flip-Joker_2022-09
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MIXTAPE KULTUR JOKER 49
Harter Techno und Safer Spaces Ein Interview mit MIU LING
MIU LING ist seit Beginn ihrer
DJ-Karriere 2020 viel unterwegs.
Ob sie in Freiburg,
Basel oder Berlin auflegt – die
Leidenschaft der Wahlfreiburgerin
gilt dem Techno. Auch
setzt sich die Musikerin für
queer-feministische Räume in
der noch immer sehr weißen,
von Männern dominierten
Partyszene ein. Fabian Lutz
hat mit MIU LING über kinky
Partys, Gefuchtel hinterm DJ-
Pult und falsche Vorbilder gesprochen.
Kultur Joker: Anfang August
hast du auf dem Queer & Kinky
Festival „Insel der Freuden“
im Hans Bunte aufgelegt. Unter
„kinky“ versteht man unkonventionelle
sexuelle Praktiken.
Queere Partys im Hans Bunte
gelten auch nicht als ganz unschuldig.
War es die wilde Party,
die man erwartet?
MIU LING: (lacht) Ja, es
war wild, sehr cool. Während
meinem Set habe ich zuerst gar
nicht so viel mitbekommen.
Nach einer halben Stunde ging
es aber voll ab.
Kultur Joker: Brauchst du Einstimmungszeit?
MIU LING: Ja, bis ich in den
Flow komme. Dann spiele ich
intuitiv und nicht mehr so kopflastig.
Nach einer halben Stunde
war die Tanzfläche voll und
neben mir haben Leute auf den
Boxen getanzt. Das war super
schön. Ich mag es, wenn die
anderen so abgehen, ich selbst
kann das nicht immer.
Kultur Joker: Obwohl du ganz
vorne stehst?
MIU LING: Die Leute erwarten
oft, dass man die Crowd
anleitet, mit riesigem Gefuchtel
und Show. Ich versuche, einen
Mittelweg zu finden, der noch zu
mir passt. Ich freue mich, wenn
Leute neben mir tanzen und
das übernehmen. Dann kann
ich mich einfach um die Musik
kümmern.
Kultur Joker: Harter Techno –
war das schon immer dein Ding?
MIU LING: Ich hatte schon
immer ein Faible für düsteren
Expressionismus, ob düsterer
Rock / Metal oder finstere Fantasy
/ Science Fiction. Beim Feiern
kann ich gerade bei einem
harten, düsteren Sound meinen
Kopf abschalten und loslassen.
Kultur Joker: Trittst du oft auf
queeren, kinky Partys wie der
„Insel der Freuden“ auf?
MIU LING: Nicht unbedingt,
in Freiburg werde ich trotzdem
vor allem für solche Partys gebucht.
Vielleicht liegt es daran,
dass ich queer bin und einen für
Freiburg eher härteren Techno
auflege. Bei anderen Events hat
das noch nicht so viel Raum.
Kultur Joker: Was macht die
„Insel der Freuden“ für dich
aus?
MIU LING: Die Leute sind
ausgelassener, gleichzeitig ist es
ein sicherer Ort für die queere
Community. Wir haben dort
eine Freiheit, unsere sexuelle
Orientierung auszuleben, die
wir noch nicht überall haben. Ich
bin in Basel aufgewachsen und
habe da viel gefeiert. In Basel
sind fast alle DJs cis-männlich
und weiß. Bis vor zwei Jahren
hatte ich nie den Gedankentransfer
gemacht, als weibliche,
nicht-weiße Person dasselbe zu
machen – obwohl ich Techno
feiere und schon immer Musik
gemacht habe.
Kultur Joker: Eine Frage der
Vorbilder.
MIU LING: Dass ich nie den
Gedanken hatte, selbst DJ zu
werden, ist im Nachhinein erschreckend.
Das liegt daran,
dass ich niemanden gesehen
hatte, mit dem ich mich identifizieren
konnte. Auch weibliche
DJs sind meistens weiß, jung,
normschön. Da ist es schwierig,
anders zu sein. Ich frage mich
dann immer: Ist es okay, wenn
ich jetzt vor der Menge stehe.
Reicht die Musik?
Kultur Joker: Und? Reicht die
Musik?
MIU LING bei der „Insel der Freuden“ im Hans Bunte
Foto: MIU LING
MIU LING: Ich denke bisher ja.
Wobei es je nach Location schon
Unterschiede im Umgang gibt.
Ich merke dann schon, wo meine
Grenzen sind. Also eigentlich
nein – oft reicht die Musik nicht,
das Zwischenmenschliche bleibt
immer wichtig.
Kultur Joker: Mit deinen zwei
DJ-Mitstreiter*innen im Kollektiv
ravenna veranstaltest du
auch selbst. Was ist dir dabei
wichtig?
MIU LING: Wir haben ravenna
gegründet, um einerseits einen
Beitrag zum Nachtleben in Freiburg
zu leisten und andererseits,
um insbesondere FLINTA*-DJs
zu buchen und somit zu fördern
(FLINTA* – Frauen, Lesben, intergeschlechtliche,
nichtbinäre,
trans und agender Personen).
Wir stehen noch am Anfang,
aber ich freue mich schon über
den weiteren Austausch mit Leika
und KYA.debrah.
Kultur Joker: Liebe MIU, danke
für das Gespräch!
