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Pico della Mirandola (Herausgegeben und kommentiert von Jörg Lauster): Über die Würde des Menschen (Leseprobe)

»Phönix der Geister« nannten ihn seine Zeitgenossen, von einem Mozart für Philosophen spricht einer seiner besten Kenner in der Gegenwart. Pico della Mirandola wurde in seinem kurzen Leben vor allem für eine Rede berühmt, die ihn der Papst nie halten ließ, die »Oratio de hominis dignitate«. Sie gilt als ein Glanzpunkt des Menschenverständnisses der Renaissance, das tief in der christlichen Tradition wurzelt. Pico interpretiert die Erschaffung zur Gottebenbildlichkeit als Auftrag, das Menschsein in freier Selbsttätigkeit als Angleichung an Gott zu gestalten. Seine Einsichten zu Menschenbild und idealer Lebensführung stützt er auf ein umfassend philosophisch-theologisches Programm, das nicht nur Christentum, antike Philosophie und Weisheitstraditionen, sondern auch Christentum und Judentum miteinander versöhnen will.

»Phönix der Geister« nannten ihn seine Zeitgenossen, von einem Mozart für Philosophen spricht einer seiner besten Kenner in der Gegenwart. Pico della Mirandola wurde in seinem kurzen Leben vor allem für eine Rede berühmt, die ihn der Papst nie halten ließ, die »Oratio de hominis dignitate«. Sie gilt als ein Glanzpunkt des Menschenverständnisses der Renaissance, das tief in der christlichen Tradition wurzelt.
Pico interpretiert die Erschaffung zur Gottebenbildlichkeit als Auftrag, das Menschsein in freier Selbsttätigkeit als Angleichung an Gott zu gestalten. Seine Einsichten zu Menschenbild und idealer Lebensführung stützt er auf ein umfassend philosophisch-theologisches Programm, das nicht nur Christentum, antike Philosophie und Weisheitstraditionen, sondern auch Christentum und Judentum miteinander versöhnen will.

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Große Texte der Christenheit (GTCh) | 13<br />

Pico della <strong>Mirandola</strong><br />

<strong>Über</strong> <strong>die</strong> <strong>Würde</strong><br />

<strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

<strong>Herausgegeben</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>kommentiert</strong> <strong>von</strong> <strong>Jörg</strong> <strong>Lauster</strong>


Vorwort<br />

Giovanni Pico della <strong>Mirandola</strong>s <strong>Über</strong> <strong>die</strong> <strong>Würde</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

(De hominis dignitate ) ist in der europäischen Kultur- <strong>und</strong><br />

Religionsgeschichte eine der berühmtesten Reden, <strong>die</strong> nie<br />

gehalten wurden. Der junge Graf verfasste sie 1486 als Eröffnung<br />

zu 900 Thesen, auf deren Gr<strong>und</strong>lage er mit den Gelehrten<br />

seiner Zeit über <strong>die</strong> Versöhnung der philosophischen<br />

<strong>und</strong> religiösen Traditionen nicht nur Europas, sondern der<br />

ihm bekannten Welt diskutieren wollte. Die in Rom geplante<br />

Disputation kam nie zustande <strong>und</strong> darum wurde <strong>die</strong> Rede<br />

auch nie gehalten.<br />

Pico feiert <strong>die</strong> besondere Stellung der <strong>Menschen</strong> im Aufbau<br />

<strong>des</strong> Universums <strong>und</strong> entfaltet, was sich daraus für das<br />

Leben der <strong>Menschen</strong> ergibt. Sein erhabenes Bild <strong>von</strong> der<br />

Menschheit <strong>und</strong> ihrer Aufgabe in der Welt ist durch <strong>und</strong><br />

durch christlich geprägt. Schon allein darum gehört <strong>die</strong> Rede<br />

in <strong>die</strong> Reihe der großen Texten <strong>des</strong> Christentums. Die Zeitgenossen<br />

priesen Pico, der mit seinen theologischen <strong>und</strong> philosophischen<br />

Gedanken früh an <strong>die</strong> Öffentlichkeit trat <strong>und</strong><br />

jung starb, als „W<strong>und</strong>erkind“ <strong>und</strong> „Phönix der Geister“, in<br />

der Gegenwart gilt er als „Mozart für Philosophen“. Picos Text<br />

wurde einflussreich für das Selbstverständnis der <strong>Menschen</strong><br />

in der Moderne, man sah darin ein Vermächtnis, das an <strong>die</strong><br />

<strong>Würde</strong> <strong>und</strong> an <strong>die</strong> Freiheit der <strong>Menschen</strong> appellierte. Beide<br />

sind für Pico jedoch nicht ohne ein christliches F<strong>und</strong>ament<br />

zu denken. In <strong>die</strong> Euphorie, <strong>die</strong> im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert ihren Höhepunkt<br />

erreicht, mischen sich inzwischen kritische Töne aus<br />

unterschiedlichen Richtungen. Seit dem Ende <strong>des</strong> 20. Jahr-<br />

5


Vorwort<br />

h<strong>und</strong>erts mehren sich in der Erforschung der Werke Picos <strong>die</strong><br />

Stimmen, <strong>die</strong> seine Wirkung für ein großes Missverständnis<br />

halten. Seine neuplatonisch geprägte <strong>und</strong> bisweilen auch<br />

scholastisch geformte Anthropologie könne nicht mühelos in<br />

<strong>die</strong> Moderne transportiert werden, <strong>die</strong> vom <strong>Menschen</strong> ganz<br />

anders denke. Andere wiederum halten Pico für einen Vertreter<br />

fataler menschlicher Selbstüberschätzung, <strong>die</strong> das Anthropozän<br />

präge. Ziel der folgenden Ausgabe ist es, in Picos<br />

Denken einzuführen, <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>gedanken seiner Rede vorzustellen,<br />

<strong>die</strong> Einwände zu diskutieren <strong>und</strong> am Ende zu fragen,<br />

was wir heute <strong>von</strong> einem prominenten Vertreter der christlichen<br />

Renaissance für <strong>die</strong> Herausforderungen <strong>des</strong> Christentums<br />

in der Gegenwart lernen können.<br />

Den Herausgebern danke ich für <strong>die</strong> kritische Durchsicht <strong>des</strong><br />

Manuskripts <strong>und</strong> <strong>die</strong> geistreichen Anregungen. Frau Dr. Annette<br />

Weidhas <strong>und</strong> dem Verlag danke ich für <strong>die</strong> gute Zusammenarbeit.<br />

Barbara Rappenglück <strong>und</strong> Fanny Sommerfeld haben<br />

sich um Literaturbeschaffung <strong>und</strong> Korrekturen gekümmert.<br />

Dafür gilt auch ihnen mein herzlicher Dank.<br />

<strong>Jörg</strong> <strong>Lauster</strong><br />

Juli 2022<br />

6


Inhalt<br />

A Der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

B Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87<br />

1. Giovanni Pico della <strong>Mirandola</strong> <strong>und</strong> seine Zeit . . . . . . . . . . . . . 88<br />

2. Kampf der Interpretationen – <strong>die</strong> vielen Picos . . . . . . . . . . . . . 95<br />

3. Picos Motive <strong>und</strong> Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111<br />

4. Die Rede über <strong>die</strong> <strong>Würde</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143<br />

5. Picos Vermächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165<br />

C Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171<br />

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172<br />

Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172<br />

Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173<br />

7


A<br />

Der Text


Pico della <strong>Mirandola</strong><br />

Legi, Patres colendissimi, in Arabum monumentis, interrogatum<br />

Abdalam Sarracenum, quid in hac quasi m<strong>und</strong>ana<br />

scaena admirandum maxime spectaretur, nihil spectari homine<br />

admirabilius respondisse. Cui sententiae illud Mercurii<br />

adstipulatur: Magnum, o Asclepi, miraculum est homo. Horum<br />

dictorum rationem cogitanti mihi non satis illa faciebant,<br />

quae multa de humanae naturae praestantia afferuntur<br />

a multis: esse hominem creaturarum internuntium, superis<br />

familiarem, regem inferiorum; sensuum perspicacia,<br />

rationis indagine, intelligentiae lumine, naturae interpretem;<br />

stabilis aevi et fluxi temporis interstitium, et (quod Persae<br />

dicunt) m<strong>und</strong>i copulam, immo hymenaeum, ab angelis,<br />

teste Davide, paulo deminutum. Magna haec quidem, sed<br />

non principalia, i<strong>des</strong>t quae summae admirationis Privilegium<br />

sibi iure vendicent. Cur enim non ipsos angelos et<br />

beatissimos caeli choros magis admiremur? Tandem intellexisse<br />

mihi sum visus, cur felicissimum proindeque dignum<br />

omni admiratione animal sit homo, et quae sit demum illa<br />

conditio quam in universi serie sortitus sit, non brutis modo,<br />

sed astris, sed ultram<strong>und</strong>anis mentibus invidiosam. Res<br />

supra fidem et mira. Quidni? Nam et propterea magnum<br />

miraculum et admirandum profecto animal iure homo et<br />

dicitur et existimatur. Sed quaenam ea sit audite, Patres, et<br />

10


<strong>Über</strong> <strong>die</strong> <strong>Würde</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> (De hominis dignitate)<br />

