flip-Joker_2022-09
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Die Geschichte wiederholt sich
4 KULTUR JOKER THEATER
Andriy Zholdak inszeniert einen musikalisch starken „Macbeth“ am Theater Freiburg
Roxana Herrera Diaz und Lorenz Kauffer
Foto: Martin Sigmund
Ein Herrscher, dessen Gier
nach Macht unersättlich ist,
der buchstäblich über Leichen
geht und einen Flüchtlingsstrom
auslöst. Macbeth zieht
eine Blutspur hinter sich und
scheint in seinem Wahn von
niemandem gestoppt werden
zu können. Sicherlich hätte der
ukrainische Regisseur Andriy
Zholdak diese Geschichte am
Freiburger Theater ganz aktuell
erzählen können, aber ein
Foto eines zerstörten Hochhauses,
das aus der Ukraine
stammen könnte und vor dem
dritten Akt von Giuseppe Verdis
Oper auf der Leinwand zu
sehen ist, bleibt der einzige Bezug
zum von Wladimir Putin
befohlenen Krieg Russlands
gegen sein Heimatland.
Schon in seiner Freiburger
Inszenierung von Pergolesis
„Stabat Mater“ vor zwei Jahren
verwendete Zholdak eher
lose Assoziationen und eine
symbolische Bildsprache.
Auch sein „Macbeth“ bleibt
unkonkret. Gewalt wird nur
angedeutet – die brutale Geschichte
kommt ohne einen
Tropfen Kunstblut aus. Im Videovorspann
traben Hirsche
durch eine Winterlandschaft.
Römische Ziffern von I bis
XII, von denen einige im Laufe
des Abends herunterfallen,
schmücken die Wand des klassizistischen,
schwarz-weiß gestalteten
Palastes (Bühne und
Videodesign: Daniel Zholdak).
Die Hexen sind Grazien, die
elfengleich in luftigen Sommerkleidern
über die Bühne
springen (Kostüme: Simon
Machabeli), aber auch mal wie
Nornen Schicksalsfäden spinnen.
Büchern und Spiegeln gilt
ebenfalls die Aufmerksamkeit
der Regie. Die einzelnen Stränge
von Zholdaks Regiearbeit
bleiben jedoch lose und verheddern
sich auch manchmal,
wenn ein skurriles Dienerpaar
immer wieder die Spannung
bricht und der glatzköpfige
Doktor (Lorenz Kauffer) im
vierten Akt, warum auch immer,
mit engem Abendkleid
und High Heels herumstöckelt.
Musikalisch hinterlässt der
szenisch zu wenig fokussierte
Abend einen starken Eindruck.
Das liegt zum einen
am Philharmonischen Orchester
Freiburg, das einen
plastischen Klang entwickelt
und die Wechsel zwischen
Hell und Dunkel, Leicht und
Schwer auskostet. Der erste
Kapellmeister Ektoras Tartanis
schärft die Kontraste und
lässt das Orchester auch mal so
knackig wie eine Banda klingen.
Nur in der rhythmischen
Präzision bleiben am Premierenabend
noch Wünsche offen.
Auch der Chor- und Extrachor
(Leitung: Norbert Kleinschmidt)
ist in seinen vielen Auftritten
so variabel wie voluminös.
Tartanis führt die dröhnenden
Massenszenen bis zur
Schmerzgrenze, aber nie darüber
hinaus – die klangliche
Balance bleibt gewahrt.
Juan Oroczo macht mit seinem
gewaltigen, dunkel timbrierten,
nicht immer intonationsreinen
Bariton aus Macbeth
einen machthungrigen Getriebenen,
der seine Gewissensbisse
verdrängt und durchaus
Gefallen findet an der lolitagleichen
Hexe (Marlene Hanhörster),
die ihn fast permanent
herausfordert. Roxana Herrera
Diaz ist als Lady Macbeth die
starke Frau, die mit Machtinstinkt
und Skrupellosigkeit
das Geschehen vorantreibt.
