Das Fräulein von Lichtenegg
Das Fräulein von Lichtenegg
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Maximilian Schmidt <strong>Das</strong> <strong>Fräulein</strong> <strong>von</strong> <strong>Lichtenegg</strong><br />
„Diese Nacht? Meine Mutter hab ich gesucht; aber dort oben ist’s mäuschenstill; nur der<br />
Vater hat immer fortgeschnarcht, immerfort, und ich konnte ihn nicht erwecken. Dann hab ich<br />
gesungen, bis du mich abgeholt hast.“ Bei diesen Worten wandte sie sich wieder an Adalbert.<br />
„Bin dir immer nachgelaufen über Gräber und Hecken, daß mir die Füße bluteten, und hab<br />
dich doch nicht eingeholt!“<br />
Welche Traumbilder mußten die Irre umgaukelt haben? Und warum träumte sie gerade <strong>von</strong><br />
Adalbert, der sich in seinen schlaflosen Stunden fast auch nur mit ihr beschäftigte? Die<br />
Erscheinung des jungen Doktors mußte auf das geisteskranke Mädchen einen tiefen Eindruck<br />
gemacht haben.<br />
Adalbert pflückte dem Mädchen einen Strauß, während sie Ortolf zu dem Pflaumenbaume<br />
führte, welchen er tüchtig schüttelte, um durch die herabfallenden Früchte die Irre zu<br />
erfreuen. Julchen wurde nun recht gesprächig; ja, sie sang sogar und oft merkte man nicht,<br />
daß es die Sprache oder der Gesang einer Wahnsinnigen sei. Als nun Adalbert gar mit einem<br />
großen Blumenstrauße herankam, war sie überglücklich. Julchen nahm ihn mit einem<br />
freudigen Ausrufe aus Adalberts Hand.<br />
„Julchen!“ rief dieser, der Irren Hand festhaltend und ihr in die Augen schauend. „Könnte<br />
ich dir mit diesen Blumen deine Gesundheit wieder geben, könnte ich dir begreiflich machen,<br />
wie nahe mir dein Unglück zu Herzen geht und –“<br />
Ein wahnsinniges Gelächter unterbrach Adalbert. Die Irre hatte ihre Hand aus seiner<br />
gezogen und lief der Gartenthüre zu. Noch ehe sich die beiden Freunde <strong>von</strong> ihrer<br />
Ueberraschung erholt hatten, war sie ihren Augen schon entschwunden, und nur aus der Ferne<br />
hörten sie noch jenes durchdringende und unheimliche Gelächter an ihr Ohr schlagen,<br />
welches den Wahnsinnigen eigen ist und uns mit so eigentümlichem Schauer erfüllt. Adalbert<br />
standen die Thränen in den Augen. Totenblaß starrte er nach der Thüre, durch welche die Irre<br />
geflohen.<br />
Ortolf sah ihn eine Weile an. „Was ist dir denn?“ sagte er endlich. „Ich befürchte bald, daß<br />
dich die Närrin zum Narren gemacht hat! Komm, laß und zu Tische gehen; man läutet schon<br />
zwölf Uhr.“ Damit nahm er Adalbert unter dem Arm und verließ mit ihm den Garten.<br />
Im Pfarrhofe wartete die Bötin und überreichte Ortolf einen Brief.<br />
„Von wem?“ fragte Adalbert und Ortolf antwortete erfreut: „Von Auguste! Und magst du<br />
jetzt auch noch so melancholisch werden, heute kannst du mich unmöglich damit anstecken!“<br />
IX.<br />
Einer der bedeutendsten Gebirgszüge des bayerischen Waldes ist der Hohenbogen, welcher<br />
isoliert und wahrhaft majestätisch aus den breiten Thälern des weißen Regen, der Chamb und<br />
es Freibaches emporsteigt. Er ist 3334 Fuß hoch, und erstreckt sich <strong>von</strong> Nordwest nach<br />
Südost in einer Länge <strong>von</strong> anderthalb Stunden. Der Berg ist vom Fuße bis zum Gipfel dicht<br />
bewaldet und man hat bei seiner Ersteigung Gelegenheit, wundervolle Waldpartien zu<br />
durchwandern; denn in üppigster Fülle finden sich Laub- und Nadelhölzer, deren vielerlei<br />
Farbenmischungen einen eigentümlichen Reis gewähren. Es wechseln hier riesige Tannen,<br />
Fichten, Buchen, Ahorn, Lang- und Kurzeschen. Am Boden winden sich Brombeerstauden<br />
dahin oder stehen ganze Plätze voll Himbeerstauden, welche mit ihren schwarzen und roten<br />
Beeren den Wanderer freundlich zu einem ländlichen Mahle einladen. Die vielen kleinen<br />
Bergkuppen, hier zu Lande Riegel genannt, welche auf dem breiten Rücken des Hohenbogen<br />
auflagern, werden alle <strong>von</strong> den beiden Hauptgipfeln, dem Burgstall und Hohenstein, 9<br />
beherrscht, wo<strong>von</strong> ersterer, seines leichten Ersteigens halber, der eigentliche Zielpunkt der<br />
Wanderer ist.<br />
9 In der Einsattelung beider Gipfel befindet sich eine Diensthütte des Forstpersonals, welche in neuerer Zeit eine<br />
vortreffliche Restauration für die Touristen darbietet und sich eines zahlreichen Besuches erfreut.<br />
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