Ich las in den Werken der Araber, ehrenwerte Väter, der Sarazene<br />

Abdala habe auf <strong>die</strong> Frage, was es auf <strong>die</strong>ser irdischen<br />

Bühne, um einmal den Ausdruck zu benutzen, als das am<br />

meisten Bew<strong>und</strong>erungswürdige zu sehen gebe, geantwortet:<br />

nichts W<strong>und</strong>erbareres als den <strong>Menschen</strong>. Dieser Ansicht<br />

pflichtet jenes Wort <strong>des</strong> Merkur bei: Ein großes W<strong>und</strong>er,<br />

Asclepius, ist der Mensch. Da ich über den Sinn <strong>die</strong>ser Aussprüche<br />

nachdachte, befriedigte mich nicht, was alles über<br />

<strong>die</strong> Vorzüglichkeit der menschlichen Natur <strong>von</strong> vielen angeführt<br />

wird: der Mensch sei Vermittler zwischen den Geschöpfen,<br />

mit den Göttern vertraut, König über <strong>die</strong> niedrigeren<br />

Wesen; mit seiner Sinnesschärfe, der Forschungskraft<br />

seiner Vernunft, dem Licht seines Verstan<strong>des</strong> sei er der Deuter<br />

der Natur; er sei der Zwischenraum zwischen dauernder<br />

Ewigkeit <strong>und</strong> fließender Zeit <strong>und</strong> (wie <strong>die</strong> Perser sagen) das<br />

Bindeglied der Welt, ja mehr noch ihr Hochzeitslied, nach<br />

dem Zeugnis <strong>des</strong> David nur wenig geringer als <strong>die</strong> Engel.<br />

Diese Eigenschaften sind zwar bedeutend, aber nicht <strong>die</strong><br />

hauptsächlichen, das heißt <strong>die</strong> mit Recht das Privileg der<br />

höchsten Bew<strong>und</strong>erung für sich beanspruchten. Warum<br />

nämlich sollten wir nicht <strong>die</strong> Engel selbst <strong>und</strong> <strong>die</strong> seligen<br />

Chöre <strong>des</strong> Himmels mehr bew<strong>und</strong>ern? Endlich glaubte ich<br />

verstanden zu haben, warum der Mensch das am meisten<br />

ge segnete <strong>und</strong> daher ein jeder Bew<strong>und</strong>erung würdiges Lebewesen<br />

ist <strong>und</strong> was für eine Stellung es schließlich ist, <strong>die</strong> ihm<br />

in der Reihe <strong>des</strong> Universums zuteil geworden ist <strong>und</strong> um<br />

<strong>die</strong> ihn nicht nur <strong>die</strong> vernunftlosen Geschöpfe, sondern <strong>die</strong><br />

Sterne, <strong>die</strong> überweltlichen Geister gar beneiden müssen. Die<br />

Sache ist unglaublich <strong>und</strong> w<strong>und</strong>erbar. Warum auch nicht?<br />

Denn <strong>des</strong>halb wird der Mensch zu Recht ein großes W<strong>und</strong>er<br />

<strong>und</strong> ein in der Tat beneidenswertes Lebewesen genannt <strong>und</strong><br />

auch dafür gehalten. Worum es sich bei <strong>die</strong>ser Stellung han-<br />

11


Pico della <strong>Mirandola</strong><br />

benignis auribus pro vestra humanitate hanc mihi operam<br />

condonate.<br />

Iam summus Pater architectus Deus hanc quam videmus<br />

m<strong>und</strong>anam domum, divinitatis templum augustissimum<br />

archanae legibus sapientiae fabrefecerat. Supercaelestem regionem<br />

mentibus decorarat; aethereos globos aeternis animis<br />

vegetarat; excrementarias ac feculentas inferioris m<strong>und</strong>i<br />

partes omnigena animalium turba complerat. Sed, opere consummato,<br />

<strong>des</strong>iderabat artifex esse aliquem qui tanti operis rationem<br />

perpenderet, pulchritudinem amaret, magnitudinem<br />

admiraretur. Idcirco iam rebus omnibus (ut Moses Timaeusque<br />

testantur) absolutis, de producendo homine postremo<br />

cogitavit. Verum nec erat in archetypis <strong>und</strong>e novam sobolem<br />

effingeret, nec in thesauris quod novo filio hereditarium largiretur,<br />

nec in subselliis totius orbis, ubi universi contemplator<br />

iste sederet. Iam plena omnia; omnia summis, mediis,<br />

infimisque ordinibus fuerant distributa. Sed non erat paternae<br />

potestatis in extrema fetura quasi effeta defecisse; non<br />

erat sapientiae, consilii inopia in re necessaria fluctuasse; non<br />

erat benefici amoris, ut qui in aliis esset divinam liberalitatem<br />

laudaturus in se illam damnare cogeretur.<br />

Statuit tandem optimus opifex, ut cui dare nihil proprium<br />

poterat commune esset quicquid privatum singulis<br />

fuerat. Igitur hominem accepit indiscretae opus imaginis at-<br />

12


<strong>Über</strong> <strong>die</strong> <strong>Würde</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> (De hominis dignitate)<br />

delt, Väter, hört <strong>und</strong> schenkt mir eure Aufmerksamkeit mit<br />

geneigten Ohren, entsprechend eurer Fre<strong>und</strong>lichkeit.<br />

Schon hatte Gottvater, der höchste Baumeister, <strong>die</strong>ses<br />

Haus, <strong>die</strong> Welt, <strong>die</strong> wir sehen, als erhabensten Tempel der<br />

Gottheit nach den Gesetzen verborgener Weisheit errichtet.<br />

Den Raum über den Himmeln hatte er mit Geistern geschmückt,<br />

<strong>die</strong> Sphären <strong>des</strong> Äthers mit ewigen Seelen belebt,<br />

<strong>die</strong> kotigen <strong>und</strong> schmutzigen Teile der unteren Welt mit<br />

einer Schar Lebewesen aller Art gefüllt. Aber als das Werk<br />

vollendet war, wünschte der Meister, es gäbe jemanden, der<br />

<strong>die</strong> Gesetzmäßigkeit eines so großen Werkes genau erwöge,<br />

seine Schönheit liebte <strong>und</strong> seine Größe bew<strong>und</strong>erte. Daher<br />

dachte er, als schon alle Dinge (wie Moses <strong>und</strong> Timaios bezeugen)<br />

vollendet waren, zuletzt an <strong>die</strong> Erschaffung <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong>.<br />

Es gab aber unter den Archetypen keinen, nach dem er<br />

einen neuen Spross bilden konnte, unter den Schätzen auch<br />

nichts, was er seinem neuen Sohn als Erbe schenken konnte,<br />

<strong>und</strong> es gab unter den Plätzen der ganzen Erde keinen, den der<br />

Betrachter <strong>des</strong> Universums einnehmen konnte. Alles war bereits<br />

voll, alles den oberen, mittleren <strong>und</strong> unteren Ordnungen<br />

zugeteilt. Aber es hätte nicht der väterlichen Allmacht<br />

entsprochen, bei der letzten Schöpfung gewissermaßen aus<br />

Erschöpfung zu versagen; es hätte nicht seiner Weisheit entsprochen,<br />

aus Ratlosigkeit in einer unumgänglichen Angelegenheit<br />

unschlüssig zu sein; nicht hätte es seiner wohltätigen<br />

Liebe entsprochen, dass der, der <strong>die</strong> göttliche Großzügigkeit<br />

an den anderen loben sollte, gezwungen wäre, sie in Bezug auf<br />

sich selbst zu verurteilen.<br />

Endlich beschloss der höchste Künstler, dass der, dem er<br />

nichts Eigenes geben konnte, Anteil habe an allem, was <strong>die</strong><br />

einzelnen jeweils für sich gehabt hatten. Also war er zufrieden<br />

mit dem <strong>Menschen</strong> als einem Geschöpf <strong>von</strong> unbestimm-<br />

