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MIXTAPE KULTUR JOKER 49

Harter Techno und Safer Spaces Ein Interview mit MIU LING

MIU LING ist seit Beginn ihrer

DJ-Karriere 2020 viel unterwegs.

Ob sie in Freiburg,

Basel oder Berlin auflegt – die

Leidenschaft der Wahlfreiburgerin

gilt dem Techno. Auch

setzt sich die Musikerin für

queer-feministische Räume in

der noch immer sehr weißen,

von Männern dominierten

Partyszene ein. Fabian Lutz

hat mit MIU LING über kinky

Partys, Gefuchtel hinterm DJ-

Pult und falsche Vorbilder gesprochen.

Kultur Joker: Anfang August

hast du auf dem Queer & Kinky

Festival „Insel der Freuden“

im Hans Bunte aufgelegt. Unter

„kinky“ versteht man unkonventionelle

sexuelle Praktiken.

Queere Partys im Hans Bunte

gelten auch nicht als ganz unschuldig.

War es die wilde Party,

die man erwartet?

MIU LING: (lacht) Ja, es

war wild, sehr cool. Während

meinem Set habe ich zuerst gar

nicht so viel mitbekommen.

Nach einer halben Stunde ging

es aber voll ab.

Kultur Joker: Brauchst du Einstimmungszeit?

MIU LING: Ja, bis ich in den

Flow komme. Dann spiele ich

intuitiv und nicht mehr so kopflastig.

Nach einer halben Stunde

war die Tanzfläche voll und

neben mir haben Leute auf den

Boxen getanzt. Das war super

schön. Ich mag es, wenn die

anderen so abgehen, ich selbst

kann das nicht immer.

Kultur Joker: Obwohl du ganz

vorne stehst?

MIU LING: Die Leute erwarten

oft, dass man die Crowd

anleitet, mit riesigem Gefuchtel

und Show. Ich versuche, einen

Mittelweg zu finden, der noch zu

mir passt. Ich freue mich, wenn

Leute neben mir tanzen und

das übernehmen. Dann kann

ich mich einfach um die Musik

kümmern.

Kultur Joker: Harter Techno –

war das schon immer dein Ding?

MIU LING: Ich hatte schon

immer ein Faible für düsteren

Expressionismus, ob düsterer

Rock / Metal oder finstere Fantasy

/ Science Fiction. Beim Feiern

kann ich gerade bei einem

harten, düsteren Sound meinen

Kopf abschalten und loslassen.

Kultur Joker: Trittst du oft auf

queeren, kinky Partys wie der

„Insel der Freuden“ auf?

MIU LING: Nicht unbedingt,

in Freiburg werde ich trotzdem

vor allem für solche Partys gebucht.

Vielleicht liegt es daran,

dass ich queer bin und einen für

Freiburg eher härteren Techno

auflege. Bei anderen Events hat

das noch nicht so viel Raum.

Kultur Joker: Was macht die

„Insel der Freuden“ für dich

aus?

MIU LING: Die Leute sind

ausgelassener, gleichzeitig ist es

ein sicherer Ort für die queere

Community. Wir haben dort

eine Freiheit, unsere sexuelle

Orientierung auszuleben, die

wir noch nicht überall haben. Ich

bin in Basel aufgewachsen und

habe da viel gefeiert. In Basel

sind fast alle DJs cis-männlich

und weiß. Bis vor zwei Jahren

hatte ich nie den Gedankentransfer

gemacht, als weibliche,

nicht-weiße Person dasselbe zu

machen – obwohl ich Techno

feiere und schon immer Musik

gemacht habe.

Kultur Joker: Eine Frage der

Vorbilder.

MIU LING: Dass ich nie den

Gedanken hatte, selbst DJ zu

werden, ist im Nachhinein erschreckend.

Das liegt daran,

dass ich niemanden gesehen

hatte, mit dem ich mich identifizieren

konnte. Auch weibliche

DJs sind meistens weiß, jung,

normschön. Da ist es schwierig,

anders zu sein. Ich frage mich

dann immer: Ist es okay, wenn

ich jetzt vor der Menge stehe.

Reicht die Musik?

Kultur Joker: Und? Reicht die

Musik?

MIU LING bei der „Insel der Freuden“ im Hans Bunte

Foto: MIU LING

MIU LING: Ich denke bisher ja.

Wobei es je nach Location schon

Unterschiede im Umgang gibt.

Ich merke dann schon, wo meine

Grenzen sind. Also eigentlich

nein – oft reicht die Musik nicht,

das Zwischenmenschliche bleibt

immer wichtig.

Kultur Joker: Mit deinen zwei

DJ-Mitstreiter*innen im Kollektiv

ravenna veranstaltest du

auch selbst. Was ist dir dabei

wichtig?

MIU LING: Wir haben ravenna

gegründet, um einerseits einen

Beitrag zum Nachtleben in Freiburg

zu leisten und andererseits,

um insbesondere FLINTA*-DJs

zu buchen und somit zu fördern

(FLINTA* – Frauen, Lesben, intergeschlechtliche,

nichtbinäre,

trans und agender Personen).

Wir stehen noch am Anfang,

aber ich freue mich schon über

den weiteren Austausch mit Leika

und KYA.debrah.

Kultur Joker: Liebe MIU, danke

für das Gespräch!

