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Rochus Leonhardt: Ethik (Leseprobe)

Ethik ist eine wissenschaftliche Disziplin, in der die Frage nach dem moralisch richtigen Handeln des Menschen erörtert wird. Obwohl sie also keine spezifisch theologische Wissenschaft ist, begegnet sie im Spektrum der theologischen Fächer als eine Teildisziplin der Systematischen Theologie. Dies liegt daran, dass der christliche Glaube auch eine lebens- und damit handlungsorientierende Bedeutung hat. Das Lehrbuch des Leipziger Theologen Rochus Leonhardt widmet sich in einem ersten Teil der Etablierung der Ethik als einer philosophischen Disziplin und fragt nach der Spezifik der theologischen Ethik. Ein zweiter Teil thematisiert zentrale biblische Bezugstexte und Leitbegriffe der christlichen Ethik und stellt maßgebliche Ethik-Typen vor. Der dritte Teil behandelt wichtige individual- und sozialethische Themen. Leitend ist dabei die Orientierung an den rechtfertigungstheologischen Grundeinsichten Martin Luthers.

Ethik ist eine wissenschaftliche Disziplin, in der die Frage nach dem moralisch richtigen Handeln des Menschen erörtert wird. Obwohl sie also keine spezifisch theologische Wissenschaft ist, begegnet sie im Spektrum der theologischen Fächer als eine Teildisziplin der Systematischen Theologie. Dies liegt daran, dass der christliche Glaube auch eine lebens- und damit handlungsorientierende Bedeutung hat.
Das Lehrbuch des Leipziger Theologen Rochus Leonhardt widmet sich in einem ersten Teil der Etablierung der Ethik als einer philosophischen Disziplin und fragt nach der Spezifik der theologischen Ethik. Ein zweiter Teil thematisiert zentrale biblische Bezugstexte und Leitbegriffe der christlichen Ethik und stellt maßgebliche Ethik-Typen vor. Der dritte Teil behandelt wichtige individual- und sozialethische Themen. Leitend ist dabei die Orientierung an den rechtfertigungstheologischen Grundeinsichten Martin Luthers.

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Lehrwerk<br />

Evangelische<br />

Theologie<br />

6<br />

<strong>Rochus</strong> <strong>Leonhardt</strong><br />

<strong>Ethik</strong>


Zum Lehrwerk<br />

Das Lehrwerk Evangelische Theologie (LETh) bietet einen Überblick<br />

über alle Fächer der Evangelischen Theologie nebst einer Einführung<br />

für Theologinnen und Theologen in die Religionswissenschaft. Auf dem<br />

aktuellen Stand der Forschung vermittelt es das Grundwissen für Studium<br />

und Examen. Zielgruppe sind Studierende der Evangelischen<br />

Theologie im Hauptfach sowie im Diplom- oder Magisterstudium<br />

Evangelische Theologie. In besonderer Weise dürfen sich Studierende<br />

mit dem Berufsziel Pfarramt und Lehramt – hier vor allem, aber nicht<br />

ausschließlich am Gymnasium – angesprochen fühlen. Das Lehrwerk<br />

lässt sich aber auch unabhängig von modularisierten Studiengängen<br />

benutzen. Das Bemühen um einen klaren Aufbau der Bände und eine<br />

griffige Sprache, bei der Fachterminologie und gutes Deutsch zu sam -<br />

menfinden, zielt auf eine Leserschaft, die Freude an theo logischer Bildung<br />

hat.<br />

Die Bände des Lehrwerks wollen keine historisierende Darstellung<br />

der einzelnen theologischen Fächer und Teildisziplinen geben, sondern<br />

gegenwartsbezogenes theologisches Grundwissen vermitteln. Dabei<br />

bemühen sich die Autoren, den Gesichtspunkt der fachwissenschaftlichen<br />

Relevanz von Theologie mit der praxisorientierten Ausrichtung<br />

auf das künftige Berufsfeld der Studierenden zu verbinden. Die Leitfrage<br />

bei der Stoffauswahl lautet: Welches Grundwissen ist für den Erwerb der<br />

im Pfarramt oder im Lehramt geforderten theologischen Kompetenz<br />

entscheidend?<br />

Für jeden Band ist selbstverständlich sein Autor oder seine Autorin<br />

verantwortlich. Zugleich aber wurde jeder Einzelband vor dem Erscheinen<br />

im Herausgeberkreis im Hinblick auf inhaltliche Grundentscheidungen<br />

und Aufbau gründlich diskutiert. Auf diese Weise werden Querverbindungen<br />

hergestellt und Überschneidungen vermieden, um dem<br />

Ge samtwerk bei aller theologischen Pluralität die nötige Geschlossenheit<br />

zu verleihen. Den Leserinnen und Lesern sollen auf diese Weise die<br />

innere Einheit der Theologie und die bestehenden Zusam menhänge


VI<br />

Zum Lehrwerk<br />

zwischen ihren Einzeldisziplinen, ihren Fragestellungen und Methoden<br />

deutlich werden (enzyklopädischer Aspekt).<br />

Der Umfang der Bände und ihr Aufbau richten sich nach den Erfordernissen<br />

des für Studierende im Rahmen von Prüfungsvorbereitungen<br />

rezipierbaren Stoffes. Die Hardcovereinbände sind strapazierfähig, die<br />

Ladenpreise bezahlbar.<br />

Bis 2022 erscheint das Lehrwerk Evangelische Theologie in zehn<br />

Bänden (zwei Bände pro Jahr):<br />

2018: Band 5: Dogmatik (Ulrich H. J. Körtner)<br />

Band 9: Ökumenische Kirchenkunde (Ulrich H. J. Körtner)<br />

2019: Band 6: <strong>Ethik</strong> (<strong>Rochus</strong> <strong>Leonhardt</strong>)<br />

Band 8: Religionspädagogik (Michael Domsgen)<br />

2020: Band 7: Praktische Theologie (Isolde Karle)<br />

Band 10: Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie<br />

(Henning Wrogemann)<br />

2021: Band 1: Altes Testament (Beate Ego)<br />

Band 4: Kirchengeschichte II: Vom Spätmittelalter bis zur<br />

Gegenwart (Wolf-Friedrich Schäufele)<br />

2022: Band 2: Neues Testament (Christof Landmesser)<br />

Band 3: Kirchengeschichte I: Von der Alten Kirche bis zum<br />

Hochmittelalter (Katharina Greschat)<br />

Allen Bänden sind ein Literaturverzeichnis sowie Register – je nach Notwendigkeit<br />

zu Personen, Sachen und Bibelstellen – beigegeben. Die verwendeten<br />

Literaturabkürzungen richten sich nach der jeweils ak tuell s -<br />

ten Ausgabe des Internationalen Abkürzungsverzeichnisses für Theologie<br />

und Grenzgebiete (IATG), die Abkürzungen der Bibelstellen nach den<br />

Loccumer Richtlinien.<br />

Leipzig, im September 2017<br />

Verlag und Autorenschaft


Inhalt<br />

Vorwort zum Band .....................................................................................<br />

XV<br />

1. Zu Begriff und Entstehung der (christlichen) <strong>Ethik</strong><br />

1.1 Begriffserklärungen .......................................................................... 2<br />

1.1.1 <strong>Ethik</strong> und Moral ................................................................... 2<br />

Exkurs: Der Sprachgebrauch bei Jürgen Habermas ..... 5<br />

Exkurs: Metaethik ................................................................ 10<br />

1.1.2 Moral und Recht .................................................................. 11<br />

1.1.3 Das Problem des Naturrechts ............................................ 18<br />

1.1.4 Vertiefende und weiterführende Literatur ..................... 22<br />

1.2 Die Etablierung der <strong>Ethik</strong> als philosophische Disziplin ........ 22<br />

1.2.1 Die »<strong>Ethik</strong>« der vorphilosophischen Zeit ........................ 23<br />

a Das Verhalten des Achilleus ............................................ 23<br />

b Götter und Menschen bei Homer ................................. 26<br />

c Antigone und Kreon .......................................................... 28<br />

1.2.2 Die sophistische Herausforderung und die<br />

platonische Philosophie ...................................................... 30<br />

a Hinführung ........................................................................ 30<br />

b Die sophistische Herausforderung ............................... 32<br />

c Sokrates und die Platonische Philosophie .................... 35<br />

1.2.3 Durchbruch: Die praktische Philosophie<br />

des Aristoteles ........................................................................ 40<br />

a Die drei <strong>Ethik</strong>en ................................................................. 40<br />

b Der wissenschaftstheoretische Ort der praktischen<br />

Philosophie ......................................................................... 41<br />

c Die interne Gliederung der praktischen Philosophie 42<br />

d Die Abgrenzung von Platon ........................................... 45<br />

e Das »Programm« der aristotelischen <strong>Ethik</strong>:<br />

Glück durch Tugend ........................................................ 46<br />

1.2.4 Vertiefende und weiterführende Literatur ..................... 50<br />

1.3 <strong>Ethik</strong> als theologische Disziplin ................................................. 50<br />

1.3.1 Was heißt »christliche <strong>Ethik</strong>«? ........................................... 51<br />

a Hinführung ........................................................................ 51


VIII<br />

Inhalt<br />

b Hellenistische <strong>Ethik</strong> und Christentum im<br />

Römischen Reich .............................................................. 55<br />

c Das frühe Christentum zwischen Weltindifferenz<br />

und Weltgestaltungsinteresse........................................ 61<br />

1.3.2 Biblische Begründbarkeit der evangelischen <strong>Ethik</strong>? .... 68<br />

a Hinführung ....................................................................... 68<br />

b Literaturwissenschaftliche Hermeneutik<br />

und juristische Methodenlehre ..................................... 70<br />

c Luthers Auslegung von Kol 2,16 .................................... 73<br />

d Eine innerprotestantische Kontroverse zum<br />

Schriftgebrauch in der <strong>Ethik</strong> ......................................... 75<br />

e Fazit ..................................................................................... 80<br />

1.3.3 Der wissenschaftssystematische Ort der<br />

christlichen <strong>Ethik</strong>? ............................................................... 81<br />

a Hinführung ....................................................................... 81<br />

b Die enzyklopädische Verortung der <strong>Ethik</strong> in der<br />

christlichen Theologie ..................................................... 82<br />

c Das Verhältnis zwischen philosophischer und<br />

theologischer <strong>Ethik</strong> .......................................................... 88<br />

1.3.4 Vertiefende und weiterführende Literatur ..................... 93<br />

2. Zur historischen Entwicklung der <strong>Ethik</strong><br />

2.1 Biblische Bezugstexte und Leitbegriffe …………………………........ 95<br />

2.1.1 Der Dekalog ........................................................................... 95<br />

a Allgemeine Hinweise ....................................................... 95<br />

b Zur Gliederung des Dekalogs ......................................... 96<br />

c Luthers Auslegung des Dekalogs .................................. 98<br />

2.1.2 Die Bergpredigt..................................................................... 105<br />

a Allgemeine Hinweise ....................................................... 105<br />

b Die Antithesen der Bergpredigt ..................................... 107<br />

c Zur Auslegung der Bergpredigt ..................................... 110<br />

2.1.3 Liebe ........................................................................................ 114<br />

a Allgemeine Hinweise ....................................................... 114<br />

b Das Liebesgebot im Neuen Testament ........................ 116<br />

c Zur Deutungsgeschichte des Liebesgebots ................. 119<br />

2.1.4 Freiheit ................................................................................... 122<br />

a Allgemeine Hinweise ....................................................... 122<br />

b Freiheit in den biblischen Überlieferungen ............... 123<br />

c Freiheit im Protestantismus .......................................... 128<br />

2.1.5 Gerechtigkeit ........................................................................ 131<br />

a Allgemeine Hinweise ....................................................... 131


Inhalt<br />

IX<br />

b Gerechtigkeit bei Platon und Aristoteles ..................... 131<br />

c Gerechtigkeit in den biblischen Überlieferungen ..... 136<br />

d Gerechtigkeit in der scholastischen Tradition ........... 139<br />

2.1.6 Vertiefende und weiterführende Literatur ..................... 142<br />

2.2 Vorreformatorische Entwürfe ...................................................... 143<br />

2.2.1 Ambrosius von Mailand (339–397) .................................... 143<br />

a Allgemeine Hinweise ....................................................... 144<br />

b Das ewige Leben als höchstes Gut ................................. 145<br />

c Die Unterscheidung zwischen mittleren und<br />

vollkommenen Pflichten ................................................. 147<br />

2.2.2 Augustinus von Hippo (354–430) ...................................... 150<br />

a Allgemeine Hinweise ....................................................... 150<br />

b Die sündentheologische Restriktion der<br />

menschlichen Glückskompetenz .................................. 151<br />

c Die Eschatologisierung des wahren Glücks ................ 153<br />

2.2.3 Thomas von Aquin (1224/25–1274) .................................... 155<br />

a Allgemeine Hinweise ....................................................... 155<br />

b Systematischer Ort und geistesgeschichtliche<br />

Quellen der Glückslehre .................................................. 157<br />

c Der Weg zur beatitudo .................................................... 161<br />

2.2.4 Vertiefende und weiterführende Literatur ..................... 163<br />

2.3 Reformatorische Traditionen und<br />

altprotestantische Orthodoxie ..................................................... 164<br />

2.3.1 Martin Luther (1483–1546) .................................................. 164<br />

a Voraussetzungen: Spätmittelalterlicher Hintergrund<br />

und reformatorische Erkenntnis ...................... 165<br />

b Grundentscheidungen: Das Verhältnis von Glauben<br />

und guten Werken ............................................................ 169<br />

c Deutungsmöglichkeiten von Luthers <strong>Ethik</strong> ............... 173<br />

2.3.2 Philipp Melanchthon (1497–1560) .................................... 178<br />

a Allgemeine Hinweise ....................................................... 178<br />

b Die Rezeption der antiken praktischen<br />

Philosophie ........................................................................ 180<br />

c Die Legitimierung des landesherrlichen<br />

Kirchenregiments ............................................................. 182<br />

2.3.3 Ulrich Zwingli (1484–1531) ................................................ 183<br />

a Allgemeine Hinweise ....................................................... 184<br />

b Göttliche und menschliche Gerechtigkeit .................. 185<br />

c Der Politiker unter den Reformatoren ......................... 187<br />

2.3.4 Johannes Calvin (1509–1564) .............................................. 189<br />

a Allgemeine Hinweise ....................................................... 190


X<br />

Inhalt<br />

b Der biblisch bezeugte Wille Gottes als Maßstab<br />

christlichen Handelns ..................................................... 191<br />

c Erziehung der Christen durch Kirchenzucht ............. 193<br />

2.3.5 Täufertum, Spiritualismus und Dogmenkritik ............ 195<br />

a Täufertum .......................................................................... 196<br />

b Spiritualismus ................................................................... 197<br />

c Dogmenkritik .................................................................... 198<br />

d Resümee .............................................................................. 200<br />