13


Pico della <strong>Mirandola</strong><br />

que in m<strong>und</strong>i positum meditullio sic est alloquutus: „Nec<br />

certam sedem, nec propriam faciem, nec munus ullum peculiare<br />

tibi dedimus, o Adam, ut quam sedem, quam faciem,<br />

quae munera tute optaveris, ea, pro voto pro tua sententia, habeas<br />

et possideas. Definita ceteris natura intra praescriptas a<br />

nobis leges coercetur. Tu, nullis angustiis coercitus, pro tuo<br />

arbitrio, in cuius manu te posui, tibi illam praefinies. Medium<br />

te m<strong>und</strong>i posui, ut circumspiceres inde commodius<br />

quicquid est in m<strong>und</strong>o. Nec te caelestem neque terrenum, neque<br />

mortalem neque immortalem fecimus, ut tui ipsius quasi<br />

arbitrarius honorariusque plastes et fictor, in quam malueris<br />

tute formam effingas. Poteris in inferiora quae sunt bruta degenerare;<br />

poteris in superiora quae sunt divina ex tui animi<br />

sententia regenerari.“<br />

O summam Dei patris liberalitatem, summam et admirandam<br />

hominis felicitatem! cui datum id habere quod optat,<br />

id esse quod velit. Bruta simul atque nascuntur id secum afferunt,<br />

ut ait Lucilius, e bulga matris quod possessura sunt.<br />

Supremi spiritus aut ab initio aut paulo mox id fuerunt, quod<br />

sunt futuri in perpetuas aeternitates. Nascenti homini omnifaria<br />

semina et omnigenae vitae germina indidit Pater; quae<br />

quisque excoluerit illa adolescent, et fructus suos ferent in<br />

14


<strong>Über</strong> <strong>die</strong> <strong>Würde</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> (De hominis dignitate)<br />

ter Gestalt, stellte ihn in <strong>die</strong> Mitte der Welt <strong>und</strong> sprach ihn so<br />

an: „Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam,<br />

kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit<br />

du den Wohnsitz, das Aussehen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Gaben, <strong>die</strong> du<br />

selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch <strong>und</strong><br />

Entschluss habest <strong>und</strong> besitzest. Die Natur der übrigen Geschöpfe<br />

ist fest bestimmt <strong>und</strong> wird innerhalb <strong>von</strong> uns vorgeschriebener<br />

Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede<br />

Einschränkung <strong>und</strong> Enge, nach deinem Ermessen, dem ich<br />

dich anvertraut habe, selber bestimmen. Ich habe dich in <strong>die</strong><br />

Mitte der Welt gestellt, damit du dich <strong>von</strong> dort aus bequemer<br />

umsehen kannst, was es auf der Welt gibt. Weder haben wir<br />

dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich<br />

geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender,<br />

schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der<br />

Gestalt ausformst, <strong>die</strong> du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigeren,<br />

zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum<br />

Hö heren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine<br />

Seele es beschließt.“<br />

Welch unübertreffliche Großmut Gottvaters, welch hohes<br />

<strong>und</strong> bew<strong>und</strong>ernswertes Glück <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong>! Dem gegeben<br />

ist zu haben, was er wünscht, zu sein, was er will. Die<br />

Tiere tragen gleich bei ihrer Geburt aus dem Beutel ihrer<br />

Mutter, wie Lucilius sagt, mit sich fort, was sie besitzen werden.<br />

Die höchsten Geister waren entweder <strong>von</strong> Anfang an<br />

oder bald danach, was sie bis in alle Ewigkeit sein werden. Im<br />

<strong>Menschen</strong> sind bei seiner Geburt <strong>von</strong> Gottvater vielerlei Samen<br />

<strong>und</strong> Keime für jede Lebensform angelegt; welche ein<br />

jeder hegt <strong>und</strong> pflegt, <strong>die</strong> werden heranwachsen <strong>und</strong> ihre<br />

Früchte in ihm tragen. Sind es pflanzliche, wird er zur<br />

Pflanze, sind es sinnliche, zum Tier werden. Sind es Keime der<br />

Vernunft, wird er sich zu einem himmlischen Lebewesen ent-<br />

15


Pico della <strong>Mirandola</strong><br />

illo. Si vegetalia, planta fiet. Si sensualia, obrutescet. Si rationalia,<br />

caeleste evadet animal. Si intellectualia, angelus erit et<br />

Dei filius, et si nulla creaturarum sorte contentus in unitatis<br />

centrum suae se receperit, unus cum Deo spiritus factus, in<br />

solitaria Patris caligine qui est super omnia constitutus omnibus<br />

antestabit.<br />

Quis hunc nostrum chamaeleonta non admiretur? aut<br />

omnino quis aliud quicquam admiretur magis? Quem non<br />

immerito Asclepius Atheniensis versipellis huius et se ipsam<br />

transformantis naturae argumento per Proteum in mysteriis<br />

significari dixit. Hinc illae apud Hebraeos et Pythagoricos<br />

metamorphoses celebratae. Nam et Hebraeorum theologia<br />

secretior nunc Enoch sanctum in angelum divinitatis, quem<br />

vocant „mālākh hasheˇkhīnāh”, nunc in alia alios numina reformant.<br />

Et Pythagorici scaelestos homines in bruta deformant<br />

et, si Empedocli creditur, etiam in plantas. Quas imitatus<br />

Maumeth illud frequens habebat in ore, qui a divina lege<br />

recesserit brutum evadere, et merito quidem. Neque enim<br />

plantam cortex, sed stupida et nihil sentiens natura; neque<br />

iumenta corium, sed bruta anima et sensualis; nec caelum orbiculatum<br />

corpus, sed recta ratio; nec sequestratio corporis,<br />

sed spiritalis intelligentia angelum facit. Si quem enim videris<br />

deditum ventri, humi serpentem hominem, frutex est,<br />

non homo, quem vi<strong>des</strong>; si quem in fantasiae quasi Calypsus<br />

vanis praestigiis caecutientem et subscalpenti delinitum illecebra<br />

sensibus mancipatum, brutum est, non homo, quem<br />

16


<strong>Über</strong> <strong>die</strong> <strong>Würde</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> (De hominis dignitate)<br />

wickeln; sind es geistige, wird er ein Engel sein <strong>und</strong> Gottes<br />

Sohn. Wenn er sich nun, mit keinem Los der Geschöpfe zufrieden,<br />

ins Zentrum seiner Einheit zurückgezogen hat, wird<br />

er, ein Geist mit Gott geworden, in der einsamen Dunkelheit<br />

<strong>des</strong> über allem stehenden Vaters alles überragen.<br />

Wer sollte <strong>die</strong>s unser Chamäleon nicht bew<strong>und</strong>ern? Oder<br />

wer sollte gar irgendetwas anderes mehr bew<strong>und</strong>ern? Von<br />

dem Asklepios <strong>von</strong> Athen mit vollem Recht wegen <strong>die</strong>ser<br />

ständig wechselnden <strong>und</strong> sich selbst verwandelnden Natur<br />

gesagt hat, er werde in den Mysterien durch Proteus dargestellt.<br />

Daher <strong>die</strong> berühmten Metamorphosen bei Hebräern<br />

<strong>und</strong> Pythagoreern. Denn <strong>die</strong> geheime Theologie der Hebräer<br />

verwandelt bald den heiligen Enoch in einen Engel der Gottheit,<br />

den sie „mālākh hasheˇkhīnāh”, nennen, bald andere in<br />

andere göttliche Wesen. Ebenso werden bei den Pythagoreern<br />

frevelhafte <strong>Menschen</strong> zu Tieren <strong>und</strong>, wenn man Empedokles<br />

glaubt, sogar zu Pflanzen verunstaltet. Mahomet führte, indem<br />

er sie nachahmte, häufig das Wort im M<strong>und</strong>, wer vom<br />

göttlichen Gebot abgewichen sei, werde zum Tier, <strong>und</strong> das<br />

mit Recht. Denn nicht <strong>die</strong> Rinde macht <strong>die</strong> Pflanze aus, sondern<br />

ihr verstandloses <strong>und</strong> nichts fühlen<strong>des</strong> Wesen, das Tier<br />

nicht das Fell, sondern <strong>die</strong> vernunftlose <strong>und</strong> sinnesabhängige<br />

