Das Fräulein von Lichtenegg
Das Fräulein von Lichtenegg
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Maximilian Schmidt <strong>Das</strong> <strong>Fräulein</strong> <strong>von</strong> <strong>Lichtenegg</strong><br />
Roman da<strong>von</strong>, als diese selbst zu uns herankam, und mich anstarrte, gleichsam als wüßte sie,<br />
welche Erinnerung sie in mir hervorgerufen. Dann deutete sie auf einen Totenkopf, welcher<br />
neben einem frisch aufgeworfenen Grabe lag, und mich traurig ansehend nannte sie zu<br />
meinem nicht geringen Erstaunen den Namen „Marie“ – den Namen, welchen jene Freundin<br />
geführt, der die Irre so täuschend ähnlich sieht.“<br />
„Allerdings ein sonderbarer Zufall!“ meinte der Pfarrer. „Aber die Sache ist leicht<br />
erklärlich, Julchens Schwester, Gott hab sie selig! hieß auch Marie, und dieser mag wohl die<br />
Irre eingedenk gewesen sein, als sie Ihnen den Totenkopf zeigte, und dabei jenen Namen<br />
aussprach.“<br />
Ortolf suchte auf dem Gesichte seines Freundes zu lesen, was in dessen Seele vorging. Der<br />
Name „Marie“ erinnerte ihn wieder an die erste Zeit seiner Freundschaft mit Adalbert,<br />
welcher diesen Namen so oft ausgerufen. Er erinnerte sich, wie vergebens er stets versucht,<br />
darüber vertrauliche Mitteilungen zu erhalten – und nun, nach so vielen Jahren, sprach<br />
Adalbert wieder diesen Namen aus, welcher in seiner Vergangenheit eine bedeutende Rolle<br />
spielen mußte.<br />
„Der Totengräber hat mein Interesse für den Vater der schönen Irren gleichfalls erregt,“<br />
erzählte Adalbert weiter, „und es würde mir <strong>von</strong> Interesse sein, über denselben Näheres zu<br />
hören.“<br />
„Da sollen Sie sogleich befriedigt werden, Herr Doktor,“ entgegnete der Kantor. „’s ist eine<br />
sonderbare Geschichte – klingt zwar etwas märchenhaft, ist aber dennoch wahr.“<br />
„Julchens Vater war ehedem ein angesehener Mann; er diente als Rittmeister in unserer<br />
Armee, hat sich in den Jahren 1812, 13 und 15 ausgezeichnet, und mehrere Orden schmückten<br />
seine Brust. Als junger Soldat desertierte er, ich weiß nicht aus welchem Grunde, zu den<br />
Oesterreichern, als Frankreich mit seinen Alliierten gegen dasselbe zog. Er brachte es zum<br />
Offizier, war aber so unglücklich, während eines Gefechtes <strong>von</strong> seinen Landsleuten gefangen<br />
und als Deserteur bestraft zu werden. Da er in früheren Jahren die Musik eifrig betrieben und<br />
unter anderem auch das Trompetenblasen erlernt hatte, so mußte er als Trompeter seiner<br />
heimatlichen Fahne folgen. In dieser Charge nun zog er unter Wrede mit nach Rußland, wo<br />
ihn ein günstiger Stern bald wieder aus seiner bescheidenen Stellung emporhob.<br />
Ein komisches Wagstück, das er in der Nähe <strong>von</strong> Polotzk ausführte, brachte ihm wieder die<br />
Epaulettes. Er eroberte nämlich ganz allein ein <strong>von</strong> russischen Truppen besetztes Blockhaus,<br />
indem er, wahrscheinlich in etwas betrunkenem Zustande, bei Nachtzeit gegen dasselbe ritt,<br />
und dabei seine Trompete schmettern ließ, als folgte ihm eine ganze Eskadron hinterdrein.<br />
Die Russen glaubten überfallen zu sein, nahmen Reißaus und der Trompeter Bachert, hinter<br />
ihnen her Sturm blasend, kam so in den Besitz des verlassenen Blockhauses, welches sodann<br />
<strong>von</strong> unseren Truppen besetzt wurde. Noch bevor der Krieg zu Ende, war er schon Rittmeister.<br />
Aber leider wurde er ein so eifriger Verehrer des Bacchus und Gambrinus, daß er im Dienste<br />
dieser Gottheiten seinen eigentlichen Dienst vernachlässigte, und oft dazu ganz unbrauchbar<br />
wurde. Seine ökonomischen Verhältnisse wurden dadurch bedeutend zerrüttet, und es blieb<br />
ihm zu ihrer Wiederherstellung nichts anderes übrig, als eine reiche Heirat. Er verehelichte<br />
sich mit einem vermöglichen <strong>Fräulein</strong> aus der hiesigen Gegend, und man glaubte dadurch den<br />
Rittmeister wieder ins rechte Geleise gebracht. Wirklich bändigte er mehrere Jahre hindurch<br />
seine Leidenschaft, bis sie in erhöhtem Grade wiederkehrte.<br />
Eines Tages kam er in betrunkenen Zustande auf die Parade und deswegen vom<br />
Kommandanten in Arrest geschickt, vergaß er sich soweit, daß er seine Orden <strong>von</strong> der Brust<br />
riß und zu Boden warf, ja sich beinahe thätlich an seinen Vorgesetzten vergreifen wollte,<br />
wenn er nicht daran verhindert worden wäre. <strong>Das</strong> Ende vom Liede war: Mehrjährige<br />
Festungsstrafe und Entlassung. Seine unglückliche, brave Frau zog mit ihren zwei Kindern,<br />
Mädchen im zartesten Alter, hierher. Um den kleinen Rest ihres Vermögens den Kindern zu<br />
bewahren, suchte die arme Frau ihren Lebensunterhalt durch Lehrstunden in weiblichen<br />
Handarbeiten zu gewinnen. Nachdem der Rittmeister seine Strafe erstanden, suchte er seine<br />
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