2.3.6 Lambertus Danaeus (ca. 1532–1595), Georg Calixt<br />

(1586–1656) u. a. ..................................................................... 201<br />

a Allgemeine Hinweise ....................................................... 202<br />

b Danaeus .............................................................................. 202<br />

c Calixt ................................................................................... 204<br />

d Zur Altprotestantischen Orthodoxie ........................... 206<br />

2.3.7 Vertiefende und weiterführende Literatur..................... 207<br />

2.4 Klassische Positionen aus Aufklärung und Frühmoderne .... 208<br />

2.4.1 Immanuel Kant (1724–1804) .............................................. 208<br />

a Allgemeine Hinweise ....................................................... 208<br />

b Der kategorische Imperativ als Grundsatz der<br />

reinen praktischen Vernunft ......................................... 210<br />

c Der Weg zur Postulatenlehre ......................................... 215<br />

2.4.2 Friedrich Schleiermacher (1768–1834) .............................. 218<br />

a Allgemeine Hinweise ....................................................... 218<br />

b Die Konzeption der <strong>Ethik</strong> als Güterlehre .................... 220<br />

c Die Formen der Vernunfttätigkeit und das Schema<br />

der Quadruplizität ........................................................... 223<br />

d Traditionen der philosophischen <strong>Ethik</strong> und ihr<br />

Verhältnis zur christlichen Sittenlehre ....................... 225<br />

2.4.3 John Stuart Mill (1806–1873) .............................................. 226<br />

a Allgemeine Hinweise ....................................................... 227<br />

b Mills Begriff des Utilitarismus ...................................... 228<br />

c Die Unterscheidung von Motiv [motive]| und<br />

Absicht [intention] ........................................................... 232<br />

2.4.4 Vertiefende und weiterführende Literatur..................... 235<br />

2.5 Zusammenfassende Übersicht zu den Abschnitten 2.2 bis 2.4 236<br />

2.6 Deutschsprachige evangelische <strong>Ethik</strong> seit 1850........................ 237<br />

2.6.1 Richard Rothe (1799–1867) ................................................. 237<br />

2.6.2 Franz Hermann Reinhold von Frank (1827–1894) ......... 240<br />

2.6.3 Wilhelm Herrmann (1846–1922) ....................................... 242<br />

2.6.4 Karl Barth (1886–1968) ......................................................... 246<br />

2.6.5 Dietrich Bonhoeffer (1906–1945)........................................ 249


Inhalt<br />

XI<br />

2.6.6 Helmut Thielicke (1908–1986) ........................................... 252<br />

2.6.7 Trutz Rendtorff (1931–2016) ............................................... 255<br />

2.6.8 Eilert Herms (geb. 1940) ...................................................... 260<br />

2.6.9 Johannes Fischer (geb. 1947) .............................................. 264<br />

2.6.10 Vertiefende und weiterführende Literatur..................... 269<br />

2.7 Hinweise zur römisch-katholischen <strong>Ethik</strong> ............................... 270<br />

2.7.1 Zur katholischen Moraltheologie..................................... 270<br />

2.7.2 Zur katholischen Soziallehre ............................................. 273<br />

2.7.3 Vertiefende und weiterführende Literatur..................... 279<br />

3. Themenfelder der (evangelisch-theologischen) <strong>Ethik</strong><br />

3.0 Vorbemerkungen .………………….............................................……… 280<br />

3.1 Die Rechtfertigungslehre als Grundlage der<br />

evangelischen <strong>Ethik</strong>........................................................................ 291<br />

3.1.1 Nicht-Perfektibilität und Endlichkeitsmanagement .. 292<br />

a Allgemeine Hinweise ...................................................... 292<br />

b Nicht-Perfektibilität ........................................................ 293<br />

c Endlichkeitsmanagement .............................................. 295<br />

3.1.2 Rückbezug auf Luthers Rechtfertigungslehre............... 300<br />

a Allgemeine Hinweise ....................................................... 300<br />

b Nicht-Perfektibilität und Endlichkeitsmanagement<br />

bei Luther ........................................................................... 300<br />

Exkurs: »Schluss mit Sünde«?............................................. 304<br />

3.1.3 Provisorische Moral ............................................................. 305<br />

3.1.4 Vertiefende und weiterführende Literatur..................... 308<br />

3.2 Materiale Themenfelder der <strong>Ethik</strong> I ........................................... 308<br />

3.2.1 Die Moralitätsfähigkeit des Menschen: das Problem<br />

der Freiheit ............................................................................ 308<br />

a Allgemeine Hinweise ...................................................... 308<br />

b Handlungsfreiheit und Willensfreiheit ...................... 311<br />

c Angeeignete Freiheit ....................................................... 315<br />

3.2.2 Würde und Rechte des Menschen .................................... 319<br />

a Zwei Traditionen .............................................................. 319<br />

b Menschenwürde und Menschenrechte<br />

im Christentum ................................................................ 326<br />

c Neuere und aktuelle Entwicklungen und<br />

Debatten ............................................................................. 334<br />

3.2.3 Der Mensch und sein Gewissen ........................................ 343<br />

a Allgemeine Hinweise ...................................................... 343<br />

b Klassische Gewissenstheorien ....................................... 346<br />

c Die Ambivalenz menschlicher Gewissensurteile ...... 351


XII<br />

Inhalt<br />

3.2.4 Das Leben des Menschen (I): Anfang und Ende............. 357<br />

a Allgemeine Hinweise ...................................................... 357<br />

b Lebensanfang ..................................................................... 360<br />

c Lebensende ......................................................................... 375<br />

3.2.5 Das Leben des Menschen (II): Liebe, Sexualität, Ehe<br />

und Familie ............................................................................ 384<br />

a Allgemeine Hinweise ...................................................... 384<br />

b Augustinus und Luther über die Ehe .......................... 387<br />

c Homosexualität und Ehe ................................................ 392<br />

3.2.6 Das Leben des Menschen (III): Alter und Sterben .......... 400<br />

a Allgemeine Hinweise ...................................................... 400<br />

b Das Alter ............................................................................. 403<br />

c Sterben und Sterbenshilfe .............................................. 416<br />

3.2.7 Die Sprache des Menschen: Das Problem der Lüge ....... 424<br />

a Allgemeine Hinweise ...................................................... 424<br />

b Die ethische Beurteilung der Lüge –<br />

historischer Rückblick ..................................................... 425<br />

c Das Thema Lüge in der neueren protestantischen<br />

Theologie ............................................................................ 434<br />

d Was ist Lüge? ..................................................................... 437<br />

3.2.8 Der Mensch und seine Umwelten .................................... 442<br />

a Allgemeine Hinweise ...................................................... 442<br />

b Die künstliche Umwelt: Die Technik ........................... 443<br />

c Die natürliche Umwelt.................................................... 450<br />

3.2.9 Vertiefende und weiterführende Literatur ..................... 460<br />

3.3 Materiale Themenfelder der <strong>Ethik</strong> II/1: Wirtschaft ................. 462<br />

3.3.0 Vorbemerkungen ................................................................. 462<br />

3.3.1 Wirtschaftsethik in der praktischen Philosophie<br />

des Aristoteles ....................................................................... 465<br />

3.3.2 Zum biblischen Erbe und zur alteuropäischen<br />

Tradition ................................................................................ 468<br />

a Zum Alten Testament ..................................................... 468<br />

b Zum Neuen Testament ................................................... 471<br />

c Das mittelalterliche Zinsverbot .................................... 474<br />

3.3.3 Die moralische Aufwertung des ökonomischen<br />

Gewinnstrebens .................................................................... 477<br />

a Vorlauf: Die Reformation ............................................... 477<br />

b Durchbruch I: Der kapitalistische Geist als Folge<br />

des asketischen Protestantismus .................................. 481<br />

c Durchbruch II: Die Ideologie des freien Marktes als<br />

»neustoisch-liberale Erlösungslehre« ........................... 486


Inhalt<br />

XIII<br />

3.3.4 Die soziale Marktwirtschaft ............................................... 492<br />

a Entstehung und Profil .................................................... 492<br />

b Zwischenbemerkung ...................................................... 496<br />

c Wachsende Ungleichheit von Einkommen und<br />

Vermögen in Deutschland .............................................. 496<br />

d Globalisierung und Umweltproblematik .................. 498<br />

3.3.5 Wirtschaftsethische Ansätze der Gegenwart und<br />

der Beitrag der evangelischen <strong>Ethik</strong> ................................ 500<br />

a »Wirtschaftsethik – als <strong>Ethik</strong>?« ...................................... 500<br />

b Wirtschaftsethische Ansätze säkularer Provenienz 502<br />

c Wirtschaftsethische Ansätze evangelischtheologischer<br />

Provenienz ................................................ 506<br />

3.3.6 Vertiefende und weiterführende Literatur..................... 510<br />

3.4 Materiale Themenfelder der <strong>Ethik</strong> II/2: Politik ........................ 511<br />

3.4.0 Vorbemerkungen ................................................................. 511<br />

3.4.1 Staat und Bürger................................................................... 516<br />

a Hinweise zum Staatsbegriff ........................................... 516<br />

b Partizipationsstrukturen im Wandel .......................... 519<br />

c Zwischenbemerkung ....................................................... 528<br />

d Protestantismus und Demokratie ................................ 529<br />

3.4.2 Staat und Religion................................................................ 538<br />

a Vorreformatorische Konstellationen ............................ 538<br />

b Reformatorische Impulse und nachreformatorische<br />

Entwicklungen .................................................................. 542<br />

c Der Pluralismus und seine Probleme ........................... 553<br />

3.4.3 Krieg und Frieden................................................................. 562<br />

a Allgemeine Hinweise ...................................................... 562<br />

b Theorien des gerechten Krieges .................................... 564<br />

c Gerechter Friede statt gerechter Krieg? ....................... 571<br />

3.4.4 Vertiefende und weiterführende Literatur..................... 577<br />

Anhang<br />

Literatur ........................................................................................................ 579<br />

Register ......................................................................................................... 629<br />

Namen ............................................................................................... 629<br />

Sachen ................................................................................................ 633<br />

Bibelstellen ....................................................................................... 639


Vorwort<br />

Dieses Lehrbuch behandelt die <strong>Ethik</strong> als eine theologische Disziplin,<br />

genauer: als ein Teilfach der Systematischen Theologie. Der andere<br />

Zweig der Systematischen Theologie ist im »Lehrwerk Evangelische<br />

Theologie« durch den von Ulrich Körtner verfassten Band zur Dogmatik<br />

repräsentiert (LEvTh 5), der bereits 2018 erschienen ist.<br />

Mit der hier durchgeführten Behandlung der <strong>Ethik</strong> als einer theologischen<br />

Disziplin hängt die Verortung dieses Lehrbuchs im Horizont des<br />

christlichen Glaubens zusammen. Näherhin ist damit – dem konfessionellen<br />

Profil der Reihe entsprechend – der christliche Glaube evangelischer<br />

Prägung gemeint, wobei im vorliegenden Lehrbuch die lutherische<br />

Tradition eine besondere Rolle spielt.<br />

Die Abfassung eines Lehrbuchs zur (evangelisch-theologischen)<br />

<strong>Ethik</strong> steht vor spezifischen Schwierigkeiten. Dass es in der <strong>Ethik</strong> ein im<br />

Verhältnis zur Dogmatik deutlich breiteres Spektrum an Aufbau- und<br />

Gliederungsvarianten gibt, ist dabei noch das harmloseste Problem.<br />

Eine gravierendere Herausforderung ergibt sich angesichts der Tatsache,<br />

dass die Zahl der ethisch relevanten und daher behandlungswürdigen<br />

Themenfelder so groß ist, dass eine vollständige Abarbeitung einerseits<br />

die Kompetenzen (wahrscheinlich) jedes einzelnen Autors sprengen<br />

würde. Andererseits würde der im (hypothetischen) Erfolgsfall<br />

erreichte Umfang des Lehrbuchs dazu führen, dass die Zielgruppe – Studierende<br />

der Evangelischen Theologie – nur noch teilweise erreicht werden<br />

könnte.<br />

Mit der angesichts des Übermaßes behandlungswürdiger Themenfelder<br />

unvermeidbaren Auswahlentscheidung ist eine weitere Schwierigkeit<br />

verbunden. Sie besteht darin, dass die Aktualität konkreter<br />

ethisch relevanter Fragen konjunkturellen Schwankungen unterliegt.<br />

Dies hat, wie Johannes Fischer zu Recht festgestellt hat, damit zu tun,<br />

dass es vielfach öffentliche Debatten sind, die dazu führen, dass be -<br />

stimmte Themen auch in wissenschaftsinternen Fachdiskursen verstärkt<br />

berücksichtigt werden (vgl. dazu die Hinweise in Abschnitt 3.0,<br />

bes. Seite 290 f.).


XVI<br />

Vorwort<br />

Die Kehrseite dieser zunächst erfreulichen Aktualitätsverbundenheit<br />

der <strong>Ethik</strong> ist die der Schnelllebigkeit öffentlicher Debatten geschuldete<br />

manchmal nur kurze Halbwertszeit bestimmter Problemkonstellationen<br />

und Lösungsansätze. – Vielleicht sind sogar manche in diesem<br />

Lehrbuch als noch offen deklarierte ethische Fragen schon entschieden,<br />

wenn die ersten Leserinnen und Leser etwa die Abschnitte 3.2.4c<br />

(Thema: Organspende) oder 3.2.5c (Thema: Trauung für alle) gelesen<br />

haben.<br />

Dem Programm des »Lehrwerk[s] Evangelische Theologie« entsprechend<br />

zielt dieser Band primär darauf, Grundwissen für Studium und<br />

Examen zu vermitteln und die Leserinnen und Leser dadurch zu selbstständiger<br />

Meinungs- und Urteilsbildung zu befähigen und zu ermuntern.<br />

Allerdings habe ich darüber hinaus auch den Versuch unternommen,<br />

ein eigenes Verständnis dessen zu entfalten, was das Spezifikum<br />

einer evangelisch-christlichen <strong>Ethik</strong> ausmacht. Entscheidend ist dabei<br />

die insbesondere in 3.1 unternommene Herausarbeitung dessen, worin<br />

nach meiner Auffassung die gegenwärtig relevante Pointe der sog.<br />

Rechtfertigungslehre besteht. Davon, dass mit diesem Rekurs auf die<br />

reformatorische Tradition keine Repristination einer mittelalterlich<br />

verwurzelten theologischen Theorie vormodernen Zuschnitts verbunden<br />

ist, sollten wohlwollende Leserinnen und Leser schnell überzeugt<br />

sein, ungeachtet dessen, ob ihnen mein Zugang sonst einleuchtet.<br />

Die hier versuchte aktualisierende Reformulierung der Rechtfertigungslehre<br />

zielt übrigens gar nicht auf Proselytenmacherei, sondern<br />

setzt konsequent auf eine Priorisierung der Reflexion gegenüber der<br />

Instruktion.<br />

Die Arbeit an dem Lehrbuch habe ich in einer für mich persönlichbiographisch<br />

recht turbulenten Lebensphase begonnen. Dies hat auch<br />

dazu geführt, dass ich bei der Fertigstellung permanent unter Zeitdruck<br />

stand. Umso mehr danke ich Frau Dr. Annette Weidhas von der Evangelischen<br />

Verlagsanstalt für ihre Begleitung bei der Entstehung des Bu -<br />

ches, eine Begleitung, für die eine wohltuend-charmante Mischung aus<br />

Nachdruck und Nachsicht charakteristisch war.<br />

Ein weiterer Dank geht an diejenigen Studierenden, Mitarbeiter<br />

und Kollegen, die auf jeweils ganz verschiedene Weise zur Fertigstellung<br />

des Buches beigetragen haben. Dies betrifft zunächst die Autorinnen<br />

und Autoren des »Lehrwerk[s] Evangelische Theologie«, mit denen ich<br />

Teile des Manuskripts inhaltlich besprechen konnte. Dies gilt darüber


Vorwort<br />

XVII<br />

hinaus für Herrn PD Dr. Georg Neugebauer, Frau Jenny Beyer, Frau Jana<br />

Richter, Frau Lisa Kunze, Herrn Friedemann Richter und Frau Alisia<br />

Groicher, die mich teils konzeptionell, teils durch Literaturrecherchen<br />

und teils durch Hilfe beim Korrekturlesen unterstützt haben.<br />

Der letzte, dafür aber nachdrücklichste Dank geht an meine Frau<br />

Heike. Sie hat durch ihre liebevolle Unterstützung, vor allem durch ihr<br />

Verständnis für meinen manchmal überbordenden Bedarf an Arbeitszeit,<br />

einen ganz eigenen Anteil daran, dass dieses Buch das Licht der Welt<br />

erblicken konnte.<br />

Leipzig, im Mai 2019 <strong>Rochus</strong> <strong>Leonhardt</strong>


1.<br />

Zu Begriff und Entstehung<br />

der (christlichen) <strong>Ethik</strong><br />

In diesem ersten Hauptteil wird zunächst erläutert, was im vorliegenden<br />

Lehrbuch unter <strong>Ethik</strong> im Allgemeinen verstanden wird (1.1). Diese<br />