Seele, den Himmel nicht der kreisr<strong>und</strong>e Körper, sondern <strong>die</strong><br />

genaue Gesetzmäßigkeit; nicht <strong>die</strong> Trennung vom Körper,<br />

sondern das geistliche Erkenntnisvermögen macht den Engel<br />

aus. Wenn du nämlich einen <strong>Menschen</strong> siehst, der seinem<br />

Bauch ergeben auf dem Boden kriecht, dann ist das ein<br />

Strauch, den du siehst, kein Mensch; wenn einen, der blind in<br />

den nichtigen Gaukeleien der Phantasie, wie denen der Kalypso,<br />

verfangen, durch verführerische Verlockung betört <strong>und</strong><br />

seinen Sinnen verfallen ist, so ist das ein Tier, das du siehst,<br />

kein Mensch. Wenn einen Philosophen, der in rechter Abwä-<br />

17


Pico della <strong>Mirandola</strong><br />

vi<strong>des</strong>. Si recta philosophum ratione omnia discernentem,<br />

hunc venereris; caeleste est animal, non terrenum. Si purum<br />

contemplatorem corporis nescium, in penetralia mentis relegatum,<br />

hic non terrenum, non caeleste animal; hic augustius<br />

est numen humana carne circumvestitum.<br />

Ecquis hominem non admiretur? qui non immerito in sacris<br />

litteris mosaicis et christianis, nunc omnis carnis, nunc<br />

omnis creaturae appellatione <strong>des</strong>ignatur, quando se ipsum<br />

ipse in omnis carnis faciem, in omnis creaturae ingenium effingit,<br />

fabricat et transformat. Idcirco scribit Evantes Persa,<br />

ubi chaldaicam theologiam enarrat, non esse homini suam<br />

ullam et nativam imaginem, extrarias multas et adventitias.<br />

Hinc illud Chaldaeorum: „Enōsh hu shǐnnūim vekammah<br />

teˇ bhāo c th baa c l haj“ i<strong>des</strong>t homo variae ac multiformis et <strong>des</strong>ultoriae<br />

naturae animal. Sed quorsum haec? ut intelligamus,<br />

postquam hac nati sumus conditione, ut id simus quod esse<br />

volumus, curare hoc potissimum debere nos, ut illud quidem<br />

in nos non dicatur, cum in honore essemus non cognovisse similes<br />

factos brutis et iumentis insipientibus. Sed illud potius<br />

Asaph prophetae: »Dii estis et filii excelsi omnes«, ne, abutentes<br />

indulgentissima Patris liberalitate, quam dedit ille liberam<br />

optionem, e salutari noxiam faciamus nobis. Invadat animum<br />

sacra quaedam ambitio ut mediocribus non contenti<br />

anhelemus ad summa, adque illa (quando possumus si volu-<br />

18


<strong>Über</strong> <strong>die</strong> <strong>Würde</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> (De hominis dignitate)<br />

gung alles unterscheidet, kannst du ihn verehren: er ist ein<br />

himmlisches Lebewesen, kein irdisches. Wenn du aber einen<br />

reinen Betrachter siehst, der <strong>von</strong> seinem Körper nichts weiß,<br />

ins Innere seines Geistes zurückgezogen, so ist der kein irdisches,<br />

kein himmlisches Lebewesen; er ist ein erhabeneres,<br />

mit menschlichem Fleisch umhülltes göttliches Wesen.<br />

Sollte also irgendjemand den <strong>Menschen</strong> nicht bew<strong>und</strong>ern?<br />

Der mit vollem Recht in der mosaischen <strong>und</strong> der christlichen<br />

Heiligen Schrift bald durch <strong>die</strong> Nennung „alles Fleisch“,<br />

bald „alle Kreatur“ bezeichnet wird, da er sich selbst doch zur<br />

Gestalt jeden Fleisches, in <strong>die</strong> Eigenart jeder Kreatur ausformt,<br />

verfertigt <strong>und</strong> in sie verwandelt. Deswegen schreibt<br />

der Perser Euantes, wo er <strong>die</strong> chaldäische Theologie erklärt,<br />

der Mensch habe keine eigene <strong>und</strong> angeborene Gestalt, aber<br />

viele fremde <strong>und</strong> <strong>von</strong> außen kommende. Daher das Wort<br />

der Chaldäer: „Enōsh hu shǐnnūim vekammah teˇbhāo c th baa c l<br />

haj“ das heißt der Mensch ist ein Lebewesen <strong>von</strong> verschiedenartiger,<br />

vielgestaltiger <strong>und</strong> sprunghafter Natur. Aber wozu<br />

<strong>die</strong>s? Damit wir verstehen: da wir unter der Bedingung geboren<br />

worden sind, dass wir das sind, was wir sein wollen, müssen<br />

wir am ehesten dafür sorgen, dass man nicht <strong>von</strong> uns sagt,<br />

als wir in Ansehen standen, hätten wir nicht erkannt, dass<br />

wir dem vernunftlosen Vieh ähnlich geworden seien. Sondern<br />

vielmehr das Wort <strong>des</strong> Propheten Asaph: „Ihr seid alle Götter<br />

<strong>und</strong> Söhne <strong>des</strong> Höchsten“, damit wir uns <strong>die</strong> freie Wahl,<br />

<strong>die</strong> uns Gottvater gegeben hat, nicht durch Missbrauch seiner<br />

gütigen Großzügigkeit <strong>von</strong> etwas Heilsamem zu etwas<br />

Schädlichem machen. Ein heiliger Ehrgeiz dringe in unsere<br />

Seele, dass wir, nicht zufrieden mit dem Mittelmäßigen, nach<br />

dem Höchsten verlangen <strong>und</strong> uns mit ganzer Kraft bemühen,<br />

es zu erreichen — denn wir können es, wenn wir wollen. Lasst<br />

uns das Irdische verschmähen, das Himmlische verachten,<br />

19


B<br />

Erläuterungen


<strong>Jörg</strong> <strong>Lauster</strong><br />

1. Giovanni Pico della <strong>Mirandola</strong> <strong>und</strong> seine Zeit<br />

Die Kleinstadt <strong>Mirandola</strong> in der südlichen Po-Ebene liegt in<br />

der Mitte kultureller Zentren, im Nordwesten ist Mantua<br />

nahe, im Südwesten Modena, im Osten ist es nicht weit nach<br />

Ferrara <strong>und</strong> auch <strong>die</strong> Universitäten Padua <strong>und</strong> Bologna, <strong>die</strong><br />

noch heute zu den besten <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> gehören, sind in Reichweite.<br />

Der Geburtsort steht mit seiner Mittellage für <strong>die</strong> vielfältigen<br />

Einflüsse, <strong>die</strong> Pico in seinem Leben aufnahm <strong>und</strong><br />

miteinander verband.<br />

Am 24. Februar 1463 wurde Giovanni Pico als jüngstes<br />

Kind <strong>und</strong> Nachzügler <strong>des</strong> Grafen <strong>von</strong> <strong>Mirandola</strong> Gianfranceso<br />

I. Pico <strong>und</strong> seiner Frau Giulia Boiardo geboren. 1 Die Herkunft<br />

aus dem kleinen Grafengeschlecht sicherte ihm Zeit<br />

seines Lebens finanzielle Unabhängigkeit, <strong>die</strong> seine vielfältigen<br />

Stu<strong>die</strong>n möglich machte. Nachdem der Vater in Picos<br />

früher Kindheit gestorben war, übernahm <strong>die</strong> Mutter <strong>die</strong> Verantwortung<br />

für seine Erziehung <strong>und</strong> Ausbildung. Wie für<br />

jene Zeit nicht unüblich wünschte sie für ihren jüngsten<br />

Sohn eine geistliche Laufbahn. Sie ließ ihm eine vorzügliche<br />

Erziehung zuteil werden, sehr früh wurde er in Latein <strong>und</strong><br />

Griechisch unterwiesen. Das Engagement der Mutter <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

offensichtlichen Geistesgaben <strong>des</strong> Jungen machten es möglich,<br />

dass er 1477 im Alter <strong>von</strong> 14 Jahren ein Studium <strong>des</strong> kanonischen<br />

Rechts an der Universität Bologna aufnahm. Im<br />

August 1478 starb seine Mutter, Pico war mit 15 Jahren Waise.<br />

Dies gewährte ihm jedoch auch <strong>die</strong> Freiheit, einzig den eige-<br />

1 Zur Biographie klassisch: Garin, Pico; zum neueren Stand der Forschung:<br />

Borghesi, Life, 202–219; in den deutschen Textausgaben zu Picos Werken im<br />

Meiner-Verlag bieten <strong>die</strong> jeweiligen Einleitungen gute <strong>und</strong> knappe biographische<br />

Skizzen.<br />

88


Erläuterungen<br />

nen Ideen zu folgen. Das Studium in Bologna, das seine intellektuellen<br />

Interessen nicht befriedigte, gab er auf <strong>und</strong> wechselte<br />

nach Ferrara zum Studium der dort humanistisch geprägten<br />

Philosophie. In <strong>die</strong>ser Zeit besuchte er Marsilio Ficino<br />

<strong>und</strong> seinen neuplatonischen Kreis in Florenz, der ihn nachhaltig<br />

prägen sollte. Auch eine ganz andere, aber ebenfalls für<br />

Pico folgenreiche Begegnung fällt in jene Jahre. Pico fre<strong>und</strong>ete<br />

sich mit dem Dominikanerpater Girolamo Sa<strong>von</strong>arola<br />

an, eine Fre<strong>und</strong>schaft, <strong>die</strong> eineinhalb Jahrzehnte später sowohl<br />

für sein eigenes Geschick als auch für das der Stadt Florenz<br />

wichtig werden sollte. Pico blieb auch in Ferrara nicht<br />

lange <strong>und</strong> ging 1480 an <strong>die</strong> Universität Padua, das Zentrum<br />

<strong>des</strong> italienischen Aristotelismus, um dort <strong>die</strong> Werke <strong>des</strong> Aristoteles<br />