Die chilenische Sopranistin
beglückt mit großer Durchschlagskraft,
aber auch vielen
Zwischentönen. Dem unheilvollen
Paar fällt neben König
Duncan auch Banco (mit erdigem
Bass: Jin Seok Lee) zum
Opfer. Erst Macduff (mit lyrischem
Schmelz, aber zu forciert:
Junbum Lee) gelingt es
in der finalen Schlacht, Macbeth
zu töten, indem er auf der
Freiburger Bühne im Armdrücken
gegen ihn gewinnt, nachdem
er alle Zimmerpflanzen
(Wald von Birnam?) umgeworfen
hat – auch hier fehlt es leider
an szenischer Verdichtung.
Am Ende hat Duncans Sohn
Malcom (Hyun Han Hwang)
die Krone auf. Sogleich wird
der neue König von Lolita bezirzt.
Die Geschichte wiederholt
sich.
Weitere Vorstellungen: 8.10.,
1./10./20./30.11., www.theater.
freiburg.de
Georg Rudiger
Musiktheater mit neuem Generalmusikdirektor
Saisonvorschau 2022/23 des Theater Freiburg
Der aus Berlin gekommene,
neue Generalmusikdirektor André
de Ridder freut sich auf die spannende
Zusammenarbeit und lobt
die „kollaborative Atmosphäre“
im Team. Die Musiktheatersparte
beginnt am 2. Oktober mit dem
coronabedingt mehrfach verschobenen
„Freischütz“, der vom
Künstlerkollektiv „Showcase Beat
Le Mot“ in Szene gesetzt wird. Dirigiert
wird die romantische Oper
vom 1. Kapellmeister Ektoras Tartanis
ebenso wie „Rusalka“ von
Antonín Dvořák am 11.03.2023
(Regie: Kateryna Sokolova). André
de Ridder stellt sich am 26.
November als Operndirigent mit
Alban Bergs Oper „Wozzeck“ vor
(Regie: Marco Storman). Weiter
hat sich der neue GMD in der Regie
von Intendant Peter Carp die
deutsche Erstaufführung von Nico
Muhlys „Marnie“ (2017), bekannt
durch die Hitchcockverfilmung,
und zum Saisonabschluss die
1646 komponierte Oper „Il ritorno
d’Ulisse in patria“ von Claudio
Monteverdi ausgesucht, die der
bekannte Regisseur David Marton
inszenieren wird. Die „Dreigroschenoper“
(13.05.23) sowie
insgesamt drei Uraufführungen
(Doppelabend „Escape“/Ying
Wang/Huihui Cheng mit dem
SWR Experimentalstudio am
9.10.22 und „Neuro Moon. Manage
your memories“/Sara Glojnaric
am 7.5.23) komplettieren die ambitionierte
Spielzeit.
Im Konzertbereich führt André
de Ridder mit dem „Freiburg.
Phil.Club“ (moderiertes Zusammentreffen
des Philharmonischen
Orchesters mit Gästen aus Pop/
Elektronik/Jazz) und den Podcastkonzerten
(moderiertes Konzert
mit Hintergründen, später als
Podcast verfügbar) neue Formate
ein. Die unter dem Motto Creation/Extinction
(Erschaffung/Auslöschung)
stehende Saison sucht in
den Konzerten Denkanstöße und
starke Kontraste. Bekannte, groß
besetzte Werke wie Strawinskys
Ballettmusik „Le sacre du Printemps“
(15.11.), Richard Strauss’
„Alpensinfonie“ (14.2.23) oder
Gustav Holsts „Die Planeten“ werden
mit zeitgenössischen Kompositionen
wie Anna Thorvaldsdottir
„Catamorphosis“, Judith Weirs
„Natural History“ (Sopran: Caroline
Melzer) und Richard Reed
Parrys und Bryce Dessners „Wave
Moments“ (mit einem Film von
Hiroshi Sugimoto) konfrontiert.
Mit Joseph Haydns Oratorium
„Die Schöpfung“ endet das acht
Sinfoniekonzerte umfassende
Konzertabonnement. Auch dieses
Werk wird durch Liza Lims „Extinction
events and down chorus“,
das sich mit der Verschmutzung
der Meere auseinandersetzt, in
einen besonderen Kontext gesetzt.
Georg Rudiger