Erläuterung vollzieht sich so, dass die Bedeutungen der Wörter <strong>Ethik</strong><br />

und Moral jeweils bestimmt und dadurch voneinander abgegrenzt werden<br />

(1.1.1). Das dabei erzielte Ergebnis wird dann die Frage nach dem<br />

Verhältnis von Moral und Recht aufwerfen, die ebenfalls einer Klärung<br />

zugeführt wird (1.1.2). Ausgehend von der Feststellung, dass die Unterscheidung<br />

von Recht und Moral die Möglichkeit einer moralisch fundierten<br />

Kritik geltenden Rechts sichert, wird schließlich der für solche<br />

Kritik regelmäßig herangezogene Begriff des Naturrechts genauer erläutert<br />

(1.1.3).<br />

In einem zweiten Schritt (1.2) werden die Hintergründe der Entstehung<br />

der <strong>Ethik</strong> als einer philosophischen Disziplin dargestellt (1.2.1/<br />

1.2.2), gefolgt von einigen Hinweisen zu Aristoteles (384–322 v. Chr.),<br />

in dessen praktischer Philosophie sich der Durchbruch zur Etablierung<br />

einer selbständigen philosophischen <strong>Ethik</strong> und ihrer wirkungsgeschichtlich<br />

bedeutsamen (teilweise auch in diesem Lehrbuch rezipierten;<br />

vgl. 3.0) internen Gliederung manifestiert (1.2.3).<br />

An dritter Stelle (1.3) wird zunächst entfaltet, was speziell unter<br />

christlicher <strong>Ethik</strong> zu verstehen ist (1.3.1). Damit sind die Ausführungen<br />

dieses Kapitels beim eigentlichen Thema dieses Buches angekommen,<br />

nämlich bei der <strong>Ethik</strong> als einer Teildisziplin der (Systematischen) Theologie.<br />

Wie sie konkret profiliert ist, wird sowohl im Blick auf das biblische<br />

Fundament des christlichen Glaubens (1.3.2) als auch in wissenschaftssystematischer<br />

Hinsicht erläutert (1.3.3); dabei geht es sowohl<br />

um die enzyklopädische Verortung der <strong>Ethik</strong> in der christlichen Theologie<br />

als auch um die Klärung des Verhältnisses der theologischen zur<br />

philosophischen <strong>Ethik</strong>.


2<br />

1. Zu Begriff und Entstehung der (christlichen) <strong>Ethik</strong><br />

1.1 Begriffsklärungen<br />

Auf die Frage nach den Differenzen im Gebrauch der Wörter <strong>Ethik</strong> und<br />

Moral (1.1.1) geben unterschiedliche Zeitgenossen erfahrungsgemäß<br />

verschiedene Antworten. Ähnliches gilt für die Frage nach dem Verhältnis<br />

von Moral und Recht (1.1.2); auch hier gibt es im Blick auf eine sachgerechte<br />

Verhältnisbestimmung ganz unterschiedliche landläufige Auffassungen.<br />

Im Blick auf die Profilierung des in der vorliegenden Darstellung<br />

verwendeten <strong>Ethik</strong>-Begriffs soll an diesen Punkten ein wenig<br />

Klarheit geschaffen werden. Schließlich (1.1.3) ist auf den Begriff des Na -<br />

turrechts einzugehen, in dem sich das komplexe Verhältnis von Moral<br />

und Recht gleichsam verdichtet.<br />

1.1.1 <strong>Ethik</strong> und Moral<br />

Zunächst ist festzuhalten, dass die Wörter <strong>Ethik</strong> und Moral im Blick auf<br />

ihre Etymologie (Wortherkunft) im Prinzip dasselbe bedeuten. Beim<br />

Wort <strong>Ethik</strong> handelt es sich um ein auf das griechische ἦθος (ēthos) oder<br />

ἔθος (éthos) zurückgehendes Fremdwort. Beide Wörter bedeuten ge -<br />

meinsam Gewohnheit oder Sitte. Das Wort ἦθος (ē thos) kann darüber<br />

hinaus noch als Wohnort und auch als Charakter übersetzt werden. Das<br />

Wort Moral geht zurück auf das lateinische mos, das sowohl für Sitte als<br />

auch für Charakter stehen kann und damit die Bedeutungen von ἦθος<br />

(ē thos) und ἔθος (éthos) im Wesentlichen vereint. – Die aufgewiesene<br />

Bedeutungsidentität in etymologischer Hinsicht verweist darauf, dass<br />

einer Differenzierung im Wortgebrauch eine terminologische Entscheidung<br />

zugrunde liegt.<br />

Als Grundlage einer solchen Entscheidung kann zunächst die Tatsache<br />

gelten, dass der Philosoph Aristoteles den Bereich des »Sittlichen«<br />

(τὰ ἠθικά 1 /tà ēthiká), also die Gesamtheit derjenigen Dinge, die<br />

Gewohnheit, Sitte und Brauch betreffen, als Gegenstand einer eigenen<br />

Wissenschaft verstanden und dieser Wissenschaft die Bezeichnung<br />

ἠθικὴ θεωρία (ē thikè theoría) gegeben hat. 2 In Anlehnung an diese<br />

Benennung gilt <strong>Ethik</strong> als Ausdruck für jenen Teil der Philosophie, der<br />

1 Aristoteles, Metaphysik, 1. Teilband, 38 f. (I 6: 987b1).<br />

2 Aristoteles, Analytica Posteriora, 1. Teilband, 59 (I 33: 89b9).


1.1 Begriffsklärungen 3<br />

sich mit dem menschlichen Handeln befasst, und Aristoteles gilt als<br />

erster programmatischer Vertreter der <strong>Ethik</strong> als Wissenschaft (vgl. 1.2.3).<br />

In der lateinischsprachigen Tradition kam es dann, neben einer Übernahme<br />

des griechischen Ausdrucks in latinisierter Form (ethica), 3 zu der<br />

Wortbildung Moralphilosophie (philosophia moralis ); damit bezeichnete<br />

namentlich der römische Politiker und Philosoph Marcus Tullius<br />

Cicero (106–43 v. Chr.) die philosophisch-wissenschaftliche Behandlung<br />

des »Sittlichen« (de moribus ).<br />

»[Q]uia pertinet ad mores, quod ἦθος [ēthos ] illi vocant, nos eam partem philosophiae<br />

de moribus appellare solemus, sed decet augentem linguam Latinam<br />

nominare moralem.« (Cicero, De fato/Über das Schicksal, 6 f.: 1,1)<br />

»[D]a sich dieser Teil der Philosophie mit den mores – die Griechen sprechen<br />

von êthos – befasst, verwenden wir für ihn gewöhnlich die Bezeichnung de<br />

moribus [über Charakter und Sitten]; doch würde es meinem Bestreben nach<br />

einer Erweiterung der lateinischen Sprache entsprechen, ihn moralis zu nennen.«<br />

(Übersetzung: Paola Calanchini)<br />

Das bisher Ausgeführte ist im Folgenden zusammengefasst.<br />

ARISTOTELES<br />

Lateinische<br />

Tradition<br />

CICERO<br />

Bezeichnungen der<br />

wissenschaftlichen<br />

(philosophischen) Disziplin<br />

<br />

(e¯ thikè theoría)<br />

Ethica<br />

Philosophia moralis/<br />

de moribus<br />

Gegenstand der<br />

wissenschaftlichen<br />

(philosophischen) Disziplin<br />

das menschliche Handeln – die<br />

Gesamtheit derjenigen Dinge,<br />

die Gewohnheit, Sitte und<br />

Brauch betreffen: (ta<br />

e¯ thiká); mores, quod <br />

[e¯ thos] illi vocant<br />

Vor diesem Hintergrund legt es sich nahe, unter <strong>Ethik</strong> (oder Moralphilosophie)<br />

diejenige wissenschaftliche Disziplin zu verstehen, die die<br />

Moral zum Gegenstand hat. Unter Moral wird dabei das gelebte Ethos<br />

verstanden: die Gesamtheit der das menschliche (Zusammen-)Leben in<br />

einem bestimmten Kontext bestimmenden Ge wohnheiten, Sitten oder<br />

Bräuche, kurz: das menschliche Handeln, so fern es von bestimmten<br />

Werthaltungen getragen ist.<br />

3 Nachweise bei Ritter, <strong>Ethik</strong> I–VI, 762 Anm. 32.


4<br />

1. Zu Begriff und Entstehung (christlicher) <strong>Ethik</strong><br />

In diesem Sinne kann auch »das Ganze der moralischen Einstellung<br />

und des moralischen Verhaltens eines Menschen« als dessen Ethos<br />

bezeichnet werden. 4<br />

Die skizzierte terminologische Entscheidung hat sich in einer prägnanten<br />

und viel rezipierten Formulierung des deutschen Soziologen<br />

und Systemtheoretikers Niklas Luhmann (1927–1998) niedergeschlagen;<br />

Luhmann versteht die <strong>Ethik</strong> als eine »Reflexionstheorie der Mo -<br />

ral«. 5 Diese Definition impliziert freilich eine hier kurz zu skizzierende<br />

Vorentscheidung, die der Formulierung als solcher nicht ohne weiteres<br />

anzusehen ist. Luhmann vertritt nämlich die Auffassung, dass die<br />

<strong>Ethik</strong> moralische Urteile nicht zu begründen, sondern eben (nur) zu<br />

reflektieren hat. Anders formuliert: Während er Moral als eine besondere<br />

Form der Kommunikation versteht, die anhand der Unterscheidung<br />

von gut und böse im Blick auf eine (oder mehrere) bestimmte Person(en)<br />

Achtung bzw. Missachtung zum Ausdruck bringt, hält die <strong>Ethik</strong> als wissenschaftlich<br />

betriebene Reflexionstheorie zu moralischen Beurteilungen<br />

Distanz. Die Aufgabe der <strong>Ethik</strong> ist es nach Luhmann lediglich, das<br />

Zustandekommen moralischer Urteile zu verstehen, nicht aber, es zu<br />

befördern. – Auf die Grenzen dieses Verständnisses wird gleich hingewiesen;<br />

diese Hinweise werden in Abschnitt 1.3.4 im Blick auf die hier<br />

vorliegende Darstellung der <strong>Ethik</strong> als Teildisziplin der (Systematischen)<br />

Theologie erneut aufgenommen und vertieft.<br />

Aus der dargestellten terminologischen Entscheidung ergibt sich<br />

eine Konsequenz für den Sprachgebrauch. Nimmt man nämlich ernst,<br />

dass <strong>Ethik</strong> (oder Moralphilosophie) als Bezeichnung(en) einer – als wissenschaftliche<br />

Disziplin auftretenden – Thematisierung und Reflexion<br />

der Moral fungieren, so kann man z. B. nicht sinnvoll von unethischem<br />

Verhalten sprechen. Vielmehr kann nur von unmoralischem Verhalten<br />

die Rede sein, das als solches zum Gegenstand einer von der <strong>Ethik</strong> zu<br />

vollziehenden Analyse werden kann, in der etwa die Frage gestellt wird,<br />

aus welchen Gründen und in welcher Hinsicht ein konkretes Verhalten<br />

in bestimmten Kontexten als unmoralisch gilt.<br />

[<strong>Ethik</strong> und Moral]<br />

– Moral(ität): Gesamtheit der das menschliche (Zusammen-)Leben bestimmenden<br />

Gewohnheiten, Sitten oder Bräuche einschließlich der in unter-<br />

4 Funke, Ethos I, 812.<br />

5 Vgl. dazu: Luhmann, <strong>Ethik</strong> als Reflexionstheorie der Moral.


1.1 Begriffsklärungen 5<br />

schiedlichen Vorstellungen und Konventionen wurzelnden Achtungs- und<br />

Missachtungsbekundungen.<br />

– <strong>Ethik</strong>: Reflexionstheorie der Moral (Luhmann) = reflektierendes Nachdenken<br />

über gelebte Moral(ität).<br />

Exkurs: Der Sprachgebrauch bei Jürgen Habermas<br />

Die beschriebene terminologische Unterscheidung ist allerdings nicht alternativlos.<br />

So hat etwa der deutsche Sozialphilosoph Jürgen Habermas (geb.<br />

1929) drei Formen des praktischen Vernunftgebrauchs unterschieden: den<br />

pragmatischen, den ethischen und den moralischen. 6 In allen drei Fällen geht<br />

es – freilich in je verschiedener Weise – um eine rational gestützte Beantwortung<br />

der Frage ›Was soll ich tun?‹. (1) Der pragmatische Rationalitätstypus, der<br />

auf die Erreichung eines er wünschten Weltzustandes zielt, ist orientiert auf<br />

»die Empfehlung einer geeigneten Technologie oder eines durchführbaren<br />

Programms«. (2) Beim ethischen Vernunftgebrauch, den Habermas zugleich<br />

als »existentiell« bezeichnet, wird der individuelle Lebensentwurf eines einzelnen<br />

Menschen thematisch: »Dabei geht es um die hermeneutische Klärung<br />

des Selbstverständnisses eines Individuums und um die klinische Frage je<br />

meines geglückten oder nicht-verfehlten Lebens«. Diese Dimension des praktischen<br />

Vernunftgebrauchs läuft hinaus auf einen »Ratschlag für die richtige<br />

Orientierung im Leben, für die Ausrichtung einer persönlichen Lebensführung«.<br />

7 Während für die ethisch-existentielle Selbstverständigung wesentlich<br />

ist, dass sich die Individuen »nicht aus der Lebensgeschichte oder der Lebensform<br />

herausdrehen« dürfen, »in der sie sich faktisch vorfinden«, ist für den<br />

(3) moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft gerade eine solche Abstrahierung<br />

vom lebensgeschichtlichen Kontext entscheidend. »Moralisch-praktische<br />

Diskurse erfordern […] den Bruch mit allen Selbstverständlichkeiten der<br />

eingewöhnten konkreten Sittlichkeit wie auch die Distanzierung von jenen<br />

Lebenskontexten, mit denen die eigene Identität unauflöslich verflochten<br />

ist«. 8 Erstrebt wird eine »Klärung legitimer Verhaltenserwartungen angesichts<br />

in terpersoneller Konflikte« und letztlich »eine Verständigung über die gerechte<br />