<strong>und</strong> Averroes zu stu<strong>die</strong>ren. Das Interesse an Aristoteles<br />

war an sich nicht verw<strong>und</strong>erlich, da längst nicht alle Humanisten<br />

nur an Platon interessiert waren. Erstaunlich war<br />

jedoch, dass Pico in Padua Gefallen an der scholastischen Tradition<br />

der Aristoteles-Interpretation fand. Sein Briefwechsel<br />

mit einem der führenden humanistischen Aristoteliker seiner<br />

Zeit, Ermolao Barbaro, macht deutlich, wie er mit <strong>die</strong>sem<br />

Ansinnen <strong>die</strong> humanistischen Kreise irritierte. Picos Versuch,<br />

nicht nur Platon <strong>und</strong> Aristoteles, sondern auch <strong>die</strong> jeweils<br />

unterschiedlichen Interpretationstraditionen zu vereinigen,<br />

bleibt ein lebenslanges Anliegen. In Padua beginnt auch Picos<br />

intensive Beschäftigung mit dem Judentum. Bei Elia del<br />

Mendigo lernte er Hebräisch <strong>und</strong> ließ sich <strong>von</strong> ihm nicht<br />

nur in <strong>die</strong> islamische Aristoteles-Auslegung, sondern auch<br />

in jüdische <strong>und</strong> hebräische Handschriften einführen. Später<br />

wurde <strong>die</strong> schillernde Gestalt <strong>des</strong> Flavius Mithridates für ihn<br />

wichtig, ein sizilianischer Jude, der zum Christentum konvertierte<br />

<strong>und</strong> in Rom wirkte. Ihm scheint Pico <strong>die</strong> wesentlichen<br />

Einsichten in <strong>die</strong> Quellen der Kabbala zu verdanken.<br />

89


<strong>Jörg</strong> <strong>Lauster</strong><br />

Nach zwei Jahren an unterschiedlichen Orten zog es Pico<br />

spätestens ab dem Frühjahr 1484 nach Florenz. Protegiert<br />

vom mächtigsten Mann der Stadt, Lorenzo de’ Medici, schloss<br />

er sich dem neuplatonischen Kreis um Marsilio Ficino an <strong>und</strong><br />

knüpfte vor allem mit dem Dichter Angelo Poliziano fre<strong>und</strong>schaftliche<br />

Bande. Florenz war zu jener Zeit zweifelsohne das<br />

Zentrum der Renaissance-Kultur. Der Aufenthalt wurde für<br />

Pico prägend, <strong>von</strong> Ficino erhielt er viele <strong>und</strong> wichtige Anregungen.<br />

Als ein Schüler im engeren Sinne wird man ihn dennoch<br />

nicht bezeichnen können, Pico suchte in einigen Punkten<br />

nach anderen Wegen als sein neuplatonischer Mentor.<br />

Ihrer Fre<strong>und</strong>schaft <strong>und</strong> der gegenseitigen Bew<strong>und</strong>erung tat<br />

<strong>die</strong>s keinen Abbruch. In dem geistig anregenden Klima <strong>des</strong><br />

Florentiner Intellektuellenzirkels kamen Pico viele Ideen. Er<br />

scheint den Plan einer poetischen Theologie gehegt zu haben,<br />

<strong>die</strong> sich um neue, dichterische Formen <strong>des</strong> religiösen Ausdrucks<br />

bemühte. 1485 verließ er jedoch auch Florenz wieder,<br />

um sich in Paris noch einmal intensiv mit dem dort etablierten<br />

<strong>und</strong> eher spätscholastisch geprägten Aristotelismus<br />

zu beschäftigen. Im Frühjahr 1486 kehrte er schließlich<br />

mit dem festen Plan zu einem erstaunlichen Großprojekt<br />

zurück. Er wollte unter der Anwesenheit <strong>des</strong> Papstes<br />

in Rom öffentlich mit Gelehrten aus aller Welt über <strong>die</strong><br />

<strong>Über</strong>einstimmungen <strong>und</strong> tiefen Einsichten der platonischen,<br />

aristotelischen, neuplatonischen, aber auch pythagoräischen,<br />

hermetischen <strong>und</strong> kabbalistischen Philosophie diskutieren.<br />

Man kann also in den 900 Thesen eine frühe Summe der vielfältigen<br />

Stu<strong>die</strong>n <strong>des</strong> damals 23-Jährigen sehen, mit denen er<br />

an <strong>die</strong> Öffentlichkeit treten wollte.<br />

Auf dem Weg nach Rom ereignete sich im März 1486 eine<br />

skurrile Episode. In Arezzo verliebte er sich in <strong>die</strong> verheiratete<br />

Frau eines Cousins <strong>von</strong> Lorenzo de’ Medici, Margherita, <strong>und</strong><br />

90


Erläuterungen<br />

<strong>die</strong> Dame offensichtlich auch in ihn. Die beiden versuchten,<br />

gemeinsam aus Arezzo zu entkommen, wurden jedoch <strong>von</strong><br />

dem missgestimmten Ehemann <strong>und</strong> seinen Truppen auf der<br />

Flucht gestellt. Margherita wurde zurückgebracht <strong>und</strong> Pico<br />

bei der Verhaftung schwer verletzt. Allein der Macht Lorenzo<br />

de’ Medicis war es zu verdanken, dass er überlebte, aus der<br />

Haft entlassen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Sache so gut wie möglich unter den<br />

Teppich gekehrt werden konnte. Erwähnung ver<strong>die</strong>nt <strong>die</strong> kuriose<br />

Begebenheit aus zwei Gründen. Zum einen schien <strong>die</strong><br />

Episode damals bei den Zeitgenossen wie bei seinen Interpreten<br />

heute ein schummriges Licht auf das römische Großprojekt<br />

der 900 Thesen zu werfen. Wie ernst konnte man das Vorhaben<br />

nehmen, wenn Pico es kurz zuvor wegen einer amour<br />

fou aufs Spiel zu setzen bereit war? Es drängt sich der Eindruck<br />

eines unsteten, eruptiven, sprunghaften Charakters<br />

auf, der sich zu einer gr<strong>und</strong>sätzlichen Kritik ausweitete.<br />

Konnte ein 23 Jahre junger Mann, der es kaum länger als zwei<br />

Jahre an einem Ort aushielt, wirklich zu dem so groß angelegten<br />

Projekt einer Synthese nahezu aller namhaften philosophischen<br />

Strömungen aufrufen? Zu allen Zeiten meldeten<br />

seine Kritiker daran Zweifel an. Zum anderen leitete <strong>die</strong> Begebenheit<br />

eine offensichtliche Lebenswende ein. Um seine<br />

Verletzungen zu kurieren, vielleicht aber auch aus Scham, zog<br />

sich Pico im Sommer 1486 in ein Landhaus in Umbrien in der<br />

Nähe <strong>von</strong> Perugia zurück. Er arbeitete dort intensiv mit Flavius<br />

Mithridates zusammen <strong>und</strong> intensivierte seine Stu<strong>die</strong>n<br />

jüdischer <strong>und</strong> kabbalistischer Quellen. Diese arbeitete er<br />

dann in seine 900 Thesen ein. Die Lebensform zurückgezogener<br />

Gelehrsamkeit wurde für Pico dann vor allem nach den<br />

Ereignissen um <strong>die</strong> 900 Thesen zu seiner bevorzugten.<br />

Zuvor regierte aber noch einmal der Tumult. In dem ereignisreichen<br />

Jahr 1486 stellte er <strong>die</strong> 900 Thesen fertig <strong>und</strong><br />

91


<strong>Jörg</strong> <strong>Lauster</strong><br />

plante <strong>die</strong> Diskussion für Anfang 1487. Seiner Einladung<br />

fügte er eine Einleitung bei, <strong>die</strong> er im Spätjahr 1486 verfasste.<br />

Die Einleitungsrede ist <strong>die</strong> berühmte Oratio de dignitate hominis.<br />

Der Titel stammte nicht <strong>von</strong> Pico, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Rede konnte<br />

auch nie <strong>von</strong> ihm gehalten werden. Denn Papst Innozenz VIII.<br />

untersagte <strong>die</strong> Disputation <strong>und</strong> setzte eine Kommission zur<br />

Untersuchung der Thesen ein. Diese beanstandete 13 Thesen<br />

als häretisch. Pico überarbeitete sie <strong>und</strong> verfasste eine Verteidigungsschrift,<br />

