flip-Joker_2022-09
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42 KULTUR JOKER INTERVIEW
Publikum den Weg nicht mitgeht?
de Ridder: Die Blockbuster
werden schon noch kommen,
aber in der ersten Saison möchte
ich ohne kommerziellen Zwänge
programmieren. Wir hätten kein
vielgestaltigeres, aufregenderes
Programm wählen können.
Dafür werde ich auch beim Publikum
werben. Außerdem sind
mit den Wiederaufnahmen der
großartigen „Madame Butterfly“,
der erst wenig gespielten
„Macbeth“-Produktion und von
„Le Nozze di Figaro“ einige sehr
bekannte Opern im Programm.
Alban Bergs Oper „Wozzek“,
meine erste Premiere am 26. November
2022, ist ein echter Herzenswunsch
von mir.
Kultur Joker: Haben Sie die
Oper schon dirigiert?
de Ridder: Die sinfonischen
Fragmente habe ich schon dirigiert,
die Oper noch nicht. Aber
ich habe mich mit diesem fantastischen
Werk schon intensiv
in meiner Studienzeit auseinandergesetzt.
Der Stoff ist vielen
bekannt – da kann man sich ganz
auf die Musik einlassen. Wie Alban
Berg das Originalstück von
Georg Büchner mit Formenstrenge
und höchster Expressivitätzum
Klingen bringt, das beeindruckt
mich immer wieder neu. Auch
bei Nico Muhlys „Marnie“, das
wir am 14. Januar 2023 als deutsche
Erstaufführung präsentieren,
ist die Handlung durch die legendäre
Hitchcock-Verfilmung von
1964 vielen vertraut. Nico Muhly,
den ich persönlich gut kenne, ist
sozusagen ein Enkel von Philipp
Glass und Steve Reich. In seinem
Postminimalismus hat Muhlyeine
eigene, erkennbare Sprache entwickelt.
Für mich steht er genau
zwischen John Adams und Benjamin
Britten. Seine Musiksprache
ist zugänglich und theatralisch
zugleich. Wozzeck und Marnie
lassen in ihrem eigenen Kopf
Welten entstehen und leben ihre
Psychosen aus. Das gilt auch für
Odysseus, dem ich mich in meiner
dritten Premiere widme.
Kultur Joker: Das wird Claudio
Monteverdis 1640 uraufgeführte
Oper „Il ritornod’Ulisse in Patria“
am 8. Juli 2023 sein. Werden
Sie das mit dem Philharmonischen
Orchester spielen?
de Ridder: Wir werden sicherlich
einige Originalinstrumente
dabeihaben – ich selbst habe
Barockvioline studiert – aber ich
finde es wichtig, dass man auch
mit einem modernen Sinfonieorchester
auf eine aufregende
Art und Weisealte Musik spielen
kann. Die Geschichte, die in dieser
Oper nach der „Odysee“ von
Homer erzählt wird, ist mit den
Themen Vertreibung, Fluchtund
Verlust der Heimat heute sehr
aktuell.
Kultur Joker: Was ist für Sie
gutes Musiktheater?
de Ridder: Wenn man versteht,
warum man in der Oper singt
anstatt zu sprechen. Gutes Musiktheater
fügt einer Geschichte
immer eine weitere Ebene hinzu
und hilft zu einem emotionalen
oder auch intellektuellen Zugang.
Kultur Joker: Sie haben vor
acht Jahren ein Künstlerkollektiv
namens „Stargaze“ (in die
Sterne schauen) gegründet, das
demokratisch organisiert ist und
meistens nicht nach Noten spielt,
sondern improvisiert. Nehmen
Sie davon etwas mit in die Arbeit
mit dem Philharmonischen Orchester
Freiburg?
de Ridder: Wir beschäftigen uns
in diesem Kollektiv mit ganz unterschiedlichen
Arten von Musik
und komponieren auch selbst
Musikstücke zu bestimmten Projekten.
Wir treffen auch mal auf
eine Rockband und kombinieren
unsere zeitgenössischen Stücke
mit jenen der Band. Das war
für mich die Blaupause für den
„Freiburg.Phil.Club“, den wir in
der kommenden Saison mit vier
Konzerten einführen. Beim ersten
Konzert laden wir die Hamburger
Band 1000 Robotains Kleine
Haus ein. Das Philharmonische
Orchester wird zur Vorband. Gemeinsam
spielen wir eine 20-minütige
Version von „Autobahn“,
dem großen 70er-Jahre-Hit der
Band Kraftwerk. Danach stellt
1000 Robota ein Tag nach dem
Erscheinen ihr neues Album vor.
Ich moderiere diese Konzerte, die
auch im Jazzhaus und im Slow
Club stattfinden.
