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Das Fräulein von Lichtenegg

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Maximilian Schmidt <strong>Das</strong> <strong>Fräulein</strong> <strong>von</strong> <strong>Lichtenegg</strong><br />

Julchen lag noch immer, einer Toten ähnlich, da; doch es gingen ihre Pulse; es schlug ihr<br />

Herz und die beiden Aerzte brachten ihr die möglichste Hilfe. Endlich, endlich schlug sie die<br />

Augen auf, fuhr mit der Hand über die Stirne und blickte befremdet auf ihre Umgebung. Dann<br />

schloß sie die Augen wieder und lispelte: „<strong>Das</strong> ist ein furchtbarer Traum!“<br />

Tiefe Stille herrschte in dem kleinen Raume. <strong>Das</strong> Mädchen zitterte, richtete sich jetzt auf<br />

und mit vor Schrecken bebender Stimme rief sie: „Um Gotteswillen, wo bin ich denn?“<br />

„Bei guten Freunden,“ antwortete Adalbert. „Du bist im Walde krank geworden und wir<br />

brachten dich hierher; wenn es Tag wird, geleiten wir dich wieder nach Eschlkam.“<br />

„Meine Mutter! Wo ist meine Mutter?“ rief die Irre. „Wie kam ich in den Wald? Wo bin<br />

ich?“ Und ihre Umgebung betrachtend, schien sie den Doktor und Veitl zu erkennen, und<br />

etwas ruhiger fragte sie: „Veitl, sage mir doch, wo wir sind?“<br />

„In <strong>Lichtenegg</strong>,“ antwortete der Gefragte.<br />

„Gott im Himmel!“ schrie das Mädchen, und nachdem sie einige Augenblicke<br />

nachgesonnen, sank sie mit einem lauten Schrei wieder ohnmächtig auf ihr Lager zurück.<br />

„Sie ist gerettet!“ riefen die Aerzte zu gleicher Zeit.<br />

„Der Schrecken hat sie geheilt,“ sagte der Doktor; „ihr Verstand ist wieder gekehrt!“<br />

„Gott sei gelobt!“ lispelte Adalbert, einen dankbaren Blick zum Himmel sendend.<br />

In den Augen aller standen Thränen. Es war ein schöner, ein tiefergreifender Augenblick.<br />

Adalbert neigte sich über das Mädchen. „Sie schläft,“ sagte er leise. „Die Ohnmacht wich<br />

dem Schlafe, und dieser Schlaf wird ihr wohlthun.“<br />

In fortwährender Sorgfalt um Julchen verging den Männern schnell die Nacht. Der Himmel<br />

war wieder wolkenfrei geworden, und die frische, reine Luft war erquickend einzuatmen.<br />

„Ei, ei,“ sagte einmal Veitl, „das war also das Gespenst, das mi vor acht Tagen so<br />

erschreckt! Wart, Julie!“<br />

„Was mochte sie wohl auf <strong>Lichtenegg</strong> führen?“ fragte Adalbert.<br />

„Kann mir nichts anderes denken,“ erwiderte der Doktor, „als daß sie hier ihre Eltern<br />

suchte, deren Tod sie, nach allem Erzählten, in ihrem Wahnsinne dem Burgfräulein<br />

zuschrieb.“<br />

Der Doktor mochte nicht Unrecht haben. Der Tod ihres Vaters war mit dem <strong>Lichtenegg</strong>er<br />

Burgfräulein so stark in Verbindung gebracht, daß das Mädchen selbst in ihrem Irrsinne daran<br />

festhielt, und in dem Glauben auf <strong>Lichtenegg</strong> Vater und Mutter wieder zu finden, wanderte<br />

sie oft, und ohne daß es jemand ahnte, bei Nachtzeit nach der entfernten Ruine und frischte<br />

dadurch den Glauben an das Burgfräulein wieder auf. Auf diese Weise brachte die Irre<br />

manche schlaflose Nacht zu, und als sie jüngst Adalbert früh drei Uhr noch unter seinem<br />

Fenster sah, mochte sie wohl gerade <strong>von</strong> einem solch nächtlichen Gange heimkehren.<br />

Schon fing es im Osten zu grauen an.<br />

„Was wäre Zeit, auf den Burgstall zu steigen,“ meinte Veitl; „die Sonne wird bald<br />

heraufgucken, und wir könnten sonst leicht zu spät zum Aufgange kommen.“<br />

„Mein Sonnenaufgang wird hier sein,“ sagte Adalbert, lächelnd auf das schlafende Mädchen<br />

deutend. „Geht ihr immerhin, das schöne Schauspiel zu sehen; ich verzichte für heute gerne<br />

darauf.“<br />

„Ich ebenfalls,“ sagte Ortolf. „Wir wollen uns für heute mit der Aussicht begnügen, welche<br />

uns <strong>von</strong> dem obern Teile dieser Ruine gestattet ist.“<br />

Der Doktor war es auch zufrieden, und statt auf den Burgstall stiegen die beiden Männer,<br />

nicht ohne Gefahr, auf die Zinne des hohen Wartturmes.<br />

Die Vorboten der Sonne kamen mehr und mehr; bald war der Himmel wundervoll mit<br />

Purpur bekleidet und langsam, majestätisch stieg die feurige Kugel herauf, und brachte den<br />

neuen Morgen, einen herrlichen Sommertag.<br />

Ortolf und der Doktor schwärmten auf ihrem hohen Standpunkte. Adalbert aber wich nicht<br />

<strong>von</strong> dem Mädchen, und sich über die noch immer Schlafende neigend, sagte er mit innigem<br />

Beileide: „Daß es auch in deinem Geiste so tage, armes Kind!“<br />

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