Lösung eines Konflikts im Bereich normenregulierten Handelns«. 9 Dabei ist<br />

entscheidend, dass der hier einzunehmende »Standpunkt der Unparteilichkeit<br />

[…] die Subjektivität der je eigenen Teilnehmerperspektive« transzendiert. 10<br />

Die Adjektive »ethisch« und »moralisch« werden von Habermas also nicht auf<br />

die wissenschaftliche Befassung mit Moral einerseits (ἠθικὴ θεωρία /ēthikè<br />

theoría) und die gelebte Sittlichkeit andererseits bezogen (mores, quod ἦθος<br />

6 Vgl. Habermas, Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der<br />

praktischen Vernunft.<br />

7 A. a. O., 370.<br />

8 A. a. O., 375.<br />

9 A. a. O., 370.<br />

10 A. a. O., 375.


6<br />

1. Zu Begriff und Entstehung (christlicher) <strong>Ethik</strong><br />

[ēthos ] illi vocant). Sondern sie stehen für zwei unterschiedliche Ebenen des<br />

Nachdenkens über menschliches Handeln: einer vorrangig am partikularen<br />

Eigeninteresse (ethisch) und einer primär am Allgemeininteresse (moralisch)<br />

orientierten Ebene: »Wir machen von der praktischen Vernunft einen moralischen<br />

Gebrauch, wenn wir fragen, was gleichermaßen gut ist für jeden; einen<br />

ethischen Gebrauch, wenn wir fragen, was jeweils gut ist für mich oder für<br />

uns«. 11<br />

Ungeachtet der Nicht-Notwendigkeit der oben skizzierten Unterscheidung<br />

von Moral und <strong>Ethik</strong>, die im Exkurs an der von Jürgen Habermas<br />

vollzogenen terminologischen Entscheidung belegt wurde, hält die<br />

vorliegende Darstellung daran fest, die Moral im Sinne gelebter Sittlichkeit<br />

als Gegenstand der <strong>Ethik</strong> aufzufassen. Dieses hier festgehaltene<br />

<strong>Ethik</strong>-Verständnis muss jedoch präzisiert bzw. erweitert werden.<br />

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass mit solchen Wörtern wie<br />

Gewohnheit, Sitte, Brauch oder gelebte Sittlichkeit, die bisher als Be -<br />

zeichnungen des Gegenstands der <strong>Ethik</strong> verwendet wurden, nicht alles<br />

abgedeckt ist, was üblicherweise mit dem Begriff der <strong>Ethik</strong> gedanklich<br />

verbunden wird. Denn nach einem (mit Recht) weit verbreiteten Verständnis<br />

handelt es sich bei der in der <strong>Ethik</strong> zu vollziehenden Befassung<br />

mit Moral um mehr als lediglich eine Beschreibung (Deskription) von<br />

Gewohnheiten, Sitten und Bräuchen. – Das Verhältnis der <strong>Ethik</strong> als Wissenschaft<br />

zur Moral als ihrem Gegenstand ist offenbar anders zu be -<br />

stimmen als etwa das der Biologie als Wissenschaft zu den Phänomenen<br />

des Lebendigen als ihrem Gegenstandsbereich. Die <strong>Ethik</strong> nämlich will<br />

die faktisch gegebene Moral nicht immer nur einfach beschreiben (deskribieren)<br />

und verstehen. Sondern in manchen Fällen will sie die gelebte<br />

Sittlichkeit auch mit Gründen auf ihre Richtigkeit bzw. ihr Gutsein<br />

hin befragen. In diesem Fall legt sie der Beschäftigung mit ihrem<br />

Ge genstand einen Maßstab zugrunde, eine Norm. Die damit herausgestellte<br />

normative Perspektive erlaubt es der <strong>Ethik</strong>, über eine gleichsam<br />

neutrale Bestandsaufnahme, eine rein deskriptiv orientierte Sicht hinaus,<br />

zur Kritik und Begründung moralischer Normen vorzustoßen.<br />

In der ethischen Theoriebildung werden entsprechend den genannten<br />

zwei Perspektiven deskriptive und normative <strong>Ethik</strong>en unterschieden.<br />

12 Während letztere »selbst moralische Urteile formulieren und zu<br />

11 Habermas, Exkurs: Transzendenz von innen, Transzendenz ins Diesseits, 149.<br />

12 Vgl. Lienemann, Grundinformation Theologische <strong>Ethik</strong>, 42–49.


1.1 Begriffsklärungen 7<br />

begründen versuchen«, versuchen erstere, »in ihrer Beschäftigung mit<br />

der menschlichen Moral gegenüber normativen Fragen Neutralität zu<br />

wahren« mit dem Ziel, die vielfältigen Aspekte und Erscheinungsformen<br />

dieses Phänomens [scil. der Moral] zu beschreiben und für sie<br />

Erklärungen auszuarbeiten«. 13 – Nach dieser Unterscheidung stellt die<br />

deskriptive <strong>Ethik</strong> also die Frage nach der vorfindlichen und die normative<br />

<strong>Ethik</strong> die nach der richtigen Moral.<br />

[Deskriptive und normative <strong>Ethik</strong>]<br />

– Deskriptive <strong>Ethik</strong>: beschreibende <strong>Ethik</strong>, die sich mit der vorfindlichen, faktisch<br />

gegebenen Moral beschäftigt.<br />

– Normative <strong>Ethik</strong>: die die vorfindliche, faktisch gegebene Moral anhand<br />

einer Norm beurteilende <strong>Ethik</strong>; sie fragt nach der »richtigen« Moral.<br />

Der Unterschied zwischen beiden Hinsichten soll nachstehend zu -<br />

nächst (a) an maßgeblichen Ansätzen der <strong>Ethik</strong> verdeutlicht werden;<br />

dies geschieht im Vorgriff auf die im zweiten Hauptteil zu behandelnden<br />

klassischen Positionen aus Aufklärung und Frühmoderne. An -<br />

schließend (b) wird die Differenz zwischen deskriptiver und normativer<br />

<strong>Ethik</strong> an den verschiedenen Möglichkeiten der wissenschaftlich-ethischen<br />

Behandlung eines moralisch relevanten Problems vor Augen ge -<br />

führt.<br />

(a) Die moralphilosophischen Theorien von Immanuel Kant (vgl.<br />

2.4.1) und John Stewart Mill (vgl. 2.4.3) haben einen dezidiert normativen<br />

Charakter, allerdings in ganz unterschiedlicher Weise: Kant argumentiert<br />

für eine am Pflichtbegriff orientierte Moral und macht daher<br />

die moralische Qualität einer Handlung an der Intention bzw. der<br />

Gesinnung des Akteurs fest; Mill argumentiert für eine am Nutzenbegriff<br />

orientierte Moral und macht daher die moralische Qualität einer<br />

Handlung an der Nützlichkeit ihrer Folgen fest, für die der Akteur die<br />

Verantwortung trägt. Insofern verkörpern die genannten Autoren paradigmatisch<br />

jeweils eine der beiden »unaustragbar gegensätzlichen<br />

Maximen«, unter denen nach Auffassung des deutschen Soziologen Max<br />

Weber (1864–1920) »alles ethisch orientierte Handeln« stehen kann<br />

(dazu mehr in 2.3.1c). 14 Ungeachtet dieser Differenz wird aber in beiden<br />

Fällen, ganz im Sinne eines normativen Zugriffs, nach der »richtigen«<br />

13 Scarano, Metaethik – ein systematischer Überblick, 25 f.<br />

14 Weber, Politik als Beruf, 237.


8<br />

1. Zu Begriff und Entstehung (christlicher) <strong>Ethik</strong><br />

Moral gefragt. – Dagegen weist die philosophische <strong>Ethik</strong> von Friedrich<br />

Schleiermacher (vgl. 2.4.2) eher einen deskriptiven Charakter<br />

auf. Darin geht es um die Verwirklichung von Sittlichkeit in der<br />

Menschheitsentwicklung insgesamt. Pflichtbewusstsein und Nutzenkalküle<br />

sind dabei nur Einzelaspekte eines umfassenden und alle individuellen<br />

Willensbestimmungen überschreitenden Prozesses einer<br />

Durchdringung der Natur mit Vernunft. Den Inbegriff der in diesem<br />

Prozess hervorgebrachten Güter bezeichnet Schleiermacher als das<br />

höchste Gut. Seine daher als Güterlehre bezeichnete philosophische<br />

<strong>Ethik</strong> manifestiert sich wegen ihres Anspruchs, das die individuellen<br />

Willensbestimmungen überschreitende Ganze in den Blick zu nehmen,<br />

als Kultur- bzw. Geschichtsphilosophie.<br />

(b) Als ein moralisch relevantes Thema, an dem der Unterschied<br />

zwischen deskriptiver und normativer <strong>Ethik</strong> verdeutlicht werden kann,<br />

sei hier das Problem der Todesstrafe genannt. Dabei geht es weniger um<br />

die – bekanntermaßen weltweit sehr unterschiedliche – Rechtslage, als<br />

vielmehr um die moralischen Gründe für die Befürwortung oder Ablehnung.<br />

Eine rein deskriptiv-empirische Untersuchung zu diesem Thema<br />

würde die historische Entwicklung sowie die insbesondere seit 1945 in<br />

Europa und auch weltweit ausgetragenen Kontroversen über die Legitimität<br />

dieses Sanktionsinstruments nachzeichnen und könnte in eine<br />

Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Lage münden. 15 Die Darstellung<br />

wäre dabei aber dezidiert nicht durch eine (etwa vom Verfasser des hypothetischen<br />

Werkes selbst verantwortete) Position zu diesem Thema<br />

geleitet. – In einer normativen <strong>Ethik</strong> wäre das anders. Hier würden dieselben<br />

Sachverhalte zugrunde gelegt werden wie in der deskriptiven<br />

Darstellung. Leitend wäre dabei allerdings die moralische Haltung des<br />

Autors. Die (von der Organisation »Amnesty International« erhobene 16 )<br />

Bestandsaufnahme, nach der in 104 von 198 aufgelisteten Staaten die<br />

Todesstrafe vollständig abgeschafft ist (Stand: April 2017), würde, im Fall<br />

der hier vorausgesetzten Ablehnung seitens des Verfassers, nicht einfach<br />

nur als nüchterne Tatsache benannt werden. Sondern sie würde als ein<br />

empirisch greifbares Indiz dafür interpretiert werden, dass die Rechtslage<br />

in gut der Hälfte der Länder mit einer vom Verfasser als richtig beur-<br />

15 Vgl. dazu etwa: Ortner, Wenn der Staat tötet.<br />

16 Vgl. https://www.amnesty.org/en/what-we-do/death-penalty/ (Zugriff am 22.<br />

Juli 2019).


1.1 Begriffsklärungen 9<br />

teilten moralischen Überzeugung zur Frage der Todesstrafe kompatibel<br />

ist.<br />

Der (inzwischen emeritierte) Zürcher <strong>Ethik</strong>er Johannes Fischer (vgl. 2.6.9) hat zu<br />

Recht darauf hingewiesen, dass zwei Varianten deskriptiver <strong>Ethik</strong> unterschieden<br />

werden können. Gemeint sein kann (1) lediglich eine deskriptiv-empirische Untersuchung<br />

moralischer (sittlicher) Phänomene (wie z. B. die gerade erwähnte hypothetische<br />

Untersuchung zur Todesstrafe). Gemeint sein kann aber auch (2) eine Art<br />

der Beschreibung von faktisch vorhandenen moralischen Überzeugungen, durch<br />

die »eine orientierende Bedeutung für die Handlungsentscheidungen« entstehen<br />

kann. Es geht dabei darum, die »vorhandenen sittlichen oder moralischen Orientierungen<br />

[…] zu beschreiben und auf ihre Implikationen und Konsequenzen für die<br />

Entscheidung konkreter ethischer Fragen und Probleme hin zu analysieren«. 17 Er<br />

spricht hier auch von einer »deskriptiv-hermeneutisch gerichtete[n] <strong>Ethik</strong>«. 18<br />

Fischer ist der Auffassung, »dass die theologische <strong>Ethik</strong> den Charakter einer deskriptiven<br />

<strong>Ethik</strong> [in diesem zweiten Sinn] hat«, sofern sie »die praktischen Implikationen<br />

analysiert und beschreibt, die der christliche Glaube für das christliche Leben<br />

und Handeln hat«. 19<br />

Blickt man von der dargestellten Unterscheidung zwischen deskriptiver<br />

und normativer <strong>Ethik</strong> auf die – hier zunächst grundsätzlich übernommene<br />

– Luhmannsche Bestimmung der <strong>Ethik</strong> als Reflexionstheorie<br />

der Moral zurück, so zeigt sich: Sie hat aufgrund ihrer oben benannten<br />

Vorentscheidung dezidiert kein normatives Interesse. In diesem Lehrbuch<br />

wird eine solche konsequente Distanz zu moralischen Beurteilungen<br />

nicht durchgehalten.<br />

– Dies hat einerseits damit zu tun, dass die im gerade geschilderten<br />

hypothetischen Beispielfall genannte rein deskriptive Nachzeichnung<br />

einer Entwicklung der Todesstrafe seitens der Leser wohl kaum als<br />

<strong>Ethik</strong>, sondern eher als eine kulturgeschichtliche Darstellung aufgefasst<br />

würde; eine von Normativität vollständig gereinigte <strong>Ethik</strong>, also eine<br />

rein deskriptiv-empirische Untersuchung moralischer Phänomene, wi -<br />

derspricht allerdings dem geläufigen <strong>Ethik</strong>-Verständnis. Sofern nun die<br />

in der gerade erwähnten Differenzierung Fischers begegnende zweite<br />

Gestalt der deskriptiven <strong>Ethik</strong> für Normativität durchaus offen ist, kann<br />

mit Recht gesagt werden, »dass die Charakterisierung normative <strong>Ethik</strong><br />

genauso redundant ist wie die Charakterisierung ›unverheirateter<br />

17 Fischer u. a., Grundkurs <strong>Ethik</strong>, 87.<br />

18 Fischer, Theologische <strong>Ethik</strong>, 201 (Hervorh. von mir, RL).<br />

19 Fischer u. a., Grundkurs <strong>Ethik</strong>, 89.


10<br />

1. Zu Begriff und Entstehung (christlicher) <strong>Ethik</strong><br />

Junggeselle‹. <strong>Ethik</strong> hat es per definitionem mit normativen Aussagen zu<br />

tun«. 20 Übrigens hat, ungeachtet des vermeintlichen normativen Desinteresses<br />

bei Luhmann, dessen Feststellung, dass es in be stimmten Situationen<br />

»die vielleicht vordringlichste Aufgabe der <strong>Ethik</strong>« sein kann,<br />