<strong>die</strong> Apologia. Er veröffentlichte sie ohne vorherige<br />

Zustimmung durch <strong>die</strong> päpstliche Behörde. Die zeigte<br />

sich über <strong>die</strong>se Eigenmächtigkeit erzürnt, zumal sie auch mit<br />

den <strong>Über</strong>arbeitungen Picos keineswegs einverstanden war.<br />

Die 900 Thesen wurden darum pauschal verurteilt <strong>und</strong> in<br />

Rom vorhandene Exemplare verbrannt. Pico machte sich <strong>von</strong><br />

Rom nach Paris auf, wurde aber auf Geheiß <strong>des</strong> Papstes, der<br />

sich scheinbar <strong>von</strong> Picos ungestümer Initiative auch persönlich<br />

hintergangen fühlte, in Südfrankreich verhaftet. Einmal<br />

mehr verdankte Pico viel der Unterstützung durch Lorenzo<br />

de’ Medici. Der konnte, <strong>die</strong>smal zudem im Verb<strong>und</strong> mit dem<br />

französischen König, beim Papst erwirken, dass Pico nach Florenz<br />

zurückkehren <strong>und</strong> sich dort unter der Aufsicht der Medicis<br />

frei bewegen durfte. Erst der Borgia-Papst Alexander VI.<br />

hob <strong>die</strong> Maßnahmen Roms 1493 auf <strong>und</strong> rehabilitierte Pico.<br />

Lorenzo stellte dem Verfolgten ein Landhaus in der Nähe<br />

<strong>von</strong> Florenz zur Verfügung. Dorthin zog sich Pico zurück <strong>und</strong><br />

setzte seine Stu<strong>die</strong>n fort. Dies ermöglichte ihm eine rege literarische<br />

Produktivität, drei seiner wichtigsten Schriften, der<br />

Heptaplus, ein Kommentar zur Schöpfungsgeschichte, De<br />

Ente et Uno, ein Vereinigungsversuch <strong>des</strong> platonischen <strong>und</strong><br />

aristotelischen Konzept <strong>des</strong> Einen, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Streitschrift gegen<br />

<strong>die</strong> Astrologiegläubigkeit seiner Zeit, <strong>die</strong> Disputationes<br />

adversus astrologiam divinatricem, entstanden in <strong>die</strong>ser Zeit.<br />

92


Erläuterungen<br />

In seinen letzten Lebensjahren stand Pico dem Dominikanermönch<br />

Sa<strong>von</strong>arola nahe, mit dem er seit seiner Zeit in Ferrara<br />

befre<strong>und</strong>et war. Dem Rat Picos folgend holte Lorenzo de’<br />

Medici den Dominikaner 1490 nach Florenz. Es ist eine der<br />

vielen Ironien der Geschichte, dass der <strong>von</strong> den Medici gerufene<br />

Prediger nach dem Tod Lorenzos 1492 zur größten Bedrohung<br />

für <strong>die</strong> Dynastie der Medici wurde. In den Unruhen<br />

jener Zeit starb Pico della <strong>Mirandola</strong> am 17. November 1494<br />

im Alter <strong>von</strong> nur 31 Jahren unter ungeklärten Umständen.<br />

Sein Biograph berichtet <strong>von</strong> einem plötzlichen starken Fieber,<br />

2 es ist aber letztlich nicht ganz auszuschließen, dass ihm<br />

seine Nähe zu Sa<strong>von</strong>arola zum Verhängnis wurde <strong>und</strong> er das<br />

Opfer eines Giftanschlages wurde. 3<br />

Picos Anhängerschaft hat es zu allen Zeiten Rätsel aufgegeben,<br />

warum sich der weltoffene Philosoph der Freiheit <strong>und</strong><br />

<strong>Menschen</strong>würde dem kulturfeindlichen Theokratie-Propheten<br />

Sa<strong>von</strong>arola in Florenz anschloss. Die Gründe sind vielfältig.<br />

Die beiden verband seit langem eine Fre<strong>und</strong>schaft, <strong>und</strong> in<br />

all ihrer Unterschiedlichkeit einte sie, dass sie <strong>die</strong> Situation<br />

<strong>des</strong> Christentums im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert als unbedingt erneuerungsbedürftig<br />

empfanden. Schließlich scheint der Aufruhr,<br />

in dem Pico seit 1486 für viele Monate lebte, <strong>die</strong> bereits erwähnte<br />

Lebenswende forciert zu haben. Picos Neffe, Gianfrancesco<br />

Pico della <strong>Mirandola</strong>, der seinen Onkel verehrte <strong>und</strong><br />

einige seiner Schriften postum publizierte, verfasste eine<br />

kurze Lebensbeschreibung. Sie ist mit einiger Vorsicht zu<br />

behandeln, da sie ein unübersehbares Interesse an den Tag<br />

2 Gianfrancesco Pico della <strong>Mirandola</strong>, Leben, 81.<br />

3 Der englische Wikipedia-Eintrag verweist auf <strong>die</strong> entsprechenden Presseartikel:<br />

https://en.wikipedia.org/wiki/Giovanni_Pico_della_<strong>Mirandola</strong><br />

[abgerufen 22.04.22].<br />

93


<strong>Jörg</strong> <strong>Lauster</strong><br />

legt, Pico als hochgemuten, untadeligen <strong>und</strong> humanistisch<br />

umfassend gebildeten christlichen Edelmann darzustellen.<br />

Trotz der Absicht, Pico in ein positives Licht zu rücken, ver<strong>die</strong>nt<br />

eine Passage Aufmerksamkeit. „Die Schönheit seines<br />

Körpers, verb<strong>und</strong>en mit den lieblichen Zügen seines Gesichts<br />

<strong>und</strong> dazu sein w<strong>und</strong>erbarer Ruf, seine Gelehrsamkeit, sein<br />

Reichtum, seine edle Abstammung, das alles entzündete viele<br />

Frauen in Liebe zu ihm, <strong>und</strong> er verhielt sich <strong>die</strong>ser Sehnsucht<br />

gegenüber nicht ablehnend <strong>und</strong> verfiel dadurch in ein eitles<br />

Leben. Aber nachdem er aus <strong>die</strong>ser Täuschung erwacht war,<br />

zog er seinen Sinn da<strong>von</strong> zurück <strong>und</strong> wandte sich zu Christus.“<br />

4 Man kann <strong>die</strong>s als Indiz für eine Kehre im Leben Picos<br />

lesen. Dazu fügt sich eine Bemerkung Sa<strong>von</strong>arolas. Er hielt <strong>die</strong><br />

Grabrede auf seinen Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> erwähnte darin, dass Pico im<br />

Begriffe stand, in den Dominikanerorden einzutreten. 5 Es ist<br />

nicht auszuschließen, dass <strong>die</strong>s tatsächlich Picos Pläne vor<br />

seinem unerwartet frühen Tod waren.<br />

Giovanni Pico della <strong>Mirandola</strong>s kurzes Leben bietet Stoff<br />

für einen langen Roman. Es wirft Licht auf <strong>die</strong> Zeit, in der es<br />

gelebt wurde. 6 Hunger nach Bildung, Entdeckerneugier auf<br />

unbekannte Quellen <strong>des</strong> Wissens <strong>und</strong> unruhiger Tatendrang<br />

stehen auf der einen Seite, <strong>die</strong> Beharrungskräfte sowohl der<br />

Institutionen als auch der Tradition auf der anderen. Picos<br />

sprunghafter <strong>und</strong> wechselvoller Bildungsweg räumt mit<br />

dem Klischee auf, der Humanismus der Renaissance habe das<br />

scholastische Denken <strong>des</strong> Mittelalters mit einem Handstreich<br />

vom Tisch gefegt. Die Epochenschwelle <strong>des</strong> 15. Jahr-<br />

4 Gianfrancesco Pico della <strong>Mirandola</strong>, Leben, 72.<br />

5 A. a. O., 85.<br />

6 Vgl. zum Zeitkolorit: Roeck, Morgen, mit Hinweisen auch zu Pico 571f. <strong>und</strong><br />

794 f.<br />

94


Erläuterungen<br />

h<strong>und</strong>erts ist ein <strong>Über</strong>gang, kein radikaler Bruch. Seine Erfahrungen<br />

in Paris zeigen, dass auch ein humanistisch gesonnener<br />

Denker sich <strong>von</strong> den Denkanstrengungen scholastischer<br />

Theologie belehren lassen wollte <strong>und</strong> konnte. Pico verkörpert<br />

darin mustergültig <strong>die</strong> Spannungen seiner Zeit. In den als<br />

Aufbruch wahrgenommenen Herausforderungen rangen <strong>die</strong><br />

Kräfte <strong>des</strong> Alten mit neuen Einsichten, Pico suchte bei<strong>des</strong><br />

miteinander zu versöhnen. Viele seiner Zeitgenossen priesen<br />

an Pico sein Auftreten, <strong>die</strong> Schnelligkeit seines Denkens, <strong>die</strong><br />

Energie seiner Pläne <strong>und</strong> <strong>die</strong> Begeisterung für das Unbekannte,<br />

getragen war <strong>die</strong>s aber auch <strong>von</strong> tiefen Loyalitäten.<br />

Fast zeitgleich schloss Pico Ende der Siebzigerjahre Fre<strong>und</strong>schaft<br />

sowohl mit Sa<strong>von</strong>arola als auch mit Marsilio Ficino,<br />

dem dominikanischen Kirchen- <strong>und</strong> Kulturkritiker einerseits,<br />