Schiefe Palmen
Foto: Elisabeth Jockers
Mal ehrlich, schauen Sie
Nachrichten im Urlaub? Als
Journalistin darf ich das eigentlich
nicht zugeben, aber
sogar ich bin ab und zu froh
über Funklöcher – denen begegne
ich zwar meistens auf
Unterstützer*innen der Seite:
deutschen Landstraßen, aber
auch ein Urlaub eignet sich
hervorragend dazu, die Welt
für ein paar Tage Welt sein zu
lassen. Während ich also am
Strand liege, einfach mal in
die Weite starre (was wir übrigens
viel zu selten tun) und
meinen Gedanken freien Lauf
lasse, fällt mein Blick auf eine
schiefe Palme am Strand. Mein
Blick ist nicht ohne Grund
hängengeblieben: Just in diesem
Moment wird sie zwecks
Instagramfoto von Touristen
bestiegen, erschaudert unter
der Last, ächzt lautstark und
biegt sich weiter gen Boden.
Am Tag zuvor erzählte mir ein
Gärtner, sie wäre bei einem
Sturm umgeknickt, aber Dank
des zweiten Stammes scheint
sie genug Halt zu finden. Er
mache sich aber Sorgen um
die Palme – Sorgen, weil die
Touristen ihren Lebenskampf
nicht zu erkennen scheinen.
Ein Kampf, der nach jedem
Tourihintern größer wird – ihr
Seufzen im Winde wird lauter,
ihr Stamm kommt dem Sand
gefährlich nah.
Nun, gerade schrieb ich noch,
ich würde im Urlaub keine
Nachrichten schauen, das
stimmt nicht ganz. Manchmal
fällt mein Blick dann doch
auf eine Pushnachricht und
ich lese die nächste politische
Hiobsbotschaft. Grüne Atomkraft,
steigende Inzidenzen,
bodenlose Militarisierung
und Muskelspiele, Inflation
und ... nanu, das 9-Euro-
Ticket als Gratismentalität.
Kurze Frage: Laufen schiefe
Palmen in der Politik eigentlich
als eigene Gattung? Falls
Botaniker*innen das hier lesen,
würde ich mich über eine
kurze Aufklärung freuen.
Zurück zur Gratismentalität.
Ja, das 9-Euro-Ticket kommt
vor allem Städtern zugute –
übrigens nur deshalb, weil wir
in den letzten Jahrzehnten unseren
Nahverkehr kontinuierlich
abgebaut haben. Doch laut
dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen
ersetzten
zehn Prozent aller Fahrten mit
dem Ticket das Auto, insgesamt
wurden 1,8 Mio. Tonnen
weniger CO2 ausgestoßen.
Nicht nur das Klima freut sich,
auch sozial bewirkte das Ticket
einiges: Viele Familien konnten
das erste Mal überhaupt in
den Urlaub fahren, zahlreiche
Menschen haben sich in die Regionalbahnen
gequetscht, um
einmal die großen und kleinen
Städte ihres Landes besichtigen
zu können. Wenn ein deutscher
Finanzminister hart arbeitenden
Bürger*innen Gratismentalität
vorwirft, weil sie sich bezahlbare
Preise für den öffentlichen
Nahverkehr wünschen, ist das
nicht nur ein Fauxpas, sondern
schlichtweg respektlos!
Eine kleine Rechnung: Nach
Recherchen des Spiegels 2020
verdiente Christian Lindner in
der 19. Legislaturperiode mind.
424.500 € aus Nebentätigkeiten.
Als Finanzminister erhält er
nach Artikel 48, Absatz 3 des
Grundgesetzes zudem eine monatliche
Abgeordnetenentschädigung
von 10.089,47 € und,
damit er uns nicht vom Fleische
fällt, jährlich zum 1. Januar eine
Aufwandspauschale von derzeit
4.497 €. Kurz zusammengerechnet
komme ich auf ein
tägliches Einkommen von ca.
1507 €. Nur zur Orientierung:
das Bruttomonatseinkommen
in z.B. Pflegeberufen liegt zwischen
1.855 € und 3.131 € – monatlich,
Herr Lindner, Sie haben
richtig gehört.
Wie fern Politiker*innen der Lebensrealität
ihrer Bürger*innen
sind, zeigt sich auch bei den
geplanten Steuerentlastungen,
von denen vor allem Personen
mit einem Jahreseinkommen
von 80.000 €+ profitieren. Der
Ökonom Prof. Marcel Fratzscher
twitterte im August dazu:
„Menschen mit geringen Einkommen
erfahren eine 3-4 Mal
stärkere Inflation. (...) Dieser
Plan ist daher kein Inflationsausgleich,
sondern eine Umverteilung
von unten nach oben.“
Derzeit scheint es, als würden
Politiker*innen eine schiefe
Palme sehen, sie als solche
identifizieren und ... sich direkt
draufsetzen. Ich für meinen Teil
spreche mich für ein verpflichtendes
soziales Jahr aus – für
Politiker*innen. Einfach mal
ein Jahr im Pflegeheim oder
Krankenhaus, in der Kita, auf
dem Bau, im Supermarkt, der
Gebäudereinigung oder einem
anderen Beruf arbeiten, der
unser Hamsterrad am Laufen
hält.
Elisabeth Jockers