»vor Moral zu warnen«, 21 ihrerseits auch normative Implikationen.<br />

– Andererseits ist es für das vorliegende <strong>Ethik</strong>-Lehrbuch, das explizit<br />

im Horizont des evangelisch-lutherischen Christentums verortet ist,<br />

schon aus prinzipiellen Gründen unverzichtbar, die normative Frage<br />

nach der »richtigen« Moral als eine entscheidende Dimension der ethischen<br />

Reflexion stets mitzuführen; im genannten Horizont geschieht<br />

dies allerdings, wie in 3.1 genauer zu begründen und zu präzisieren sein<br />

wird, in spezifischer Weise.<br />

Exkurs: Metaethik<br />

Oben war gesagt worden, dass sich sowohl die deskriptive als auch die normative<br />

<strong>Ethik</strong> mit moralischen Haltungen und Urteilen befassen, allerdings auf<br />

verschiedene Weise: Während die deskriptive <strong>Ethik</strong> solche Haltungen und<br />

Urteile beschreibt, werden sie von der normativen <strong>Ethik</strong> selbst formuliert und<br />

begründet. – »Aber was ist eigentlich ein moralisches Urteil? […] Es ist die Aufgabe<br />

der Metaethik, diese Frage zu beantworten. Metaethische Theorien fällen<br />

selbst keine Urteile wie die normativen <strong>Ethik</strong>en. Sie beschreiben auch nicht,<br />

welche moralischen Urteile gefällt werden […] wie die deskriptiv arbeitenden<br />

Moraltheorien. Vielmehr setzen sie eine Stufe tiefer an und fragen, was überhaupt<br />

unter einem moralischen Urteil zu verstehen ist.« 22 Die Bezeichnung<br />

Metaethik (häufig begegnen auch die Bezeichnungen analytische <strong>Ethik</strong> oder<br />

sprachanalytische <strong>Ethik</strong>) ist im angloamerikanischen Sprachraum um die<br />

Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden. Die Metaethik unternimmt vor allem<br />

den Versuch, durch eine Analyse der Sprache der Moral die Bedeutung und<br />

Funktion von Wörtern, Urteilen und Argumenten zu verstehen, die in moralischer<br />

Absicht verwendet werden. Dabei wird die Frage gestellt, ob moralisches<br />

Sprechen in dem Sinn Ausdruck einer rationalen Tätigkeit des Menschen<br />

ist, dass es wahrheitsfähige Aussagen formuliert (Kognitivismus) oder ob es<br />

nicht vielmehr auf irrationale Gefühle zurückgeht (Nonkognitivismus) und<br />

moralische Aussagen deshalb keinen Wahrheitswert besitzen. Innerhalb des<br />

Kognitivismus ist dann strittig, ob die Rationalität moralischer Rede eine<br />

20 Quante, Einführung in die allgemeine <strong>Ethik</strong>, 17.<br />

21 Luhmann, Paradigm lost, 41. Zuletzt wurde diese Formulierung im Bereich der<br />

evangelischen Theologie programmatisch aufgenommen von Körtner, Für die Vernunft.<br />

22 Scarano, Metaethik – ein systematischer Überblick, 27.


1.1 Begriffsklärungen 11<br />

empirischen Tatsachen analoge Überprüfbarkeit moralischer Aussagen impliziert<br />

(Naturalismus) oder ob sie auf einer Intuition beruht (Intuitionismus),<br />

auf »einer unmittelbaren Einsicht in die Gefordertheit eines durch moralische<br />

Sprache mitgeteilten Handelns. Die Rationalität der moralischen Intuition<br />

zeigt sich darin, daß das durch sie Erkannte […] induktiv verallgemeinerbar, in<br />

allgemeingültigen Normen formulierbar ist«. 23 Im Bereich des Nonkognitivismus,<br />

dem zufolge moralische Urteile weder wahr noch falsch sein können<br />

(also keinen Wahrheitswert besitzen), können Emotivismus und Präskriptivismus<br />

unterschieden werden. Nach ersterem dienen moralische Behauptungen<br />

lediglich dazu, Gefühle zum Ausdruck zu bringen; für letztere ist der ap -<br />

pellative Charakter von Bedeutung – moralische Aussagen haben das Ziel, auf<br />

eine Differenz zwischen Sollen und Sein hinzuweisen und zu einem Handeln<br />

zu motivieren, das diese Differenz beseitigt. Neben der in Kognitivismus und<br />

Nonkognitivismus traktierten Frage nach dem Wahrheitswert moralischer<br />

Aussagen beschäftigt sich der Logizismus mit der Methode moralischen Argumentierens.<br />

Hier spielt die sog. deontische Logik eine wichtige Rolle, die sich<br />

mit den logischen Verhältnissen normativer Begriffsausdrücke befasst. – Mit<br />

den vorstehenden Hinweisen ist das Spektrum metaethischer Fragestellungen<br />

lediglich grob und unvollständig skizziert. Eine vertiefte Behandlung ist im<br />

hier vorgegebenen Kontext nicht möglich. 24<br />

In der deutschsprachigen theologischen <strong>Ethik</strong> hat Trutz Rendtorff (vgl.<br />

2.6.7) den Begriff der Metaethik aufgenommen, ihn allerdings mit Inhalten<br />

verbunden, die in den philosophischen Diskursen zur Metaethik keine Rolle<br />

spielen (vgl. 2.6.7). Als metaethische Reflexionen im genuinen Sinn des Begriffs<br />

können dagegen die Überlegungen von Johannes Fischer über das narrative<br />

Fundament der sittlichen Erkenntnis gelten, wonach das Zustandekommen<br />

sittlicher Orientierung nicht in der Überzeugung von der Richtigkeit allgemeiner<br />

moralischer Regeln gründet, sondern in einer spezifischen Wahrnehmung<br />

singulärer Situationen (vgl. 2.6.9).<br />

1.1.2 Moral und Recht<br />

Gerade wurde in Sachen Todesstrafe die – weltweit unterschiedliche –<br />

Rechtslage von der Frage nach moralischen Gründen für eine Befürwortung<br />

oder Ablehnung unterschieden. Diese Differenzierung verweist<br />

darauf, dass das Recht, zweifellos ein das menschliche (Zusammen-)<br />

Leben wesentlich bestimmender Bereich, in einem spezifischen – nachstehend<br />

ein wenig aufzuklärenden – Verhältnis zur Moral steht.<br />

23 Pieper, Metaethik, 1169 f.<br />

24 Maßgebliche Beiträge aus der Tradition der Metaethik sind abgedruckt in: Metaethik.<br />

Klassische Texte.


2.<br />

Zur historischen Entwicklung<br />

der <strong>Ethik</strong><br />

Nachdem im ersten Hauptteil der Begriff der <strong>Ethik</strong> bestimmt (1.1), die<br />

Entstehung der <strong>Ethik</strong> dargestellt (1.2) und das spezifische Profil der<br />

christlichen <strong>Ethik</strong> evangelischer Prägung herausgearbeitet wurde (1.3),<br />

wird nun die historische Entwicklung der <strong>Ethik</strong> zum Thema. Das Ziel<br />

der damit befassten Ausführungen dieses zweiten Hauptteils ist allerdings<br />

nicht eine umfassende Präsentation der Geschichte der <strong>Ethik</strong>. Sondern<br />

insbesondere der in den Abschnitten 2.2, 2.3 und 2.4 enthaltene historische<br />

Überblick, der von der Spätantike bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

reicht, ist auf solche Positionen beschränkt und konzentriert, die<br />

exemplarisch für maßgebliche <strong>Ethik</strong>-Typen stehen. 222 Die Übersicht am<br />

Ende von Abschnitt 2.4 bietet dazu einen zusammenfassenden Gesamtüberblick.<br />

Den genannten Abschnitten vorangestellt sind in 2.1 Hinweise<br />

zu (insgesamt fünf) biblischen Bezugstexten und Leitbegriffen der<br />

christlichen <strong>Ethik</strong>. Dabei handelt es sich um jene dem Alten sowie dem<br />

Neuen Testament entstammenden »Leitlinien« frühchristlicher <strong>Ethik</strong>,<br />

auf die in 1.3.1 bereits verwiesen wurde. Der Darstellung der <strong>Ethik</strong>-<br />

Typen folgt dann (2.5) ein im engeren Sinne theologiegeschichtlicher<br />

Abschnitt, der wichtige Ansätze aus der deutschsprachigen evangelischen<br />

<strong>Ethik</strong> von etwa 1850 bis zur Gegenwart vorstellt. Einige kurze<br />

Hinweise zu zentralen Grundentscheidungen der römisch-katholischen<br />

<strong>Ethik</strong> (2.6) schließen den zweiten Hauptteil ab.<br />

222 Anders verfährt Reuter, Grundlagen und Methoden der <strong>Ethik</strong>, 24–44; hier werden<br />

zunächst die (gerade als »<strong>Ethik</strong>-Typen« bezeichneten) »Grundformen ethischer<br />

Theorien« benannt und anschließend jeweils mit bestimmten historischen Positionen<br />

verbunden.


2.1 Biblische Bezugstexte und Leitbegriffe 95<br />

2.1 Biblische Bezugstexte und Leitbegriffe<br />

Die in diesem Abschnitt anstehende Behandlung ausgewählter biblischer<br />

Wurzeln der christlichen <strong>Ethik</strong> vollzieht sich nicht primär in<br />

Gestalt exegetischer Erörterungen. Vielmehr geht es in erster Linie<br />

darum, zu zeigen, wie die aus alt- und neutestamentlichen Zusammenhängen<br />

stammenden Texte bzw. Begriffe die ethischen Diskurse der<br />

Christentumsgeschichte angeregt und beeinflusst haben. Insofern spielt<br />

die wirkungs- bzw. rezeptionsgeschichtliche Perspektive eine wichtige<br />

Rolle. Hinzu kommt, dass manche biblisch-theologisch ge prägten Leitbegriffe<br />

auch in ethischen Reflexionen vor- und außerchristlicher Provenienz<br />

vorkommen, dort aber teilweise anders verwendet werden als<br />

im christlichen Kontext. Anhand der Themen Freiheit (2.1.4) und Ge -<br />

rechtigkeit (2.1.5) wird dieser Sachverhalt exemplarisch verdeutlicht.<br />

2.1.1 Der Dekalog<br />

(a Allgemeine Hinweise) Als Dekalog gilt eine im Alten Testament an<br />

zwei Stellen (Ex 20,2–17; Dtn 5,6–21) in zwei unterschiedlichen Fassungen<br />

überlieferte Reihe von Verboten und Geboten. 223 In Dtn 10,4 werden<br />

diese Verbote und Gebote als »die Zehn Worte« bezeichnet. Die heute<br />

übliche Benennung Dekalog geht zurück auf die griechische Übersetzung<br />

der Septuaginta: »Da schrieb er auf die Tafeln […] die Zehn Worte<br />

(LXX: τοὺς δέκα λόγους /tous déka lógous), die der HERR zu euch geredet<br />

hatte mitten aus dem Feuer auf dem Berge zur Zeit der Versammlung;<br />

und der HERR gab sie mir« (Dtn 10,4).<br />

Bereits innerhalb des Alten Testaments kommt dem Dekalog eine<br />

besondere Bedeutung zu. Dies wird daran deutlich, dass er in Ex 20 als<br />

eine dem Volk aus Gottes Mund unmittelbar zugegangene Willensoffenbarung<br />

beschrieben wird (»Und Gott redete alle diese Worte«;<br />

Ex 20,1) – im Unterschied zu allen anderen göttlichen Mitteilungen, die<br />

dem Volk über Mose als Mittler bekannt gemacht worden sind. Auch in<br />

Dtn 5, wo Mose an die Ereignisse am Sinai erinnert, wird erwähnt, Gott<br />

selbst habe mit dem Volk geredet: »von Angesicht zu Angesicht« (Dtn<br />

5,4). Die Verschriftlichung des Dekalogs wird ebenfalls direkt auf Gott<br />

223 Vgl. zum Folgenden: Köckert, Dekalog/Zehn Gebote (AT).


96<br />

2. Zur historischen Entwicklung der <strong>Ethik</strong><br />

zurückgeführt: Er (also Gott selbst) »schrieb sie auf zwei steinerne Tafeln<br />

und gab sie mir« (Dtn 5,22).<br />

Die nachhaltige Bedeutung des Dekalogs für die <strong>Ethik</strong> besteht<br />

darin, dass die in ihm enthaltenen Ver- und Gebote moralische Orientierungen<br />

formulieren, die zwar in einem konkreten religionskulturellen<br />

Kontext verwurzelt sind, aber gleichwohl als universal einsichtig<br />

und gültig betrachtet werden können. Bereits im 2. Jahrhundert hat<br />

Irenäus von Lyon (130–202) in seiner Schrift »Adversus haereses«<br />

(»Gegen die Häresien«) den Dekalog mit dem Naturrecht identifiziert;<br />

die Zehn Gebote enthalten, so Irenäus, »die natürlichen Vorschriften,<br />

die er [scil. Gott] den Menschen anfangs gab und einpflanzte« 224 . Und<br />

noch im Jahre 1943 hat der deutsche Schriftsteller Thomas Mann<br />

(1875–1955) den Dekalog als »Grundgesetz des Menschenanstandes«<br />

bezeichnet. 225 In der Geschichte der christlichen <strong>Ethik</strong> hat der Dekalog<br />

immer wieder als Ausgangspunkt für die Entfaltung ethischer Entwürfe<br />

gedient. Dies gilt bereits für die erste theologische <strong>Ethik</strong> im Bereich des<br />

Protestantismus (vgl. 2.3.6b); eine Orientierung an den Zehn Geboten<br />

lässt sich aber auch in der zeitgenössischen evangelischen Theologie<br />

beobachten. 226<br />

(b Zur Gliederung des Dekalogs) Die komplexe Wirkungs- und Re -<br />

zeptionsgeschichte des Dekalogs wurde auch dadurch befördert, dass die<br />

alttestamentlichen Überlieferungen keine eindeutige Verteilung der<br />

Verbots- und Gebotssätze auf genau zehn Worte erlauben. Denn die<br />

parallelen Texte in Ex 20 und Dtn 5 enthalten jeweils zwölf Sinneinheiten,<br />

nämlich »eine Einleitung plus elf Satzungen« 227 . Auch für die Verteilung<br />

der Worte auf die zwei Tafeln bietet der biblische Text keine<br />

Anhaltspunkte. – Diese Unklarheiten haben dazu geführt, dass sowohl<br />

die Zählung der Gebote als auch ihre Verteilung auf die beiden Tafeln in<br />

verschiedenen Traditionen sehr unterschiedlich gehandhabt wurden<br />

und werden. Dies ist nachstehend zu verdeutlichen.<br />

224 »naturalia praecepta quae ab initio infixa dedit hominibus« (Irenäus von Lyon,<br />

