Das Fräulein von Lichtenegg
Das Fräulein von Lichtenegg
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Maximilian Schmidt <strong>Das</strong> <strong>Fräulein</strong> <strong>von</strong> <strong>Lichtenegg</strong><br />
roten und weißen Blütenköpfchen neugierig durch die offenen Fenster hineinschauten und die<br />
erquickende Luft eines schönen Sommerabends strömte in das Gemach.<br />
Julchen, deren Lager in dem vorderen Teile des Zimmers angebracht ist, schläft gerade. Die<br />
Lehrerin steht an dem Bette und wehrt einigen zudringlichen Fliegen ab. Ihre zwölfjährige<br />
Tochter, ein schönes Mädchen, neigt sich über die Schlafende, und legt auf die Stirne einen<br />
frischen, kalten Ueberschlag.<br />
„Wie blaß sie ist!“ sagte das Mädchen leise zu ihrer Mutter. „Wie blaß und doch so schön?“<br />
„Still, Klara,“ entgegnete die Angeredete. „Wecke sie ja nicht auf; dieser Schlaf wird ihr<br />
wohl thun; es ist der erste seit ihrem Hiersein, der so lange andauert; du kannst nun fortgehen,<br />
ich bedarf deiner nicht mehr.“<br />
„O, laß mich da, Mutter; ich sehe Julchen zu gerne und möchte bei ihr sein, wenn sie<br />
aufwacht. Sie hat mich gewiß noch so lieb, wie vordem, ehe sie irrsinnig wurde. Alle die<br />
Lieder, die sie mich gelehrt, wenn ich die Feiertage zu ihr in den Markt durfte, weiß ich noch<br />
und werde ihr dieselben vorsingen, wenn sie wieder besser wird. Ach, wie lange hat sie mich<br />
nicht mehr erkennen wollen, und wie viel habe ich um sie geweint und für sie gebetet! Unser<br />
Herrgott hat mich endlich erhört, und ihr den Verstand wieder gegeben!“<br />
„Gewiß hat er dich erhört, Klara,“ entgegnete die Mutter. „<strong>Das</strong> Gebet für unsere<br />
Nebenmenschen nimmt Gott immer wohlgefällig auf. Aber Julchen steht noch sehr in Gefahr.<br />
Der Verlust ihrer Mutter, den sie erst jetzt lebhaft empfindet, hat ihren Zustand<br />
verschlimmert. Der Himmel möge sie beschützen!“<br />
„Sie wird aber recht glücklich werden, wenn sie wieder gesund ist,“ meinte Klara; „denn der<br />
gute Herr Doktor, welcher seit gestern in der Nähe ist, wird ihr Gesundheit und Glück<br />
bringen. Ich bin ihm heute früh am Waldessaume begegnet, wohin du mich gesandt hattest,<br />
um Erdbeeren zu pflücken. Da mußte ich ihm <strong>von</strong> Julchen erzählen, und als ich sagte, sie<br />
werde wohl sterben müssen, fielen ihm große Thränen aus den Augen, und ich habe<br />
mitweinen müssen. Er nannte mich ein gutes Mädchen und sagte, wenn Julchen den heutigen<br />
Tag überlebe, sei sie gerettet.“<br />
„<strong>Das</strong> ist sie gottlob!“ erwiderte die Mutter. „Die Krisis ist vorüber, und wie der Herr Doktor<br />
gerade im Garten den Herren erzählte, welche ihn nach Eschlkam abzuholen gekommen sind,<br />
wird sich Julchen nach diesem Schlafe außer aller Gefahr befinden.“<br />
„Sieh, sieh!“ rief das Mädchen. „Julchen wacht auf.“<br />
Diese schlug in der That die Augen auf. „Wie fühlst du dich, Julchen?“ fragte die Lehrerin,<br />
ihr die Haare aus dem Gesichte streichend.<br />
„Besser!“ antwortete die Kranke. „Viel leichter, als diese Nacht. Aber wie sind wir denn an<br />
der Zeit? Ich muß lange geschlafen haben; denn ich habe so viel und lange geträumt. <strong>Das</strong><br />
waren schöne, süße Träume! Leider Träume!“<br />
„Träume werden aber oft zur Wirklichkeit,“ erwiderte die Frau. „Du hast seit Mittag<br />
geschlafen; jetzt haben wir halb sechs Uhr. Du wirst nun Appetit haben und ich eile, dir eine<br />
gute Suppe zu bringen.“<br />
Klara näherte sich jetzt Julchen, und legte ihre Hand auf die der Kranken. „Du gute Julie,<br />
hast du mich noch lieb?“ fragte das Mädchen.<br />
„<strong>Das</strong>s kannst du fragen?“ entgegnete die Angeredete. „Mag ich auch noch so lange krank<br />
gewesen sein, was mir vordem lieb war, wird es mir auch jetzt wieder sein, und ich will nicht<br />
mehr klagen! Gott verläßt die Waisen nicht. Klara, lies mir ein Gebet vor, ein Gebet der<br />
Waisen.“<br />
Klara suchte in ihrem Gebetbüchlein nach, und las es mit lieblicher Stimme der Kranken<br />
andächtig vor.<br />
Nach einer kleinen Pause fragte Julchen: „Ist der Herr Doktor noch immer da?“<br />
„O, ja,“ antwortete das Mädchen. „Wie wird er sich freuen, wenn ich ihm sage, daß du<br />
aufgewacht bist, und dich besser fühlst; denn der hat dich gar sehr lieb.“<br />
„Der Himmel möge ihm alles vergelten!“ rief Julchen.<br />
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