<strong>und</strong> dem neuplatonischen Theologen <strong>und</strong> Philosophen<br />

der Kultur andererseits. Sein großes Programm der Versöhnung<br />

<strong>des</strong> Denkens ist darum nicht nur eines der Theorie, sondern<br />

der eigenen Existenz.<br />

2. Kampf der Interpretationen – <strong>die</strong> vielen Picos<br />

Picos Tod mit 31 Jahren galt schon seinen Zeitgenossen als viel<br />

zu früh. Das mehrte seinen Ruhm <strong>und</strong> auch den Mythos um<br />

seine Person. Für <strong>die</strong> Rezeption seines Denkens liegen <strong>die</strong><br />

besonderen Schwierigkeiten darin, dass ihm <strong>die</strong> Lebenszeit<br />

fehlte, <strong>die</strong> vielen Fäden, <strong>die</strong> er in seinen Stu<strong>die</strong>n aufnahm,<br />

letztlich miteinander zu verbinden. Gewiss thronte über seinen<br />

Schriften das hehre Gesamtanliegen einer Versöhnung<br />

unterschiedlicher Denkrichtungen, er legte dazu auch selbst<br />

Versuche vor, vieles musste am Ende jedoch offen bleiben. Das<br />

macht es für seine Auslegerinnen <strong>und</strong> Ausleger zu allen Zei-<br />

95


<strong>Jörg</strong> <strong>Lauster</strong><br />

ten schwierig, Picos Ideen auf einen gemeinsamen Nenner zu<br />

bringen. Diese Interpretationsnöte schlagen sich in einer besonderen<br />

Auslegungsgeschichte nieder. In Pico konnte jeder<br />

finden, was er finden wollte. Darum ist <strong>die</strong> Geschichte der Interpretationen<br />

seiner Schriften so disparat <strong>und</strong> darum fehlt es<br />

in ihr auch nicht an Versuchen, mit den jeweiligen Vorgängern<br />

tabula rasa zu veranstalten <strong>und</strong> gewissermaßen noch<br />

einmal <strong>von</strong> vorne zu beginnen. Der Weg zu Picos berühmter<br />

Rede führt nur durch eine turbulente Auslegungsgeschichte,<br />

<strong>die</strong> darum hier vorangestellt werden soll.<br />

Pico galt seiner Zeit als eine Lichtgestalt, deren Strahlen<br />

auch noch im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert schienen. Seine Ideen wirkten<br />

in humanistischen Kreisen in Italien, vor allem aber in Frankreich<br />

<strong>und</strong> in England bei John Colet <strong>und</strong> Thomas Morus weiter.<br />

Auch Martin Luther verweist auf ihn, allerdings nur wenige<br />

Male. Er wusste <strong>von</strong> Picos Programm, Aristoteles mit Platon<br />

zu vereinen, konnte dem Projekt aber nichts abgewinnen<br />

(vgl. WA 1,611,38). Zudem deutet er an, dass Pico keinen ,substanzhaften‘<br />

Abstieg Christi in das Reich der Toten gelehrt<br />

habe (vgl. WA 31I,516,zu37/38). Tatsächlich zählte <strong>die</strong>s zu Picos<br />

Thesen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> römischen Gutachter beanstandet hatten. 7<br />

Luther sah in Pico vor allem ein prominentes Beispiel für <strong>die</strong><br />

Fehleranfälligkeit päpstlicher Entscheidungen (vgl. WA 1,574,<br />

21 <strong>und</strong> WA 6,183,19). Mit Picos Theologie <strong>und</strong> mit seinem Freiheitsbegriff,<br />

der offenk<strong>und</strong>ig anders als Luthers eigenes Verständnis<br />

ausfällt, scheint er sich nicht beschäftigt zu haben.<br />

Anders liegen <strong>die</strong> Dinge bei Huldrych Zwingli. Der Tübinger<br />

Repetent Christoph Sigwart hatte 1855 ein Stu<strong>die</strong> vorgelegt,<br />

<strong>die</strong> Picos Einfluss auf den Schweizer Reformator untersucht.<br />

Fünf Jahre vor dem durch Jacob Burckhardt ausgelösten gro-<br />

7 Vgl. Pico, Thesen, 199 (1. These).<br />

96


Erläuterungen<br />

ßen Schwung – <strong>und</strong> das macht seine Stu<strong>die</strong> noch bemerkenswerter<br />

– entwirft Sigwart ein kenntnisreiches Bild, das für <strong>die</strong><br />

Geschichte der Erforschung Picos aufschlussreich ist. 8 Folgenreich<br />

für <strong>die</strong> Theologie sind <strong>die</strong> Einflüsse Picos, <strong>die</strong> Sigwart<br />

in Zwinglis Schriften aufweisen kann. Sigwart geht mit<br />

gutem Gr<strong>und</strong> nicht <strong>von</strong> konkreten literarischen Bezügen aus.<br />

Es ist <strong>die</strong> Gesamtlinie in Picos Denken, <strong>die</strong> auf Zwingli offensichtlich<br />

so gewirkt hat, dass er Pico zu seinen verehrten Lehrern<br />

zählte. Unter dem Einfluss <strong>von</strong> Picos <strong>Menschen</strong>bild habe<br />

Zwingli <strong>die</strong> klassisch-theologische Frage nach der ewigen Seligkeit<br />

<strong>und</strong> wie der Mensch ihrer gewiss werden könne in <strong>die</strong><br />

Frage nach der menschlichen Bestimmung <strong>und</strong> ihren Verwirklichungsmöglichkeiten<br />

im Leben der <strong>Menschen</strong> transformiert.<br />

9 Sigwart beruft sich wiederholt auf Ferdinand<br />

Christian Baur 10 , seine kenntnisreiche Pico-Stu<strong>die</strong> ist darum<br />

ein Indiz, dass der Neuprotestantismus <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

<strong>die</strong> Einflüsse der Renaissance auf <strong>die</strong> Reformation deutlich<br />

stärker hervorhob als <strong>die</strong>s im konfessionellen Lutherbild <strong>des</strong><br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts vorgesehen war. Mit der Verbindung <strong>von</strong><br />

Pico <strong>und</strong> Zwingli erhob Sigwart <strong>die</strong> Renaissance zu einer<br />

wichtigen Quelle <strong>des</strong> Neuprotestantismus. Ernst Troeltsch<br />

führte <strong>die</strong>ses Programm zwei Generationen später weiter <strong>und</strong><br />

stellte damit als einer der wenigen deutschsprachigen Protestanten<br />

einen Zusammenhang <strong>von</strong> Renaissance <strong>und</strong> Kulturprotestantismus<br />

her.<br />

Das bedeutendste Denkmal für Pico hat Jacob Burckhardt<br />

in seiner großen Kulturgeschichte der Renaissance errichtet.<br />

Dem erstmals 1860 erschienenen Buch ist es zusammen mit<br />

8 Vgl. Sigwart, Zwingli, 16–26.<br />

9 Sigwart, Zwingli, 232<br />

10 Vgl. z. B. ebd.<br />

97


<strong>Jörg</strong> <strong>Lauster</strong><br />

den Arbeiten <strong>des</strong> französischen Historikers Jules Michelet zu<br />

verdanken, dass <strong>die</strong> Renaissance ab der Mitte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

als eine eigenständige Epoche ins Bewusstsein trat.<br />

Burckhardt begründete das Ideal <strong>des</strong> Renaissancemenschen,<br />

der tatkräftig in immer neuen Entwürfen <strong>die</strong> Herausforderungen<br />

<strong>und</strong> auch <strong>die</strong> wechselhaften Schicksalsschläge seines<br />

Daseins meistert. In Burckhardts Darstellung leuchtet ein heroischer<br />

Vitalismus auf, der auch seinem Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> Kollegen<br />

Friedrich Nietzsche höchst sympathisch war. Burckhardts<br />

Kulturgeschichte ist ein Meilenstein in der historischen<br />

Forschung, sie ist aber auch ein Spiegel, den er seiner<br />

eigenen Zeit vorhält. Picos Rede über <strong>die</strong> <strong>Würde</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

maß er höchste Bedeutung bei, er sah in ihr „eines der<br />

edelsten Vermächtnisse jener Kulturepoche 11 . Pico habe darin<br />

das Selbstverständnis der <strong>Menschen</strong> <strong>von</strong> ihrer Rolle <strong>und</strong> Aufgabe<br />

in der Welt auf den Punkt gebracht. Kritiker haben freilich<br />

in dem Monument, das Burckhardt für Pico errichtete,<br />

den Anbeginn eines Verhängnisses gesehen. Burckhardt habe<br />

zu einseitig den Blick auf <strong>die</strong> Anfangspassagen der Oratio gelenkt,<br />

<strong>die</strong>se damit zwar berühmt gemacht, aber zugleich <strong>die</strong><br />

Vielfalt in Picos Denken ausgeblendet.<br />

Das <strong>von</strong> Burckhardt geweckte Interesse führte im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

zu einer Blütephase der Renaissanceforschung, in<br />

der auch Pico mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht wurde.<br />