Adversus haereses/Gegen die Häresien IV 15,1 (Fontes Christiani 8/4, 110 f.); vgl.<br />

dazu: de Vos, Rezeption und Wirkung des Dekalogs, 315.<br />

225 Mann, Deutsche Hörer!, 94; vgl. zum zeit- und werkgeschichtlichen Kontext dieses<br />

Zitats: Frühwald, Thomas Manns »Moses-Phantasie«.<br />

226 Vgl. etwa: Koch, Zehn Gebote für die Freiheit; Deuser, Die zehn Gebote.<br />

227 Reicke, Die zehn Worte, 2.


2.1 Biblische Bezugstexte und Leitbegriffe 97<br />

Um die eben erwähnte exegetische Gliederung (zwölf Sinneinheiten)<br />

in eine Zehnzahl überführen zu können, wurden verschiedene<br />

Aussagen vom Anfang oder vom Ende des biblischen Textes zusammengezogen.<br />

Dies geschah im Judentum und in den verschiedenen christlichen<br />

Konfessionen auf ganz unterschiedliche Weise. Dabei spielte die<br />

Frage eine Rolle, ob die den elf Satzungen vorangestellte Einleitung, die<br />

Selbstvorstellung Gottes, bereits als ein eigenes Gebot zu zählen ist; ein<br />

weiteres Problem betraf das Verhältnis zwischen Fremdgötterverbot<br />

und Bilderverbot: Handelt es sich um zwei unterschiedliche Gebote oder<br />

zwei zusammengehörige Aspekte eines Gebots?<br />

»Die Juden zählen Ex 20,2 ›ich bin der HERR, dein Gott‹ als erstes Gebot und<br />

das Fremdgötter- und Bilderverbot in Vers 3 f. als zweites Gebot. In der<br />

römisch-katholischen und lutherischen Überlieferung wird die Selbstvorstellung<br />

Jahwes demgegenüber als eine die Auslegung aller Gebote normierende<br />

Präambel gedeutet. Hier wird folglich das Fremdgötterverbot als erstes Gebot<br />

gezählt [vgl. aber die Hinweise in Anm. 233] und, um der Zehnzahl willen, das<br />

zehnte Gebot auf zwei Gebote verteilt. Luther scheidet das Bilderverbot aus<br />

dem Dekalog aus, weil es nur […] für das alte Israel wichtig gewesen sei. Demgegenüber<br />

zählen in der griechisch-orthodoxen Kirche und in den reformierten,<br />

auf die Reformation Calvins und Zwinglis zurückgehenden Kirchen Einleitung<br />

und Fremdgötterverbot als erstes Gebot, das Bilderverbot als zweites<br />

Gebot. Das hat nicht nur den ikonoklastischen Kirchenreinigungsfuror der<br />

Reformierten, sondern auch intensive Gelehrtenkämpfe über die […] Darstellbarkeit<br />

absoluter Transzendenz in endlichen Bildern und Begriffen provoziert«.<br />

228<br />

Auch bezüglich einer Aufteilung der Gebote auf zwei Tafeln gab es un -<br />

terschiedliche Auffassungen. Einigkeit bestand einerseits darüber, dass<br />

die Einleitung (die Selbstvorstellung Jahwes) gemeinsam mit Fremdgötter-,<br />

Bilder und Namensmissbrauchsverbot sowie dem Sabbatgebot auf<br />

die erste der beiden Tafeln gehört. Andererseits wurden die Verbote von<br />

Mord, Ehebruch, Diebstahl und falschem Zeugnis sowie die beiden<br />

Begehrensverbote stets der zweiten Tafel zugewiesen. Diese Aufteilung<br />

folgte dem Gedanken, dass die erste Tafel die das Verhältnis des Menschen<br />

zu Gott betreffenden Vorschriften enthielt, während sich die Verbote<br />

der zweiten Tafel auf zwischenmenschliche Verhältnisse bezogen.<br />

228 Graf, Moses Vermächtnis, 50 f. Was hier bezüglich der griechisch-orthodoxen und<br />

der reformierten Kirchen gesagt ist, gilt auch für das hellenistische Judentum. Eine<br />

Übersicht zu den unterschiedlichen Zählweisen im Judentum und den verschiedenen<br />

Christentümern bietet Reicke, Die zehn Worte, 4.


98<br />

2. Zur historischen Entwicklung der <strong>Ethik</strong><br />

Umstritten war bei all dem die Zuordnung des Elternehrgebots. Philo von Alexandrien<br />

(25. v. Chr.–50 n. Chr.), ein einflussreicher Vertreter des hellenistischen Judentums,<br />

hat es als »Schaltstelle zwischen der ersten und der zweiten Tafel« verstanden:<br />

»Die Eltern sind göttlich, weil sie die göttliche Schöpfung der Menschen wiederholen.<br />

Die Ehrung dieser Eltern durch die Kinder ist einerseits menschlich, andererseits<br />

ehren die Kinder, da die Eltern ›Knechte Gottes‹ […] sind, über diese Knechte<br />

auch Gott.« 229<br />

Als enorm einflussreich hat sich der Ansatz des Kirchenvaters Augustinus<br />

erwiesen, 230 auf den die Einführung des Dekalogs als Lehrgegenstand<br />

im Katechumenenunterricht zurückgeht. Augustinus hat die<br />

Zweiheit der Dekalogtafeln mit dem Doppelgebot der Liebe verbunden<br />

(vgl. 2.1.3). Die Liebe zum (dreieinigen) Gott wird da nach durch das Halten<br />

der ersten drei Gebote realisiert; dabei handelt es sich um Fremdgötter-<br />

und Bilderverbot (von Augustinus zusam mengezogen zum 1.<br />

Gebot) sowie um das Verbot des Namensmissbrauchs (2. Gebot) und das<br />

Sabbatgebot (3. Gebot); die Liebe zum Nächsten wird verwirklicht durch<br />

die Orientierung an den restlichen Imperativen – vom Elternehrgebot<br />

bis zu den beiden Begehrensverboten.<br />

(c Luthers Auslegung des Dekalogs ) Die Hinweise zur Gliederung des De -<br />

kalogs haben gezeigt, dass die sog. Zehn Gebote in der Tat »eine grandiose<br />

Projektionsfläche für unterschiedlich akzentuierte Normentwürfe«<br />

bilden, »in denen sich je besondere kulturelle Erfahrungen, politische<br />

Ordnungsinteressen, Machtansprüche, Heilshoffnungen und Bilder<br />

göttlicher Souveränität spiegeln« 231 . – Diese hier ganz allgemein formulierte<br />

Feststellung ist im Folgenden anhand von Luthers Auslegung<br />

des Dekalogs im Kleinen Katechismus (1529) exemplarisch zu illustrieren.<br />

Als Grundlage dafür wird in der nachstehenden Tabelle zunächst<br />

der von Luther zugrunde gelegte Dekalog-Text einschließlich der Verweise<br />

auf die biblischen Überlieferungen abgedruckt. Die rechte Spalte<br />

enthält dann die den einzelnen Geboten zugeordneten Erklärungen<br />

Luthers. 232<br />

229 de Vos, Rezeption und Wirkung des Dekalogs, 110.<br />

230 Vgl. dazu: Reicke, Die zehn Worte, 10 f.<br />

231 Graf, Moses Vermächtnis, 51.<br />

232 Hier verwendete Textgrundlage: Unser Glaube, 466–469.


2.1 Biblische Bezugstexte und Leitbegriffe 99<br />

(1) [Ex 20,2a/Dtn 5,6a]<br />

Ich bin der Herr, dein Gott. [233]<br />

[Ex 20,3/Dtn 5,7]<br />

Du sollst nicht andere Götter Was ist das? – Wir sollen Gott über alle<br />

haben neben mir. Dinge fürchten, lieben und vertrauen.<br />

(2) [Ex 20,7/Dtn 5,11]<br />

Du sollst den Namen des Herrn, Was ist das? – Wir sollen Gott fürchten<br />

deines Gottes, nicht unnütz ge- und lieben, dass wir bei seinem Namen<br />

brauchen; denn der Herr wird nicht fluchen, schwören, zaubern,<br />

den nicht ungestraft lassen, der lügen oder trügen, sondern ihn in allen<br />

seinen Namen missbraucht. Nöten anrufen, beten, loben und danken.<br />

(3) [Ex 20,8/Dtn 5,12a]<br />

Du sollst den Feiertag heiligen. Was ist das? – Wir sollen Gott fürchten<br />

und lieben, dass wir die Predigt und sein<br />

Wort nicht verachten, sondern es heilig<br />

halten, gerne hören und lernen.<br />

(4) [Ex 20,12a/Dtn 5,16a ]<br />

Du sollst deinen Vater und deine Was ist das? – Wir sollen Gott fürchten<br />

Mutter ehren und lieben, dass wir unsere Eltern und<br />

[Ex 20,12b /Dtn 5,16bα] Herren nicht verachten noch erzürnen,<br />

[…], auf dass dir’s wohlgehe und sondern sie in Ehren halten, ihnen diedu<br />

lange lebest auf Erden. [234] nen, gehorchen, sie lieb und wert haben.<br />

(5) [Ex 20,13/Dtn 5,17]<br />

Du sollst nicht töten. Was ist das? – Wir sollen Gott fürchten<br />

und lieben, dass wir unserm Nächsten an<br />

seinem Leibe keinen Schaden noch Leid<br />

tun, sondern ihm helfen und beistehen<br />

in allen Nöten.<br />

233 Die Selbstvorstellungsformel ist in den kritischen Textausgaben (WA 31 I, 353;<br />

BSELK 862) nicht enthalten, weil Luther bei seiner Wiedergabe des Dekalogs im<br />

Katechismus »der traditionellen Verkürzung des Textes« folgte. Gleichwohl ist<br />

offensichtlich, dass er Ex 20,2a/Dtn 5,6a »tatsächlich als Teil des 1. Gebotes gerechnet<br />

und zum Verständnis desselben für unentbehrlich gehalten hat« (WA 31 I, 353 f.<br />

Anm. 3).<br />

234 Die dem Elternehrgebot beigegebene Verheißung ist in den kritischen Textausga<br />

ben (WA 31 I, 358,3; BSELK 864,8) nicht enthalten; dies gilt auch für die erste lateinische<br />

Übersetzung des Kleinen Katechismus vom August 1529 (vgl. WA 31 I, 286,2 f.).<br />

Bereits die zweite lateinische Übersetzung vom September 1529 enthielt allerdings<br />

die Verheißung (»ut sis longevus super terram«; WA 31 I, 286,2 f.), ebenso wie die in<br />

das lateinische Konkordienbuch von 1584 eingegangene Textgestalt (»ut bene fit<br />

tibi et sis longaevus super terram«; BSELK 865,13–15).


100<br />

2. Zur historischen Entwicklung der <strong>Ethik</strong><br />

(6) [Ex 20,14/Dtn 5,18]<br />

Du sollst nicht ehebrechen. Was ist das? – Wir sollen Gott fürchten und lieben,<br />

dass wir keusch und zuchtvoll leben in Worten<br />

und Werken und in der Ehe einander lieben und<br />

ehren.<br />

(7) [Ex 20,15/Dtn 5,19]<br />

Du sollst nicht stehlen.<br />

(8) [Ex 20,16/Dtn 5,20]<br />

Du sollst nicht falsch<br />

Zeugnis reden wider<br />

deinen Nächsten.<br />

(9) [Ex 20,17a/Dtn 5,21b ‘]<br />

Du sollst nicht begehren<br />

deines Nächsten Haus.<br />

(10) [Ex 20,17b/Dtn 5,21a]<br />

Du sollst nicht begehren<br />

deines Nächsten Weib,<br />

Knecht, Magd, Vieh noch<br />

alles, was sein ist.<br />

Was ist das? – Wir sollen Gott fürchten und lieben,<br />

dass wir unsers Nächsten Geld oder Gut nicht<br />

nehmen noch mit falscher Ware oder Handel an<br />

uns bringen, sondern ihm sein Gut und Nahrung<br />

helfen bessern und behüten.<br />

Was ist das? – Wir sollen Gott fürchten und<br />

lieben, dass wir unsern Nächsten nicht belügen,<br />

verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben,<br />

sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm<br />

reden und alles zum Besten kehren.<br />

Was ist das? – Wir sollen Gott fürchten und lieben,<br />

dass wir unserm Nächsten nicht mit List nach<br />

seinem Erbe oder Hause trachten und mit einem<br />

Schein des Rechts an uns bringen, sondern ihm<br />

dasselbe zu behalten förderlich und dienlich sein.<br />

Was ist das? – Wir sollen Gott fürchten und lieben,<br />

dass wir unserm Nächsten nicht seine Frau,<br />

Gehilfen oder Vieh ausspannen, abwerben oder<br />

abspenstig machen, sondern dieselben anhalten,<br />

dass sie bleiben und tun, was sie schuldig sind.<br />

Was sagt nun Gott zu diesen Geboten allen? Er sagt so: [Ex 20,5b.6; Dtn 5,9b.10] Ich<br />

der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der an denen, die mich hassen, die Sünde<br />

der Väter heimsucht bis zu den Kindern im dritten und vierten Glied; aber denen,<br />

die mich lieben und meine Gebote halten, tue ich wohl bis in tausend Glied.<br />

Was ist das?<br />

Gott droht zu strafen alle, die diese Gebote übertreten; darum sollen wir uns fürchten<br />

vor seinem Zorn und nicht gegen seine Gebote handeln. Er verheißt aber Gnade<br />

und alles Gute allen, die diese Gebote halten; darum sollen wir ihn auch lieben und<br />

vertrauen und gerne tun nach seinen Geboten.<br />

Will man die Spezifik von Luthers Auslegung erfassen, so ist zunächst<br />

darauf zu verweisen, dass der Reformator eine gegenüber den biblischen<br />

Texten gekürzte und teilweise veränderte Textgestalt des Dekalogs prä-


2.1 Biblische Bezugstexte und Leitbegriffe 101<br />

sentiert (1). Daneben ist seine Erklärung der einzelnen Gebote von<br />

Bedeutung. Die hier wichtigsten Besonderheiten lassen sich in zwei<br />

Punkten zusammenfassen: Luther schärft die Zentralstellung des<br />

ersten Gebots ein (2), und er vollzieht eine »affirmative Interpretation<br />

des Dekalogs« 235 (3).<br />

(1) »Beim Zitieren der Zehn Gebote aus dem alttestamentlichen<br />

Text tilgt Luther alle Bezüge auf den geschichtlichen Zusammenhang:<br />

besonders den Hinweis auf die Errettung aus der Knechtschaft in Ägypten<br />

[in Ex 20,4/Dtn 5,6b], das Bilderverbot [in Ex 20,2b/Dtn 5,7], und den<br />

Ausdruck ›Sabbat‹ [in Ex 20,8/Dtn 5,12a], wofür er ›Feiertag‹ setzt« 236 .<br />

Damit wird der biblische Text enthistorisiert, also aus seinem Bezug zur<br />

Geschichte des Volkes Israel gelöst. Durch diese Enthistorisierung wird<br />

der Dekalog in seiner Geltung aber gerade nicht relativiert, sondern universalisiert<br />

; die historisch konkret an das alte Israel adressierten Gebote<br />

werden zu Forderungen an alle Menschen. 237<br />

Auch Luther erweist sich damit als ein Vertreter jener bereits bei<br />

Irenäus von Lyon festgestellten Tendenz zur Gleichsetzung von Dekalog<br />

und Naturrecht bzw. Naturgesetz. Diese Gleichsetzung ermöglichte<br />

es ihm auch, an einer Verbindlichkeit des Dekalogs für Christen festzuhalten.<br />

Grundsätzlich hat Luther die Auffassung vertreten, dass der<br />

Glaube an das Evangelium vom Gesetz insgesamt befreit: »die Heiden, d.<br />

h. die nicht-jüdischen Völker, werden mit der Christus-Botschaft nicht<br />

dem Mose-Gesetz unterworfen. Für sie hat Mose seine legislatorische<br />

Autorität verloren« 238 . Daraus folgt: Sofern der Dekalog als ein Teil des<br />

alttestamentlichen Gesetzes gilt, ist der glaubende Christ ihm gegenüber<br />

prinzipiell frei (vgl. 2.3.1c3). Im Blick auf den Inhalt des im Dekalog Verund<br />