Kultur Joker: Das Konzertprogramm
steht unter dem Motto
Creation/Extinction, also Schöpfung
und Auslöschung. Was bedeutet
das gegensätzliche Motto?
de Ridder: Es hat verschiedene
Bedeutungen. Insgesamt geht es
mir um die gesellschaftliche Relevanz
von Kultur, die ja auch in
der Coronapandemie sehr diskutiert
wurde. Auf die Programmidee
bin ich durch den Wunsch
des Philharmonischen Orchesters
gekommen, auch wieder einmal
klassische Oratorien zu spielen.
Mit der Ouvertüre zu „Die
Schöpfung“ von Joseph Haydn
beginnen wir die Konzertsaison,
mit dem vollständigen Oratorium
beenden wir sie. Dabei kombinieren
wir das Werk mit Liza Lims
Komposition „Extinctionevents
and dawnchorus“, die sich mit
der zerstörerischen Ansammlung
von Plastikmüll in den Meeren
auseinandersetzt.
Kultur Joker: Zu diesem Konzert
gibt es laut Saisonvorschau
noch einen Kommentar des Philosophen
Markus Gabriel.
de Ridder: Wir bringen die Werkeinführung
mitten ins Konzert.
Beethoven war ein Kind der
Kantschen Aufklärung, Markus
Gabriel ist ein Vertreter der neuen
Aufklärung. Sein jüngstes Buch
heißt „Moralischer Fortschritt
in dunklen Zeiten“. Beim neuen
Konzertformat der Podcastkonzertekönnen
wir noch weitergehen.
Wir stellen mit dem Orchester
Teile der Musik vor, sprechen
über Wirkung und Zusammenhänge,
auch mit dem Publikum.
Kultur Joker: Nachdenken über
Musik?
de Ridder: Ja, aber nicht pädagogisch
verstanden. Durch
gewisse Gedanken oder philosophische
Ideen ändert sich das
Hören – das finde ich spannend.
Mir geht es immer um die Musik,
nicht um politische Forderungen.
Kultur Joker: Aber wenn sie jetzt
ein Stück spielen, das sich speziell
mit der Verschmutzung der
Meere auseinandersetzt, dann
steckt doch auch eine politische
Dimension dahinter. Und auch
eine Aufforderung an die Zuhörer,
über das Thema nachzudenken
und sich dafür zu sensibilisieren.
de Ridder: Sensibilisierung ist
genau das richtige Wort. Darum
geht es mir. Ich lasse in den
Konzerten Kontraste aufeinanderprallen.
Bei Haydn wird die
Schönheit der Natur gepriesen,
bei Lim von deren Zerstörung
berichtet. Die Musik von Liza
Lim ist trotzdem schön, aber sie
erzählt von der Zerbrechlichkeit
der Natur. Im ersten Sinfoniekonzert
am 15. November 2022 trifft
Igor Strawinskys Tanz der Erde
„Le Sacre du Printemps“ auf das
fragile, magmaartige Werk „Catamorphosis“
der Isländerin Anna
Thorvaldsdottir. Richard Strauss‘
Alpensinfonie wird beim 4. Sinfoniekonzert
am 14. Februar
2023 mit Judith Weirs „Natural
History“ für Sopran und Orchester
kombiniert, das sich mit
fernöstlicher Naturphilosophie
auseinandersetzt.
Kultur Joker: Am 18. September
2022 gibt es ein Willkommenskonzert,
das Sie dirigieren werden.
Was erwartet das Publikum
da?
de Ridder: Das möchte ich noch
nicht verraten, aber es sind alles
Foto: Marco Borggreve
Werke, die mit mir und meinem
musikalischen Leben zu tun haben.
Maurice Ravels Bolero ist
bei diesem von mir moderierten
Konzert dabei. Und ein Werk
wird das Saisonthema creation/extinction
durch eine junge
Komponistin thematisieren.Dabei
wird auch eine europäische
Erstaufführung zu hören sein.
Kultur Joker: Worauf freuen Sie
sich am meisten?
de Ridder: Auf das fantastische
Solistenensemble und die Arbeit
mit dem Philharmonischen Orchester.
Mit Menschen gemeinsam
etwas auf die Beine stellen,
was andere Menschen bewegt –
das ist meine größte Freude.
Kultur Joker: Und wovor haben
Sie den größten Respekt?
de Ridder: Vor der Routine.
Ich möchte die notwendige administrative
Arbeit in eine gute
Balance bringen mit der künstlerischen
– das wird nicht einfach
sein. Vor dieser Aufgabe habe ich
den größten Respekt.
Kultur Joker: Was wünschen Sie
sich für Ihre erste Spielzeit?
de Ridder: Dass ich möglichst
schnell mit dem Publikum in
Kontakt komme und spüre, was
die Menschen in Freiburg bewegt.
Und ich wünsche mir natürlich,
dass zumindest ein paar unserer
neuen Angebote und Ideen angenommen
werden.
Kultur Joker: Herr de Ridder, wir
bedanken uns für das Gespräch
und wünschen Ihnen einen guten
Start in Freiburg.
Willkommenskonzert des Philharmonischen
Orchesters Freiburg
unter André de Ridder am
18. September 2022 um 18 Uhr
im Theater Freiburg, Großes
Haus.