Das Fräulein von Lichtenegg
Das Fräulein von Lichtenegg
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Maximilian Schmidt <strong>Das</strong> <strong>Fräulein</strong> <strong>von</strong> <strong>Lichtenegg</strong><br />
und an der Kirche dort ruht mein kleines Schwesterlein.“ Er deutete eben mit der Hand dahin,<br />
als der Hund wieder laut zu bellen anfing, dieses Mal aber nicht der Orgel halber – denn in<br />
der Kirche schien die Predigt begonnen zu haben – sondern einer weiblichen Gestalt wegen,<br />
welche auf erwähntem Grabe saß und nicht nur die Aufmerksamkeit des Hundes, sondern<br />
auch die der beiden Männer in hohem Grade erregte.<br />
Lange, schwarze Haare hingen über Schulter und Rücken des in gekauerter Stellung<br />
sitzenden Weibes; den Kopf auf die rechte Hand gestützt, hielt sie in der gerade<br />
herabhängenden Linken eine aus Weidengerten zusammengebundene Rute und schien mehr<br />
Bildsäule, denn lebendiges Geschöpf zu sein.<br />
„Ein leibhaftiger Trauerengel!“ sagte Adalbert. „Ein Zeichner könnte hier gleich sein<br />
Skizzenbuch bereichern. Laß uns näher gehen.“<br />
Sie waren gerade im Begriffe, vom Wege abzulenken, um sich dem einige Schritte seitwärts<br />
gelegenen Grabe zu nähern, als der Hund wiederholt bellte, wodurch das bis jetzt leblos<br />
scheinende Weib plötzlich aufgeschreckt wurde. Und vor ihnen stand ein junges Mädchen mit<br />
blassem Gesichte, aus dem ihnen zwei große, feurige, schwarze Augen mit wilden Blicken<br />
entgegenstrahlten. Ein gelbes, ausgewaschenes, aber reinliches Kleid umhüllte den schlanken<br />
Körper, und wie sie so dastand, die Weidengerte gegen die Ankommenden erhoben, mit ihren<br />
reichen, aufgelösten Haaren und dem schönen, ersten Gesichte, hätte man sie für eine<br />
überirdische Gestalt halten können.<br />
„Fort! Fort!“ rief sie hastig aus.<br />
Adalbert prallte beim Anblicke dieses sonderbaren Weibes erschrocken zurück, ohne jedoch<br />
seinen Blick <strong>von</strong> ihr wenden zu können. „Herr Gott im Himmel!“ rief er leise. „Ist Marie aus<br />
dem Grabe gestiegen?“<br />
„Guten Abend, Mädchen,“ sagte jetzt Ortolf, Adalberts Aufregung nicht bemerkend, aber<br />
gleichfalls nicht wenig überrascht. „Wir haben nichts Böses vor und wollen nur zu dem<br />
Grabe, vor dem du stehst.“<br />
„Nicht! Nicht! Keinen Schritt weiter! Ich kenne euch schon! Den goldenen Stein wollt ihr<br />
mitnehmen und das Kreuz, damit ich gar nichts mehr habe! Aber kommt mir nicht zu nahe;<br />
ich lasse mich nicht fortjagen, bis die Nacht kommt, und die Sonne über die Mauer hinab ist!“<br />
Mit der den Wahnwitzigen eigenen unheimlichen Stimme und unter verzerrten Bewegungen<br />
hatte das Mädchen dieses den Fremden zugerufen, welche ihrerseits erkannten, daß sie es mit<br />
einer Irren zu thun hatten.<br />
„Sei ruhig, Mädchen,“ entgegnete ihr Ortolf. „Unter diesem Grabe liegt eine Schwester <strong>von</strong><br />
mir, und ich will da mein Gebet verrichten. Setze dich nur auf den Stein und verhalte dich<br />
ruhig, sonst fängt der Hund zu bellen an und wir stören den Gottesdienst.“<br />
„Beten wollt ihr? Beten!“ rief das Mädchen. „Ich bete auch und singe dazu; wartet nur.<br />
Doch haltet den Hund, ich will fort, bis ihr gebetet habt, und mich unter das Kreuz dort<br />
setzen; aber kommt mir nicht zu nahe, sonst fällt der Herrgott herab und erschlägt euch!“<br />
Mit diesen Worten eilte sie da<strong>von</strong>, setzte sich unter das in der Mitte des Friedhofes stehende<br />
Kreuz und fing, als wäre gar nichts vorgefallen, mit leiser Stimme zu singen an. – Adalbert,<br />
seine Hand fest an der Herz drückend, starrte sprachlos nach dem Mädchen; endlich wandte er<br />
ich an Ortolf mit der Frage: „Wer mag sie sein?“<br />
„Ich kenne sie nicht,“ entgegnete dieser; „nur das wissen wir beide, daß es eine Irre ist,<br />
welche uns zum ersten Willkomm in meiner Heimat mit der Rute gedroht hat. Doch sieh’, da<br />
steht mein Familienname!“ Damit war Ortolfs Aufmerksamkeit auf das Grab gerichtet,<br />
welchem er sich mit feierlichen Gefühlen näherte; aber Adalberts Gedanken waren bei der<br />
Irren, <strong>von</strong> der er kein Auge verwandte, bis er am vorderen Friedhofe den Totengräber, gerade<br />
in seinem Amte beschäftigt, bemerkte und sich ihm näherte, teils im Ortolf mit seinen<br />
Gefühlen allein zu lassen, teils der sonderbaren Irren nachzufragen, deren leiser Gesang dort<br />
unter dem Kreuze ertönte.<br />
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