Schiefe Palmen

Foto: Elisabeth Jockers

Mal ehrlich, schauen Sie

Nachrichten im Urlaub? Als

Journalistin darf ich das eigentlich

nicht zugeben, aber

sogar ich bin ab und zu froh

über Funklöcher – denen begegne

ich zwar meistens auf

Unterstützer*innen der Seite:

deutschen Landstraßen, aber

auch ein Urlaub eignet sich

hervorragend dazu, die Welt

für ein paar Tage Welt sein zu

lassen. Während ich also am

Strand liege, einfach mal in

die Weite starre (was wir übrigens

viel zu selten tun) und

meinen Gedanken freien Lauf

lasse, fällt mein Blick auf eine

schiefe Palme am Strand. Mein

Blick ist nicht ohne Grund

hängengeblieben: Just in diesem

Moment wird sie zwecks

Instagramfoto von Touristen

bestiegen, erschaudert unter

der Last, ächzt lautstark und

biegt sich weiter gen Boden.

Am Tag zuvor erzählte mir ein

Gärtner, sie wäre bei einem

Sturm umgeknickt, aber Dank

des zweiten Stammes scheint

sie genug Halt zu finden. Er

mache sich aber Sorgen um

die Palme – Sorgen, weil die

Touristen ihren Lebenskampf

nicht zu erkennen scheinen.

Ein Kampf, der nach jedem

Tourihintern größer wird – ihr

Seufzen im Winde wird lauter,

ihr Stamm kommt dem Sand

gefährlich nah.

Nun, gerade schrieb ich noch,

ich würde im Urlaub keine

Nachrichten schauen, das

stimmt nicht ganz. Manchmal

fällt mein Blick dann doch

auf eine Pushnachricht und

ich lese die nächste politische

Hiobsbotschaft. Grüne Atomkraft,

steigende Inzidenzen,

bodenlose Militarisierung

und Muskelspiele, Inflation

und ... nanu, das 9-Euro-

Ticket als Gratismentalität.

Kurze Frage: Laufen schiefe

Palmen in der Politik eigentlich

als eigene Gattung? Falls

Botaniker*innen das hier lesen,

würde ich mich über eine

kurze Aufklärung freuen.

Zurück zur Gratismentalität.

Ja, das 9-Euro-Ticket kommt

vor allem Städtern zugute –

übrigens nur deshalb, weil wir

in den letzten Jahrzehnten unseren

Nahverkehr kontinuierlich

abgebaut haben. Doch laut

dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen

ersetzten

zehn Prozent aller Fahrten mit

dem Ticket das Auto, insgesamt

wurden 1,8 Mio. Tonnen

weniger CO2 ausgestoßen.

Nicht nur das Klima freut sich,

auch sozial bewirkte das Ticket

einiges: Viele Familien konnten

das erste Mal überhaupt in

den Urlaub fahren, zahlreiche

Menschen haben sich in die Regionalbahnen

gequetscht, um

einmal die großen und kleinen

Städte ihres Landes besichtigen

zu können. Wenn ein deutscher

Finanzminister hart arbeitenden

Bürger*innen Gratismentalität

vorwirft, weil sie sich bezahlbare

Preise für den öffentlichen

Nahverkehr wünschen, ist das

nicht nur ein Fauxpas, sondern

schlichtweg respektlos!

Eine kleine Rechnung: Nach

Recherchen des Spiegels 2020

verdiente Christian Lindner in

der 19. Legislaturperiode mind.

424.500 € aus Nebentätigkeiten.

Als Finanzminister erhält er

nach Artikel 48, Absatz 3 des

Grundgesetzes zudem eine monatliche

Abgeordnetenentschädigung

von 10.089,47 € und,

damit er uns nicht vom Fleische

fällt, jährlich zum 1. Januar eine

Aufwandspauschale von derzeit

4.497 €. Kurz zusammengerechnet

komme ich auf ein

tägliches Einkommen von ca.

1507 €. Nur zur Orientierung:

das Bruttomonatseinkommen

in z.B. Pflegeberufen liegt zwischen

1.855 € und 3.131 € – monatlich,

Herr Lindner, Sie haben

richtig gehört.

Wie fern Politiker*innen der Lebensrealität

ihrer Bürger*innen

sind, zeigt sich auch bei den

geplanten Steuerentlastungen,

von denen vor allem Personen

mit einem Jahreseinkommen

von 80.000 €+ profitieren. Der

Ökonom Prof. Marcel Fratzscher

twitterte im August dazu:

„Menschen mit geringen Einkommen

erfahren eine 3-4 Mal

stärkere Inflation. (...) Dieser

Plan ist daher kein Inflationsausgleich,

sondern eine Umverteilung

von unten nach oben.“

Derzeit scheint es, als würden

Politiker*innen eine schiefe

Palme sehen, sie als solche

identifizieren und ... sich direkt

draufsetzen. Ich für meinen Teil

spreche mich für ein verpflichtendes

soziales Jahr aus – für

Politiker*innen. Einfach mal

ein Jahr im Pflegeheim oder

Krankenhaus, in der Kita, auf

dem Bau, im Supermarkt, der

Gebäudereinigung oder einem

anderen Beruf arbeiten, der

unser Hamsterrad am Laufen

hält.

Elisabeth Jockers

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