Deutsche Auswanderer zwischen Mythos und Realität - KOPS ...

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20 Katholiken kaum in Frage kam, waren Eheschließungen zwischen Cousin und Cousine häufig. Diese endogame Tendenz wirkte über Generationen. Mischehen mit Chilenen waren bis in die 60er Jahre selten, es sei denn, sie waren für die Einwanderer mit einem sozialen Aufstieg verbunden. 49 Ein weiterer Punkt, der nicht gerade zur Völkerverständigung beitrug, war die Sicherheit der Siedler, denn es kam zu Übergriffen von Seiten der Indianer, die ihren Lebensraum bedroht sahen. Überfälle und Diebstähle waren zwar selten schwerwiegend, aber sie hatten auch keine vertrauensfördernde Wirkung. 50 Die Kluft zwischen autochthoner Bevölkerung und den Einwanderern war in den Indianergebieten besonders groß. Die Indianer (Chilotes und Huilliches) hatten sich schon jahrhundertelang durch Gelegenheitsarbeit durchgeschlagen und ihnen war die Anhäufung von Gütern über das lebensnotwendige Maß hinaus fremd. Sie lehnten jede Art von Kontrolle und Herrschaft ab, wie sie den spanischen Eroberern auch schon bewiesen hatten. Die spanische Oberschicht, deren Stärke nicht in der Arbeit mit den Händen lag, reagierte ebenfalls mißtrauisch auf das „Wirtschaftswunder“. Die Deutschen wiederum sahen auf die Chilenen herab und ihr Hochmut (orgullo de fuera) wurde sprichwörtlich. Ein weiterer sehr interessanter Aspekt, der den Erfolg und möglicherweise das Überlegenheitsgefühl der Siedler mitbegründete, hängt mit ihrer religiösen Überzeugung zusammen. Viele der Siedler kamen aus Hessen und dem Sauerland und gehörten pietistischen Strömungen an. Arbeit wurde im Pietismus nicht mehr als unentbehrliche Naturgrundlage des Glaubenslebens begriffen, sondern erhielt einen sittlichen Wert. Die „praxis pietatis“, die Bewährung der inneren Überzeugung durch die konkrete Tat, war ein Leitmotiv bei der Lebensführung. Die Hochschätzung der guten Werke und die Pflicht zur Ar- beit bei gleichzeitiger sparsamer Lebensweise waren 49 ders: Migrations et mémoire germaniques en Amérique Latine, Strasbourg 1994, S.143 50 Weber, Hartwig: Die Opfer des Columbus: 500 Jahre Gewalt und Hoffnung, Reinbek bei Hamburg 1982, S.270: Weber bezeichnet die „geheimen Funktionen“ von „Faulheit“ und „Diebstahl“ als Demonstration latenter Macht der Unterdrückten. Er zitiert Henri Favre: „Der Indio...verteidigt sich gegen den Weißen durch Lüge, rächt sich durch Faulheit, läßt sich bezahlen durch Diebstahl.“