12 Eine Meisterleistung sowohl in den Fragen der Textedition<br />

als auch in der Rekonstruktion <strong>von</strong> Picos Denken waren<br />

<strong>die</strong> Arbeiten <strong>des</strong> italienischen Philosophiehistorikers Euge-<br />

11 Burckhardt, Renaissance, 258.<br />

12 Vgl. zum Folgenden: Trotz (oder gerade wegen) ihres Interesse an einer<br />

Dekonstruktion bieten hervorragende Forschungsüberblicke: Craven, Pico,<br />

1–20 <strong>und</strong> umfassend Copenhaver, Magic, 71–336.<br />

98


Erläuterungen<br />

nio Garin. Seine Monographie aus dem 1937 galt lange als<br />

Maßstab <strong>und</strong> bietet noch heute, obgleich in Detailfragen ergänzungsbedürftig,<br />

wichtige Perspektiven. 13 Garin machte<br />

den Einheits-Gedanken zur leitenden Perspektive in seiner<br />

Deutung. Er sah in Picos Schriften eine metaphysisch begründete,<br />

rationale Religionsphilosophie heraufziehen, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> Konfessionsgrenzen überwand <strong>und</strong> darin weit in <strong>die</strong> Moderne<br />

hineinragte. Garins Auffassung ist unter den führenden<br />

Kennern der Renaissance nicht unwidersprochen geblieben.<br />

Paul Oskar Kristeller <strong>und</strong> andere sahen darin eine metaphysische<br />

<strong>Über</strong>höhung <strong>und</strong> überklare Vereinheitlichung der<br />

an sich doch disparaten Texte Picos. Garin hat seine Sicht später<br />

auch etwas abgemildert. Trotz unterschiedliche Ansätze<br />

waren sich aber Philosophen wie Ernst Cassirer <strong>und</strong> Paul Oskar<br />

Kristeller darin einig, Pico als eine eigenständige Erscheinungsform<br />

vor allem <strong>des</strong> Renaissanceplatonismus zu lesen.<br />

Kristeller gilt als einer der wirkungsmächtigsten Philosophiehistoriker<br />

der Renaissance im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert. Unter<br />

dem Naziregime musste er <strong>die</strong> Hamburger Universität verlassen,<br />

um letztlich in den USA eine neue akademische Heimat<br />

zu finden. Er lenkte den Blick ergänzend auf <strong>die</strong> humanistischen<br />

Anliegen, <strong>die</strong> er bei Pico am Werke sah. Dem philosophischen<br />

fügte er einen pädagogischen Aspekt hinzu <strong>und</strong><br />

verstand Picos Anliegen umfassender als ein Kultur- <strong>und</strong> Erziehungsprogramm.<br />

Naturgemäß war Giovanni Pico della <strong>Mirandola</strong> für <strong>die</strong><br />

italienische Renaissanceforschung stets <strong>von</strong> besonderem Interesse,<br />

da das Zeitalter der Renaissance Fragen <strong>des</strong> nationalen<br />

Selbstverständnisses berührte, ähnlich wie <strong>die</strong> Epoche <strong>des</strong><br />

Idealismus in Deutschland. Jedoch zeichnete sich bereits un-<br />

13 Vgl. Garin, Pico.<br />

99


<strong>Jörg</strong> <strong>Lauster</strong><br />

ter den italienischen Gelehrten eine beachtliche Bandbreite<br />

der Interpretationsansätze ab. Min<strong>des</strong>tens drei Linien sind zu<br />

erkennen. Schon früh wurde erstens gesehen, dass Pico nicht<br />

nur im Kontext <strong>des</strong> Platonismus oder Aristotelismus seiner<br />

Zeit zu lesen ist, sondern mit seinem Interesse an jüdischen<br />

Quellen <strong>und</strong> der Kabbala eigene Weg in Richtung eines modernen<br />

Universalismus beschritt. 14 Zweitens erfreute sich<br />

eine Interpretation besonderer Beliebtheit, <strong>die</strong> auf der Linie<br />

<strong>von</strong> Garins früher Monographie Pico als systembildenden<br />

Philosophen verstand. Schüler <strong>des</strong> einflussreichen Giovanni<br />

Gentile rückten <strong>die</strong> Renaissance nahe an den deutschen Idealismus<br />

heran <strong>und</strong> stilisierten Pico zu <strong>des</strong>sen Vorläufer. 15 Zudem<br />

verwiesen sie auf Picos kirchenkritische Passagen <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Reaktion der Inquisition. Das reichte offensichtlich, um<br />

ihn trotz seiner scholastischen Neigungen letztlich zu einem<br />

Vater <strong>des</strong> Antiklerikalismus zu erheben, der in Italien durchaus<br />

eine intellektuelle Tradition hatte <strong>und</strong> hat. Es mangelte<br />

dann aber drittens später – <strong>die</strong> Debatte um <strong>die</strong> Bedeutung Picos<br />

für <strong>die</strong> Theologie wurde zunächst außerhalb Italiens begonnen<br />

– auch nicht an Stimmen, <strong>die</strong> bei Pico eine ansprechende<br />

<strong>und</strong> durchaus kirchenkonforme Theologie fanden.<br />

Allein in der umfangreichen italienischen Forschung zu Pico<br />

konnte er als Universalist, als idealistischer Kirchenkritiker<br />

oder als innovativer Dogmatiker verstanden werden.<br />

Die Einschätzungen zu Picos Theologie sind für <strong>die</strong> Absicht<br />

<strong>des</strong> hier vorliegenden Ban<strong>des</strong> <strong>von</strong> besonderer Relevanz.<br />

Das theologische Interesse an Pico bewegt sich keineswegs in<br />

einem abgelegenen Sonderforschungsgelände. Ernst Cassirer<br />

hatte schon 1927 in seiner Stu<strong>die</strong> Individuum <strong>und</strong> Kosmos ein<br />

14 Vgl. Anagnine, Pico.<br />

15 Vgl. Saitta, Il pensiero italiano.<br />

100


Erläuterungen<br />

entscheiden<strong>des</strong> Diktum geprägt: „Die Philosophie <strong>des</strong> Quattrocento<br />

ist <strong>und</strong> bleibt, gerade in ihren bedeutendsten <strong>und</strong><br />

folgenreichsten Leistungen, wesentlich Theologie.“ 16 Es dauerte<br />

lange, bis Cassirers Diktum Gehör fand <strong>und</strong> Pico nicht<br />

nur als Philosoph, sondern als Theologe Interesse auf sich zog.<br />

Ein <strong>und</strong>ergraduate-Student, aber immerhin aus Harvard,<br />

brachte den Stein der spezifisch theologischen Erforschung<br />

<strong>von</strong> Picos Schriften ins Rollen. Avery Dulles, der Sohn <strong>des</strong> späteren<br />

US-Außenministers John Foster Dulles, entstammte einer<br />

einflussreichen protestantischen Familie, konvertierte jedoch<br />

während seines Studiums zum Katholizismus, trat später<br />

den Jesuiten bei <strong>und</strong> wurde schließlich zum Kardinal<br />

ernannt. Als junger Student beschäftigte er sich im Umfeld<br />

seiner Konversion mit Pico. Sein preisgekrönter Essay lenkte<br />

den Blick auf etwas scheinbar Offensichtliches, das aber in der<br />

Forschung lange übersehen wurde: Picos Interesse an der<br />

Scholastik. 17 Vermutlich fügte sich <strong>die</strong>se Seite in Pico nicht<br />

gut in das Bild, das seit Jacob Burckhardt <strong>von</strong> der Renaissance<br />

als Gegenbewegung gegen das Mittelalter gezeichnet wurde.<br />

Aber schon seinen Zeitgenossen war es ja keineswegs entgangen,<br />

dass Pico gegenüber einem Humanisten wie Ermolao<br />

Barbaro <strong>die</strong> Vorzüge der scholastischen Methode pries, sich<br />

zur Vorbereitung seiner 900 Thesen noch einmal eigens nach<br />

Paris begab <strong>und</strong> für <strong>die</strong> geplante Zusammenkunft in Rom <strong>die</strong><br />

dialektische Methode scholastischer Debatten vorschlug.<br />

Dulles mochte <strong>die</strong> scholastische Seite zu stark betont <strong>und</strong> Picos<br />

Theologie zu stark systematisiert haben, seine Gr<strong>und</strong>einsicht<br />

hatte jedoch Bestand <strong>und</strong> wurde auch in der Pico-Forschung<br />

rasch <strong>von</strong> Größen wie Eugenio Garin anerkannt.<br />

16 Cassirer, Individuum <strong>und</strong> Kosmos, 4<br />

17 Dulles, Princeps Concordiae.<br />

101


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ISBN 978-3-374-07063-3 // eISBN (PDF) 978-3-374-07064-0<br />

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