Gebotenen gilt aber nach Luther, dass er für alle Menschen Verbindlichkeit<br />

beanspruchen kann, weil darin jene sittlichen Grundorientierungen<br />

enthalten sind, die der Natur des Menschen vom Schöpfer<br />

eingegeben sind:<br />

235 Schwarz, Martin Luther, 132; vgl. auch den ganzen Zusammenhang a. a. O., 130–136<br />

sowie Härle, <strong>Ethik</strong>, 157–162.<br />

236 Fritzsche, Dekalog IV, 418,20–23. In den lateinischen Übersetzungen von Luthers<br />

Kleinem Katechismus hat sich der Bezug auf den Sabbat allerdings erhalten (vgl.<br />

WA 30 I, 284,19 f.: »Memento, ut diem Sabbati sanctifices«; BSELK 865,2 f.: »Memento<br />

ut diem Sabbathi sanctifices«).<br />

237 Vgl. dazu auch: Härle, <strong>Ethik</strong>, 157–159; Schwarz, Martin Luther, 125–127.<br />

238 Schwarz, Martin Luther, 123.


102<br />

2. Zur historischen Entwicklung der <strong>Ethik</strong><br />

»Wie aber die Iuden felen / also felen auch die Heiden. Also ist es naturlich /<br />

Gott ehren / nicht stehlen / nicht ehebrechen / nicht falsch gezeugnis geben /<br />

nicht todt schlage / vnd ist nicht new / das Moses gepeut / Denn was Gott von<br />

hymel geben hat den Iuden durch Mosen / das hat er auch geschrieben Ynn<br />

aller menschen hertzen. Also halt ich die gepot / die Moses geben hat / nicht<br />

darumb / das Moses gepotten hat / sondern das sie myr von natur eyngepflantzt<br />

sind / vnd Moses gleich mit der natur stympt.« (Luther, Unterrichtung,<br />

wie sich die Christen in Mosen sollen schicken; DDStA 1, 538,29-36)<br />

»[Es ist] naturgegeben, Gott zu ehren, nicht zu stehlen, die Ehe nicht zu brechen,<br />

kein falsches Zeugnis abzulegen, nicht totzuschlagen; und es ist nicht<br />

neu, was Mose gebietet. Denn was Gott vom Himmel den Juden durch Mose<br />

gegeben hat, das hat er auch in die Herzen aller Menschen geschrieben. Also<br />

halte ich die Gebote, die Mose gegeben hat, nicht deshalb ein, weil sie Mose<br />

geboten hat, sondern deshalb, weil sie mir von Natur aus eingepflanzt sind,<br />

und Mose mit der Natur übereinstimmt.« (DDStA 1, 539,31-38; Übertragung:<br />

Notker Slenczka)<br />

(2) Mit der Formulierung »Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben<br />

und vertrauen« erklärt Luther das von ihm als erstes Gebot gefasste<br />

Fremdgötterverbot. In leicht gekürzter Gestalt (»Wir sollen Gott<br />

fürchten und lieben«) begegnet diese Auslegung des ersten Gebots in<br />

den Erläuterungen zu den neun anderen Geboten wieder. Damit macht<br />

Luther deutlich, dass er die Befolgung sämtlicher Einzelgebote als<br />

unterschiedliche Konsequenzen des Gottvertrauens versteht. Dies entspricht<br />

seiner Auffassung zum Verhältnis von Glauben und guten Werken<br />

(vgl. 2.3.1b); denn danach hängt die sittliche Qualität der menschlichen<br />

Werke nicht von diesen selbst ab, sondern davon, ob sie Früchte<br />

des Glaubens sind. In seiner Schrift »Von den guten Werken« (1520) hat<br />

Luther diesen Grundsatz eingehend entfaltet (Luther, Von den guten<br />

Werken).<br />

Vnd wie / disz gebot / das aller erst / hoechst / best / ist ausz welchem / die<br />

andern alle fliessen […]. Alszo ist auch sein werck (das ist der glaub odder<br />

zuuorsicht zu gottis hulden zu aller zeit) das aller erst / hochst / beste / ausz<br />

welchem / alle andere flissen / ghan / bleyben /gericht vnnd gemessiget werden<br />

mussenn. Vnnd andere werck kegen diessem / sein eben / als ob die andern<br />

gebot weren on das erste / vnd kein got were (DDStA 1, 118,25–31)<br />

»Und wie dieses Gebot das allererste, höchste und beste ist, aus dem alle anderen<br />

Gebote fließen […], so ist auch sein Werk – nämlich der Glaube oder die<br />

Zuversicht auf Gottes Wohlwollen zu jeder Zeit – das allererste, höchste, beste,<br />

aus welchem alle anderen Werke fließen, geschehen, bleiben, ausgerichtet und


2.1 Biblische Bezugstexte und Leitbegriffe 103<br />

geordnet werden müssen; und im Vergleich zu diesem sind die anderen Werke<br />

so, als ob die anderen Gebote ohne das erste Gebot wären und es keinen Gott<br />

gäbe.« (DDStA 1, 119,26–34)<br />

(3) Mit dem oben zitierten und in Anm. 235 nachgewiesenen Stichwort<br />

»affirmative Interpretation« ist angezeigt, dass sich Luther im<br />

Kleinen Katechismus nicht damit begnügt, die Vorschriften des Dekalogs<br />

negativ zu verstehen. Das tätige Leben des Glaubenden soll also<br />

nicht nur davon geprägt sein, dass er Verfehlungen vermeidet, indem er<br />

bestimmte äußere Handlungen unterlässt; vielmehr soll sich der Christ<br />

durch seinen Glauben auch zu guten Taten motivieren lassen. »Damit<br />

hört der Dekalog in Luthers Auslegung auf, überwiegend eine Sammlung<br />

von Verboten zu sein, die das Böse nur verhindern wollen, sondern<br />

er wird zu einer Anweisung, das Gute zu tun.« 239 Im Text von Luthers<br />

Erklärung wird dies an den zweigliedrigen Entfaltungen deutlich,<br />

welche die Gebote 2 bis 5 und 7 bis 10 durchziehen: Der Erläuterung des<br />

mit dem jeweiligen Gebot Untersagten folgt, regelmäßig eingeleitet<br />

durch das Wort »sondern«, eine affirmative Konkretion; damit ist eine<br />

Anleitung zu einem Handeln gemeint, dessen sittliche Qualität weit<br />

über das Vermeiden der entsprechenden Verfehlungen hinausgehen<br />

soll.<br />

Diese Radikalisierung des in den Dekalog-Geboten geltend ge -<br />

machten Anspruchs – man kann, vorgreifend auf 2.1.2, durchaus von<br />

einer Normverschärfung sprechen – war nach Luther vom gesamtbiblischen<br />

Kontext her geboten. Gerade im Blick auf das verbal gefasste<br />

und doch seinem Wesen nach geistliche Gesetz (vgl. 1Kor 7,14) musste<br />

nämlich bei der christlichen Auslegung die Unterscheidung von Buchstaben<br />

und Geist angewendet werden (vgl. 2Kor 3,6). Die Auffassung,<br />

biblische Gebote wären entweder ausschließlich verbietend (also negativ)<br />

oder handlungsbestimmend (also affirmativ) zu verstehen, galt<br />

Luther deshalb als falsch. In einer hermeneutischen Reflexion, die in<br />

die Auslegung des fünften Gebots in seinen 1518 gedruckten Dekalogpredigten<br />

von 1516/17 eingeflochten ist, hat er diese Notwendigkeit<br />

einer affirmativ-geistlichen Deutung der dem Buchstaben nach nur<br />

negativen Dekalogvorschriften eingehend begründet:<br />

239 Härle, <strong>Ethik</strong>, 162.


104<br />

2. Zur historischen Entwicklung der <strong>Ethik</strong><br />

»ex […] caligine concludunt, quaedam esse praecepta tantum negativa, quaedam<br />

affirmativa. hoc […] non est verum, nisi corticem syllabarum teneas. Nam<br />

illo praecepto ›Non occides‹ exprimit vehementissimam affirmativam, scilicet<br />

illam ›Esto mitis et ex corde mansuetus ac patiens et quietus ac pacificus‹. […]<br />

Igitur hoc praeceptum est quidem negativum secundum literam, sed affirmativissimum<br />

secundum spiritum […]. Ex quibus omnibus patet, quod decalogus<br />

ad literam sonans recte in spiritu exponitur a Christo et Apostolis.« (Luther,<br />

Decem praecepta, WA 1, 470,4–8.16 f.; 471,24 f.)<br />

»Aus Unwissenheit folgern sie [scil. die von Luther kritisierten scholastischen<br />

Theologen], dass manche Anordnungen [scil. des Dekalogs] nur verbietende<br />

sind, manche gebietende. Das ist nicht wahr, außer man hält sich [nur] an das<br />

Äußerliche [eigentl.: die Rinde] der Silben. Denn mit jener Anordnung ›Du<br />

sollst nicht töten‹ drückt er ein sehr starkes Gebieten aus, nämlich jenes: ›Sei<br />

sanftmütig und von Herzen gütig und geduldig und ruhig und friedfertig‹.<br />

[…] Also ist diese Anordnung zwar verbietend nach dem Buchstaben, aber in<br />

höchstem Maße gebietend nach dem Geist […]. Aus all dem ist klar, dass der<br />

buchstäblich klingende Dekalog sachgerecht von Christus und den Aposteln<br />

her im Geist erklärt wird.« (Übersetzung: <strong>Rochus</strong> <strong>Leonhardt</strong>)<br />

Die Hinweise auf die Notwendigkeit einer Auslegung der Zehn Gebote<br />

»von Christus und den Aposteln her im Geist« sowie die affirmative<br />

Wendung des Tötungsverbotes in eine Forderung nach Sanftmut und<br />

Friedfertigkeit (vgl. Mt 5,4.9) haben gezeigt, dass Luther den Dekalog<br />

von der Bergpredigt her auslegt. – Damit ist bereits der Übergang zum<br />

zweiten hier zu behandelnden biblischen Bezugstext der christlichen<br />

<strong>Ethik</strong> vollzogen.<br />

[Dekalog]<br />

– Maßgebliche Willensbekundung Gottes im Alten Testament und prägendes<br />

Dokument der jüdischen und christlichen <strong>Ethik</strong>; zugleich als allgemein<br />

verbindliches »Grundgesetz des Menschenanstandes« (Thomas Mann)<br />

interpretiert.<br />

– Im Judentum und den christlichen Konfessionen gibt es Unterschiede in<br />

den Zählweisen sowie in der Verteilung der zehn Gebote auf die zwei Tafeln.<br />

– Für Luthers Auslegung des Dekalogs ist signifikant:<br />

1. Universalisierung durch Enthistorisierung.<br />

2. Hervorhebung der Zentralstellung des ersten Gebots.<br />

3. Ergänzung der Verbote durch Anleitungen zum Tun des Guten.


2.1 Biblische Bezugstexte und Leitbegriffe 105<br />

2.1.2 Die Bergpredigt<br />

(a Allgemeine Hinweise ) Die sog. Bergpredigt (Mt 5–7), eine vom Evangelisten<br />

Matthäus als erste ausführliche Verkündigungsrede Jesu gestaltete<br />

Komposition, kann als der bekannteste und einflussreichste, zugleich<br />

aber auch als der umstrittenste Grundtext der christlichen <strong>Ethik</strong> gelten.<br />

Die exegetische Literatur dazu ist selbst für Fachleute schwer zu überblicken;<br />

dies gilt auch für die vielschichtige Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte,<br />

die bereits in der altkirchlichen Zeit begonnen hat und bis<br />

heute zu keinem Abschluss gekommen ist.<br />

Eine detaillierte Analyse des Textes, einschließlich des Vergleichs<br />

mit der sog. Feldrede im Lukasevangelium (Lk 6,17–49), gehört ebenso in<br />

die Kompetenz der neutestamentlichen Wissenschaft wie der Versuch<br />

einer Klärung des Verhältnisses zwischen dem in der Bergpredigt zum<br />

Ausdruck kommenden Ethos des »historischen« Jesus und seiner Darstellung<br />

bei Matthäus. 240 Hier genügt eine Nennung der für die Entwicklung<br />

der christlichen <strong>Ethik</strong> wichtigsten Schwerpunkte aus Mt 5–7.<br />

Eine exemplarische Vertiefung wird lediglich an einem Punkt vorgenommen.<br />

– An erster Stelle sind dabei die Seligpreisungen zu nennen (Mt 5,3–<br />

12). Speziell im Blick auf die Rezeption der Westkirche ist dabei von<br />

Bedeutung, dass das im griechischen Text für selig verwendete Wort<br />

µακάριοι (makárioi ) in der lateinischen Vulgata mit beati übersetzt<br />

wurde, mit demselben Wort, das gewöhnlich auch zur Übersetzung des<br />

griechischen εὐδαίµων (eudaímon) diente. Allerdings hatte sich das<br />

Wort εὐδαίµων schon früh aus religiös-theologischen Zu samenhängen<br />

gelöst und war bereits bei Aristoteles zu einem Leitbegriff der philosophischen<br />

Glücksethik avanciert (vgl. 1.2.1b); im Neuen Testament gibt<br />

es dafür keinen Beleg. Durch die Verwendung von beatus in der lateinischen<br />

Vulgata wurde aber der primär philosophisch geprägte Eudaímon-Begriff<br />

mit dem biblisch verwurzelten Makários-Konzept verbunden.<br />

Damit war die terminologische Voraussetzung geschaffen für eine<br />

Verbindung der philosophischen <strong>Ethik</strong>-Traditionen mit dem neutesta-<br />

240 Nach Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, 67, werden von den vier bei Lukas<br />

überlieferten Seligpreisungen »die ersten drei (Arme, Hungernde, Weinende) allgemein<br />

auf Jesus zurückgeführt«; so auch Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 271;<br />

vgl. zur Rückfrage nach dem historischen Jesus: Schröter, Der »erinnerte Jesus«.