21 Faktoren beim wirtschaftlichen Aufschwung der Siedler. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ wurde hier in die Tat umgesetzt. 51 So haben verschiedene Faktoren, wie die Verpflanzung aus der gewohnten Heimat, die geographische Isolierung, die Gefahr und nicht zuletzt der religiöse Glaube dazu geführt, daß sich die Deutschen im Süden Chiles zu einem geschlossenen Block formierten. Sie nahmen eine strikt konservative Haltung ein und pflegten bei jeder Gelegenheit ihr deutsches Erbe. Für ihr Überleben im praktischen sowie im kulturellen Sinne gründeten sie eine Vielzahl von Vereinen und Institutionen. Den deutschen Einwanderern wird häufig vorgeworfen, daß sie sich nicht in das chilenische Volk integrierten, sondern ein „kleines Europa“ formierten, in dem ihnen die Bewegungsfreiheit garantiert wurde, die ihnen Deutschland verweigert hatte. Es wäre allerdings falsch, den Einwanderern hierbei bewußtes Handeln zu unterstellen. Man kann davon ausgehen, daß den Einwanderern in der Pionierzeit weder Zeit noch Muße blieb, sich Gedanken über den Erhalt des „Deutschtums“ zu machen. Wie in Kapitel 4.4 noch deutlich werden wird, hat der Pionier dieser Zeit noch nicht die nationalistische Gesinnung eines preußischen Offiziers. Darüber hinaus erscheint es wenig logisch, daß gerade diejenigen, die Deutschland aus existentiellen Gründen verlassen hatten - seien sie wirtschaftlicher oder politischer Art - um des „Deutschtums“ Willen an ihren Traditionen festhielten. Das von Deutschland her Gewohnte war der Maßstab für das Handeln der Auswanderer, was ihnen über die schwierigen Anfangsbedingungen hinweghalf. Auch die Gründung der ersten deutschen Institutionen, die im nächsten Kapitel untersucht werden sollen, erfolgte überwiegend aus existentiellen Bedürfnissen heraus. 51 vgl. Meinhold, Peter: Kirchengeschichte in Schwerpunkten, Graz, Wien, Köln 1983, S.200f, Weber, Max: Die protestantische Ethik I, hg.v. Winckelmann, Johannes, Tübingen 1972, S.75f: Das Streben nach weltlichen Gütern wird im Pietismus nicht zum Selbstzweck praktiziert, sondern muß als Nebenprodukt oder Konsequenz einer religiösen Motivation aufgefaßt werden.

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Faktoren beim wirtschaftlichen Aufschwung der Siedler. „An ihren<br />

Früchten sollt ihr sie erkennen“ wurde hier in die Tat umgesetzt. 51<br />

So haben verschiedene Faktoren, wie die Verpflanzung aus der gewohnten<br />

Heimat, die geographische Isolierung, die Gefahr <strong>und</strong> nicht zuletzt der<br />

religiöse Glaube dazu geführt, daß sich die <strong>Deutsche</strong>n im Süden Chiles zu<br />

einem geschlossenen Block formierten. Sie nahmen eine strikt<br />

konservative Haltung ein <strong>und</strong> pflegten bei jeder Gelegenheit ihr deutsches<br />

Erbe. Für ihr Überleben im praktischen sowie im kulturellen Sinne<br />

gründeten sie eine Vielzahl von Vereinen <strong>und</strong> Institutionen. Den<br />

deutschen Einwanderern wird häufig vorgeworfen, daß sie sich nicht in<br />

das chilenische Volk integrierten, sondern ein „kleines Europa“ formierten,<br />

in dem ihnen die Bewegungsfreiheit garantiert wurde, die ihnen<br />

Deutschland verweigert hatte. Es wäre allerdings falsch, den<br />

Einwanderern hierbei bewußtes Handeln zu unterstellen. Man kann davon<br />

ausgehen, daß den Einwanderern in der Pionierzeit weder Zeit noch Muße<br />

blieb, sich Gedanken über den Erhalt des „Deutschtums“ zu machen. Wie<br />

in Kapitel 4.4 noch deutlich werden wird, hat der Pionier dieser Zeit noch<br />

nicht die nationalistische Gesinnung eines preußischen Offiziers. Darüber<br />

hinaus erscheint es wenig logisch, daß gerade diejenigen, die Deutschland<br />

aus existentiellen Gründen verlassen hatten - seien sie wirtschaftlicher<br />

oder politischer Art - um des „Deutschtums“ Willen an ihren Traditionen<br />

festhielten.<br />

Das von Deutschland her Gewohnte war der Maßstab für das Handeln der<br />

<strong>Auswanderer</strong>, was ihnen über die schwierigen Anfangsbedingungen<br />

hinweghalf. Auch die Gründung der ersten deutschen Institutionen, die im<br />

nächsten Kapitel untersucht werden sollen, erfolgte überwiegend aus<br />

existentiellen Bedürfnissen heraus.<br />

51 vgl. Meinhold, Peter: Kirchengeschichte in Schwerpunkten, Graz, Wien, Köln 1983, S.200f, Weber, Max:<br />

Die protestantische Ethik I, hg.v. Winckelmann, Johannes, Tübingen 1972, S.75f: Das Streben nach<br />

weltlichen Gütern wird im Pietismus nicht zum Selbstzweck praktiziert, sondern muß als Nebenprodukt oder<br />

Konsequenz einer religiösen Motivation aufgefaßt werden.

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