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Das Fräulein von Lichtenegg

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Maximilian Schmidt <strong>Das</strong> <strong>Fräulein</strong> <strong>von</strong> <strong>Lichtenegg</strong><br />

des Burgstallkegels. Als er abends eintreiben wollte, vermißte er ein junges Rind und nach<br />

einigem Suchen hörte er es oben im Walde laut werden. Er stieg eilig den Burgstall hinan und<br />

war schon nahe am Gipfel, als plötzlich eine wundervolle, aber seltsam und fremdartig<br />

gekleidete Jungfrau vor ihm stand und ihn mit einschmeichelnder Stimme anredete: „Du<br />

kommst zu guter Stunde hierher. Wisse, daß es in meiner Hand liegt, dich zum reichsten<br />

Mann im Lande zu machen! Ich kann dir offenbaren, auf welche Weise du den unter unseren<br />

Füßen vergrabenen Schatz zu heben vermagst.“ Der Hirt, anfangs erschrocken, faßte Mut und<br />

entgegnete, daß er bereit sei, die Unterweisung zu vernehmen. Freudig fuhr die Jungfrau fort:<br />

„Finde dich heute über acht Tagen zu Beginn der Mitternachtstunde am Fuße des Burgstalls<br />

ein, begleitet <strong>von</strong> zwei Priestern, welche die Bannbeschwörungen zu sprechen wissen. Ihr<br />

werdet den Schatz erhoben auf dem Gipfel des Berges liegen sehen. Schreitet nur mutig<br />

darauf los und laßt euch nicht beirren, was euch auch immer in den Weg treten mag, und sähe<br />

es noch so schrecklich aus; denn es ist eitel Blendwerk des Bösen, das euch weder an Leib<br />

noch Seele schaden kann. Bist du an die Schatztruhe herangekommen, so greife mit beiden<br />

Händen keck in den Goldhaufen, und er ist dein für immer. Aber wehe, so du durch die<br />

Künste des Satans dich zur feigen Flucht bewegen ließest, wehe mir! Abermals müßte ich<br />

hundert Jahre umherirren und könnte nicht zur ewigen Ruhe eingehen. Siehe dieses zarte<br />

Reis“ – hier wies sie auf ein dem Boden entsprossenes Ahornbäumchen – „es muß zum<br />

starken Baume heranwachsen, aus seinem Stamme müssen Bretter geschnitten und diese zu<br />

einer Wiege gefügt werden; der Knabe, welcher in dieser Wiege ruhen wird, muß Mann<br />

geworden sein, dann erst darf ich wieder auf Erlösung hoffen. Gedenke der unaussprechlichen<br />

Leiden einer armen Seele und erbarme dich meiner, so wie du willst, daß Gott der Herr sich<br />

deiner erbarme!“ In den letzten Worten lag der Ausdruck eines so herzzerreißenden Jammers,<br />

daß der Hirt da<strong>von</strong> aufs tiefste ergriffen ward und mehr durch den Wunsch, so große Pein zu<br />

lindern, als durch die Begierde nach den verheißenen Reichtümern sich zu dem Wagnisse der<br />

Schatzhebung angeeifert fühlte. Eben wollte er der Jungfrau seinen Entschluß kund geben, als<br />

die Gestalt derselben in leichtem Nebelflore sich auflöste, den der Abendwind über den<br />

Gipfel des Burgstalles hinwegführte. Aus dem Gebüsche aber, an welchem die Erscheinung<br />

gestanden, kam das verlorene Rind hervor und folgte willig seinem Herrn auf den Weideplatz<br />

hinab. Des anderen Tages hatte der Hirt nichts Eiligeres zu thun, als nach Neukirchen zum<br />

Kloster der Franziskaner zu gehen und dem Pater Guardian den wundervollen Vorfall zu<br />

berichten. Dieser erteilte zwei Mönchen, welche als die geübtesten Exorzisten der Gemeinde<br />

galten, den Auftrag, hilfreiche Hand zu bieten.“<br />

„Ehe ich aber weiter erzähle, bedarf ich auch einiger Stärkung,“ sagte der Doktor, und er<br />

that einen tüchtigen Schluck aus dem Glase, welches ihm Ortolf gereicht hatte; dann fuhr er<br />

fort: „Zur bestimmten Stunde traten die Patres und der Hirt am Burgstall zusammen, und eben<br />

schritten sie über den Weideplatz hin, als die Turmuhr zu Neukirchen die elfte Stunde<br />

verkündete. Mit dem letzten Schlage loderte auf dem Gipfel eine hohe Flamme empor, und<br />

die Mönche erkannten dies als das Zeichen, daß der Schatz sich erhoben habe. Nachdem sie<br />

den Hirten gewarnt, nicht <strong>von</strong> ihrer Seite zu weichen, schickten sie sich an, dem bösen Feinde<br />

tapfer zu Leibe zu gehen. Aber kaum hatten sie einige Schritte bergan gemacht, als im Walde<br />

ein seltsames Leben rege ward. Eulen und Fledermäuse flatterten den nächtlichen Wanderern<br />

in dichten Schwärmen entgegen, aus dem Unterholze links und rechts warf es mit<br />

Totenbeinen nach ihnen, und grinsende Schädel kollerten unter ihren Füßen hin. Sie ließen<br />

sich <strong>von</strong> diesem Spuke nicht anfechten, sondern drangen rastlos vorwärts. Schon mochten sie<br />

die Hälfte des Weges zurückgelegt haben, als der bisher mondhelle Himmel plötzlich sich<br />

verfinsterte und ein Sturm losbrach, welcher den ganzen Berg aus seinen Grundfesten heben<br />

zu wollen schien. Die Blitze fuhren hageldicht auf die Baumwipfel nieder; der Donner krachte<br />

Schlag auf Schlag; die Gießbäche stiegen im Nu brausend über ihre Ufer und wälzten<br />

mannshohe Fluten über die drei herab. Diese meinten, bis über den Hals im Wasser zu gehen,<br />

aber wie sie näher zusahen, fanden sie, daß nicht ein Faden ihres Gewandes naß war. Darum<br />

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