wasser<br />
Aus den Lecks an<br />
drei Nord-Stream-Röhren<br />
steigt das Gas hoch<br />
und erzeugt einen<br />
riesigen Blasenteppich.<br />
Wer steckt hinter den<br />
Explosionen?<br />
Putins Machtmaschine<br />
Kaum ein Unternehmen ist so wichtig für den russischen Präsidenten<br />
wie Gazprom. Es dient als Druckmittel in der Außenpolitik, aber auch<br />
einer beispiellosen Selbstbedienung der Kreml-Elite<br />
TEXT VON G. DOMETEIT, C. ELFLEIN, M. ZESLAWSKI<br />
Fo t o s : d p a ( 6 ) , R E U T E R S , A P C o m p o s i n g : Fr a n z i s k a A l t m a n n f ü r F O C U S - M a g a z i n
WISSEN<br />
BLINDBLIND<br />
Grönland<br />
Nordpol<br />
Arktis<br />
Spitzbergen<br />
Kurs<br />
Nordnordost<br />
3<br />
Island<br />
1000 km<br />
NORDOST-<br />
LAND<br />
2 SPITZ-<br />
BERGEN<br />
100 km<br />
1<br />
Vorposten der<br />
Menschheit<br />
Norwegen verwaltet<br />
das Archipel nahe<br />
des Nordpols.<br />
Die Fahrt beginnt in<br />
1 Longyearbyen, der<br />
Hauptsiedlung, und führt<br />
zur 2 Forschungsstation<br />
Ny-Ålesund. Bei der<br />
3 Insel Lågøya erreicht<br />
die Crew ihren nördlichsten<br />
Punkt (80 ° 14’ N)<br />
Unter null<br />
Walrosse zählen, Plastikmüll wiegen,<br />
Plankton fischen: Ein <strong>FOCUS</strong>-Reporter<br />
schifft sich als Citizen Scientist auf einer<br />
Arktisexpedition ein. Die Tour führt<br />
in die tauende Eiszeitwelt Spitzbergens<br />
TEXT VON MICHAEL KNEISSLER<br />
62
BLINDBLIND<br />
POLARMEER<br />
Eisbergzone<br />
Rund 1000 Gletscher gibt es auf<br />
Spitzbergen. Viele reichen<br />
ins Meer und „kalben“: Ihre<br />
Eismassen brechen ab<br />
und treiben auf die See hinaus<br />
Hochseetauglich<br />
Die „Cape Race“ ist 60 Jahre<br />
alt, 38 Meter lang, 7,5 Meter<br />
breit und eisverstärkt.<br />
12 Passagiere passen an Bord<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>40</strong>/<strong>2022</strong><br />
63
KULTUR<br />
FILM<br />
Warum in die Ferne<br />
schweifen …<br />
Jonas Nay zieht es<br />
als Edelfeder Lars<br />
Bogenius vor, seine<br />
Reportagen über<br />
Krisengebiete vom<br />
Urlaubsort aus zu<br />
schreiben<br />
Dichtung und Wahrheit<br />
Wieso, weshalb, warum? In seinem neuen Film „Tausend Zeilen“ widmet sich<br />
Michael Bully Herbig dem Relotius-Skandal und weiß auf keine Frage eine Antwort<br />
Ob das alles wirklich so passiert<br />
ist? Zum Beispiel als<br />
der Journalist Juan Romero<br />
mit seinen vier Kindern Bus<br />
fährt, plötzlich die Redaktion<br />
anruft und er wie auf Bestellung<br />
in eine Kontrolle gerät:<br />
Die Fahrkarten, bitte! Ach, wo er die nur<br />
wieder hingesteckt hat? Mit dem Büro am<br />
Ohr fummelt er beim Aussteigen umständlich<br />
die Tickets hervor und merkt erst viel<br />
zu spät, dass er dabei eines der Kinder<br />
im Bus vergessen hat.<br />
So geht es ihm ständig. Als die Gattin<br />
ihn bittet, im Haushalt zu helfen, meldet<br />
sich der Ressortleiter. Als die Kinder mit<br />
ihm spielen wollen, klingelt der Kollege<br />
durch. Er könnte ja auch mal nicht ans<br />
Telefon gehen, denkt die Gattin. Aber so<br />
ist das Leben als Reporter. Man kommt<br />
einfach nicht zur Ruhe.<br />
Außer man heißt Lars Bogenius und ist<br />
Star des Nachrichtenmagazins „Chronik“.<br />
Die Kollegen schätzen den jungen Kollegen,<br />
weil er zurückhaltend, interessiert<br />
und freundlich ist. Die Chefs lieben<br />
ihn, weil er einen Journalistenpreis nach<br />
dem anderen gewinnt. So hat er es zum<br />
Beispiel geschafft, den Jungen ausfindig<br />
zu machen, der mit einem Graffito den<br />
Syrienkrieg ausgelöst hat. Ganz verrückte<br />
Geschichte!<br />
Gut gelogen ist halb gewonnen<br />
Er hat auch die Eltern von Colin Kaepernick,<br />
dem amerikanischen Footballstar<br />
und Bürgerrechtler, interviewt. Niemand<br />
sonst hat je mit denen gesprochen, nicht<br />
einmal in den USA, aber der Lars. Keiner<br />
weiß, wie er das gemacht hat, obwohl<br />
… wenn Recherche so mühsam ist? Elyas M’Barek<br />
als rasender Reporter Romero beim Außendiensteinsatz<br />
Romero bald ein Verdacht beschleicht:<br />
Lars Bogenius hat sich das alles einfach<br />
nur ausgedacht.<br />
Für seinen neuen Film „Tausend Zeilen“<br />
hat Michael Bully Herbig den größten<br />
deutschen Presseskandal seit den Hitler-<br />
Tagebüchern für die Leinwand aufbereitet.<br />
Ende 2018 kam heraus, dass Claas<br />
Relotius, der junge Starreporter des<br />
„Spiegel“, etliche seiner Geschichten<br />
manipuliert, frisiert oder gleich komplett<br />
frei erfunden hatte.<br />
Aufgeflogen war er dadurch, dass sein<br />
Kollege Juan Moreno, den man zur Zusammenarbeit<br />
mit Relotius verdonnert<br />
hatte, Relotius’ Arbeitsmethoden einigermaßen<br />
seltsam vorkamen. Darüber<br />
schrieb Moreno anschließend das Buch<br />
„Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius<br />
und der deutsche Journalismus“, das<br />
für Herbig nun die Inspiration für seinen<br />
Film lieferte.<br />
Allerdings hielt er sich von allem fern,<br />
was die Systemfrage des deutschen Journalismus<br />
anbelangt, weshalb man über<br />
weite Strecken des Films dem von Elyas<br />
M’Barek gespielten Romero/Moreno dabei<br />
zusehen kann, wie er versucht,<br />
Fo t o s : M a r c o N a g e l<br />
82 <strong>FOCUS</strong> <strong>40</strong>/<strong>2022</strong>