106<br />

2. Zur historischen Entwicklung der <strong>Ethik</strong><br />

mentlichen Christentum, eine Verbindung, die in Patristik und Scholastik<br />

zu unterschiedlichen Varianten einer christlichen Transformation<br />

der pagan-antiken Strebensethik führte (vgl. 2.2).<br />

– Es schließen sich die Logien von den Jüngern als dem Salz der Erde<br />

und dem Licht der Welt an (Mt 5,13–16), gefolgt von den Hinweisen zur<br />

Erfüllung (nicht: Auflösung) des Gesetzes durch Jesus und zur besseren<br />

Gerechtigkeit der Jünger Jesu gegenüber der der Schriftgelehrten und<br />

Pharisäer (Mt 5,17–20). Diese Hinweise bilden einen Vorspruch zum folgenden<br />

größeren Abschnitt, den sog. Antithesen (Mt 5,21–48). Dabei<br />

handelt es sich um zwei Aussagereihen zu insgesamt sechs Themen, die<br />

in der sittlichen und rechtlichen Lebenswelt des Judentums damals eine<br />

Rolle spielten. Inhaltlich geht es um das Tötungsverbot (1), das Verbot<br />

des Ehebruchs (2), die Möglichkeit der Ehescheidung (3), das Verbot des<br />

Falsch-Schwörens (4), die Frage der Vergeltung (5) und das Verhältnis<br />

zum Nächsten und zum Feind (6). Dabei wird jeweils einer von Jesus frei<br />

zitierten Regel aus dem jüdischen Gesetz eine von ihm selbst stammende<br />

und regelmäßig mit der Formulierung »Ich aber sage euch …« eingeleitete<br />

Aussage entgegengestellt, die die tradierte Deutung erläutert,<br />

dabei aber zugleich erweitert und überbietet (dazu mehr in b).<br />

– Die nächste Textpassage (Mt 6,1–18) enthält Forderungen, die die<br />

christliche Frömmigkeitspraxis in den Tätigkeitsfeldern des Almosengebens,<br />

des Betens sowie des Fastens regeln. Eingeschaltet ist das Va -<br />

terunser (Mt 6,9–13), das einzige nach dem Neuen Testament von Jesus<br />

direkt formulierte und bis heute im Christentum am weitesten verbreitete<br />

Gebet. Es avancierte früh zu einem wichtigen Teil der Gottesdienstliturgie<br />

sowie – neben Dekalog und Apostolischem Glaubensbekenntnis<br />

– zum prominenten Gegenstand zunächst der Taufkatechese und später<br />

der gesamten mündlichen Unterweisung der Gläubigen; es fand auch<br />

Eingang in die sich seit dem 16. Jahrhundert zunehmend verbreitenden<br />

schriftlichen Katechismen. Der letzten Vaterunser-Bitte (der Bitte um<br />

Vergebung) ist in Mt 6,14 ein relativ ausführlicher Kommentar Jesu beigefügt.<br />

Die im heutigen liturgischen Gebrauch übliche Schlussdoxologie<br />

ist in den ältesten Handschriften nicht überliefert. Sie wird deshalb<br />

in der griechischen Edition des Neuen Testaments nur im Apparat mitgeteilt<br />

und ist in der Lutherbibel als Hinzufügung gekennzeichnet.<br />

– Der Abschnitt Mt 6,19–34 enthält Anweisungen zu Fragen des<br />

Besitzes; vom Sammeln irdischer Schätze wird ebenso abgeraten wie von<br />

der Sorge um die irdische Existenzsicherung, die gegenüber dem Stre-


2.1 Biblische Bezugstexte und Leitbegriffe 107<br />

ben nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit als sekundär ausgewiesen<br />

werden. Diese Passagen sind im Laufe der Christentumsgeschichte<br />

vielfältiger Anknüpfungspunkt für – im weitesten Sinne – wirtschaftsethische<br />

Themen geworden (vgl. 3.3.2).<br />

– Im Folgenden (Mt 7,1–12) wird vor heuchlerischem Richten über<br />

andere gewarnt, es wird zur Wahrung des Heiligen aufgerufen und zum<br />

Vertrauen beim Gebet ermuntert. Am Ende dieses Textteils (Mt 7,12) findet<br />

sich die sog. Goldene Regel (dazu mehr in 2.1.3b). Die Tatsache der<br />

biblischen Überlieferung dieses klassischen Grundsatzes universaler<br />

Weisheit 241 kann als ein Beleg für die christliche Rezeption des Naturrechts<br />

gelten (vgl. 1.1.3; 1.3.1b).<br />

– Verschiedene Mahnungen – Hinweis auf zwei Wege, Warnung vor<br />

Falschpropheten und das Gleichnis vom Hausbau – beschließen in Mt<br />

7,13–27 die Bergpredigt, deren Darstellung durch Matthäus mit einem<br />

auf die Einleitung (Mt 5,1) zurücklenkenden Satz beendet wird.<br />

(b Die Antithesen der Bergpredigt) Die Frage, welche Teile der Bergpredigt<br />

sich direkt auf Jesus zurückführen lassen, ist in besonderer Intensität<br />

bezüglich der sechs Antithesen diskutiert worden. Unabhängig<br />

von den – hier nicht zu resümierenden – durchaus uneinheitlichen<br />

Ergebnissen dieser Debatten wird doch mit einiger Übereinstimmung<br />

davon ausgegangen, dass jedenfalls einige der Antithesen tatsächlich in<br />

die Verkündigung Jesu zurückreichen (vgl. die in Anm. 240 nachgewiesene<br />

Auffassung). In jedem Fall spiegelt sich in diesen Texten in besonderer<br />

Weise das, was Ernst Troeltsch als Radikalismus der <strong>Ethik</strong> des<br />

Evangeliums bezeichnet hat (vgl. 1.3.1c); dieser bestehe in »der aufs<br />

äußerste gesteigerten Konsequenz aller sittlichen Gebote ohne jede<br />

Rücksicht auf andere Motive und Zweckmäßigkeiten« und zeichne sich<br />

insgesamt aus durch »eine alle Bedingungen der Möglichkeit und<br />

Durchführbarkeit beiseite setzende Strenge« 242 . Mit anderen Worten:<br />

Das Ethos Jesu, das getragen war von der Gewissheit, das als zukünftig<br />

erwartete Gottesreich sei in seinem Wort und seiner Tat bereits angebrochen,<br />

war geprägt von »Weltfremdheit«. Gemeint ist damit ein Desinteresse<br />

daran, wie die unbedingt geforderte Totalhingabe an das in Jesus<br />

schon fragmentarisch angebrochene Gottesreich, dessen vollumfäng-<br />

241 Vgl. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 506.<br />

242 Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 35–37.


108<br />

2. Zur historischen Entwicklung der <strong>Ethik</strong><br />

liche Durchsetzung noch erwartet wird, mit den vorhandenen sittlichen<br />

Traditionen und sozialen Ordnungen vermittelt werden kann. Dies wird<br />

in der neueren Exegese ähnlich gesehen: Jesus formuliere speziell in den<br />

Antithesen »kategorische Forderungen« und bedenke nicht de-ren »Konsequenzen<br />

[…]. Man mag in dieser Radikalität ein Signum des eschatologischen<br />

Gottesreiches sehen, an das Jesus sich gebunden wußte.« 243<br />

Da sich das Christentum – ungeachtet seiner primären Verwurzelung<br />

in der jesuanischen »Weltfremdheit« – dauerhaft als eine in dieser<br />

Welt etablierte Religion eingerichtet hat, stellte und stellt sich naturgemäß<br />

die Frage, in welchem Verhältnis der Radikalismus der <strong>Ethik</strong> des<br />

Evangeliums zu vorhandenen sittlichen Traditionen und sozialen Ordnungen<br />

stand und steht. Dabei sind zwei Aspekte zu unterscheiden.<br />

Zum einen muss die (eher historisch-exegetische) Frage geklärt werden,<br />

wie sich der in den matthäischen Antithesen aufscheinende jesuanische<br />

Radikalismus zu den Grundorientierungen jener Religion verhielt, der<br />

Jesus selbst entstammte, also dem zeitgenössischen Judentum; darauf<br />

ist nachstehend einzugehen. Zum zweiten muss die (eher systematische)<br />

Frage beantwortet werden, wie die in den Antithesen enthaltenen<br />

Radikalforderungen Jesu in die gelebte Wirklichkeit eines in dieser Welt<br />

etablierten und kirchlich verfassten Christentums übertragen werden<br />

können; dies ist in Abschnitt c im Rahmen eines Überblicks über maßgebliche<br />

Auslegungsvarianten der Bergpredigt zu behandeln.<br />

Der erste (hier wegen des primär historisch-exegetischen Charakters<br />

eher kurz anzusprechende) Frageaspekt berührt ein größeres Themenfeld;<br />

gemeint ist die Stellung Jesu zum jüdischen Gesetz insgesamt.<br />

Weil damit auch das grundsätzliche Verhältnis des Christentums zum<br />

Judentum als seiner Wurzelreligion angesprochen ist, hat diese Frage<br />

auch eine theologiepolitische Dimension.<br />

Es wird oft betont, dass die Antithesen der Bergpredigt als das »klassische<br />

Beispiel für die normverschärfenden Tendenzen in der Jesusüberlieferung«<br />

gelten können. 244 Damit ist das bereits benannte Stichwort<br />

Normverschärfung aufgenommen, das schon in 2.1.1c zur Charakterisierung<br />

von Luthers affirmativer Dekalog-Auslegung verwendet wurde.<br />

Vielfach wird diese Normverschärfung so verstanden, dass die Antithesen<br />

ein lediglich auf äußerliche Handlungen bzw. Unterlassungen zie-<br />

243 Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 375 f.<br />

244 Theißen/Merz, Der historische Jesus, 324.


2.1 Biblische Bezugstexte und Leitbegriffe 109<br />

lendes Verständnis der entsprechenden Ge- bzw. Verbote transzendieren;<br />

als eigentliche Erfüllung des im Gesetz zum Ausdruck kommenden<br />

Willens Gottes gelte jene innerliche Haltung, die alle Einzelhandlungen<br />

bestimmt und daher das im Wortlaut des Gesetzes Verbotene von vornherein<br />

ausschließt: »Man kann Gottes Willen erst erfüllen, wenn man<br />

seine Gebote nicht nur durch sein Verhalten verwirklicht, sondern den<br />

eigenen Willen bis in die innersten Affekte hinein von ihnen bestimmt<br />

sein läßt.« 245 Abweichend von diesem hier im An schluss an Gerd<br />

Theissen (geb. 1943) und Annette Merz (geb. 1965) referierten Verständnis,<br />

nach dem die bei Matthäus als jesuanisch überlieferten Antithesen<br />

als thorakritisch zu interpretieren sind, hat der Heidelberger<br />

Neutestamentler Matthias Konradt (geb. 1967) die Auffassung vertreten,<br />

dass die Antithesen »nicht Jesu Wort über oder gegen das Wort der<br />

Tora [stellen], sondern Jesu Auslegung des in der Tora offenbarten Willens<br />

Gottes gegen die Auslegung von Schriftgelehrten und Pharisäern« 246 .<br />

Das damit Gemeinte sei mit Blick auf die ersten beiden als die nach Konradt<br />

»möglicherweise genuine[n] Antithesen« verdeutlicht. 247 Die erste Antithese (Mt<br />

5,22) könnte zwar durchaus so verstanden werden, als würde Jesus den Geltungsbereich<br />

des Tötungsverbots so weit ausdehnen, dass schon der Zorn gegenüber dem<br />

Bruder dazu führt, dass der Mensch dem Gericht verfällt. Nach Konradt dagegen<br />

legt Jesus »das Augenmerk […] aber nicht auf den Zorn als einer inneren Regung […].<br />

Der Zorn wird vielmehr in seiner sozialen Dimension, im Sinne konkreten Verhaltens,<br />

verhandelt«. Auch die noch »unterhalb der Schwelle des Mordes liegende[n]<br />

Artikulationen« des Zornes – etwa die in Mt 5,22c.d benannten Beschimpfungen –<br />

fallen bereits »unter das im Gebot ausgesprochene Verdikt« 248 . Auch in der zweiten<br />

Antithese, die bereits den begehrlichen Blick auf eine andere als die eigene Frau als<br />

Ehebruch be zeichnet (Mt 5,28), geht es um den Ausschluss einer Deutung von Ex<br />

20,14/ Dtn 5,18, nach der »Ehebruch erst mit dem Vollzug des Beischlafs mit einer<br />

anderen (Ehe-)Frau gegeben ist« 249 . – »Analog zum Zorn in V. 22 wird auch hier mit<br />

der Rede vom Herzen der ganze Mensch samt seiner inneren Disposition einbezogen<br />

[…], und zugleich liegt der Fokus mit dem begehrlichen Blick wiederum auf<br />

dem konkreten Verhalten, in dem sich der Entschluss des Herzens artikuliert.« 250<br />

Als Fazit seiner Überlegungen formuliert Konradt:<br />

245 A. a. O., 325.<br />

246 Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, 79.<br />

247 Konradt, Die vollkommene Erfüllung der Tora, 295.<br />

248 Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, 83; vgl. Ders., Rezeption und Interpretation<br />

des Dekalogs im Matthäusevangelium, 320–330.<br />

249 Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, 86; vgl. Ders., Rezeption und Interpretation<br />

des Dekalogs im Matthäusevangelium, 330–337.


110<br />

2. Zur historischen Entwicklung der <strong>Ethik</strong><br />

»Matthäus präsentiert Jesus in 5,21–30 […] als wahren Ausleger des in der Tora<br />

laut werdenden Gotteswillens auf der Kontrastfolie eines bloß buchstäblichen<br />

Verständnisses der Gebote […]. Jesu Position wird in der Forschung häufig als<br />

Verschärfung oder Radikalisierung der Gebote bezeichnet. Wenn man damit<br />

eine Überbietung der Gebote verbindet, trifft dies m. E. die matthäische Position<br />

nicht exakt. Adäquater erscheint mir, von einer radikalen oder extensiven<br />

Auslegung der Gebote zu sprechen, die deren tiefere Intention auslotet.« 251<br />

Neben dem in den (ersten beiden) Antithesen greifbaren Umgang Jesu<br />

mit der Thora, mag man ihn als radikal-extensive Auslegung (Konradt)<br />

oder als eine Normverschärfung (Theissen/Merz) bezeichnen,<br />

können Teile der neutestamentlichen Jesusüberlieferung auch als<br />

Normentschärfung interpretiert werden. Als Beispiele für die zuletzt<br />

ge nannte Tendenz gelten insbesondere Jesu Umgang mit dem Reinheitsgebot<br />

(Mk 7,15) und mit dem Sabbatgebot (Mk 2,27). Was dieses<br />

»Nebeneinander thoraverschärfender und -entschärfender Tendenzen«<br />

angeht, so fällt zunächst auf, dass sich die »Normverschärfung […] bei<br />

Jesus auf ethische Gebote im engeren Sinne [bezieht], Normentschärfung<br />

dagegen auf rituelle und kultische Normen«. 252 Weiterhin lassen<br />

sich beide genannte Tendenzen zwar durchaus der Intention zuordnen,<br />

»jüdische Identität zu wahren«. Aber vorausgesetzt ist doch in beiden<br />

Fällen eine »innere Freiheit gegenüber der Thora« 253 , eine Freiheit, als<br />

deren sozialgeschichtlicher Hintergrund die »Situation des Wandercharismatikertums«<br />

behauptet worden ist. 254 – Mit diesem (wiederum von<br />

Gerd Theissen geprägten) Begriff, der als Wurzel des jesuanischen<br />

Radikalismus eine spezifische Ausnahmesituation signalisiert, ist<br />

bereits die jetzt anzusprechende Frage berührt. Sie lautet: Wie kann der<br />

Radikalismus der <strong>Ethik</strong> des Evangeliums einschließlich seiner »Weltfremdheit«<br />

mit der Normalsituation einer kirchlich verfassten und<br />

innerweltlich etablierten Religion zusammengebracht werden?<br />

(c Zur Auslegung der Bergpredigt ) Das im folgenden Zitat präzise angezeigte<br />

Problem bringt die Frage nach der Bedeutung der Bergpredigt für<br />

250 Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, 87.<br />

251 Konradt, Rezeption und Interpretation des Dekalogs im Matthäusevangelium, 337.<br />

252 Theißen/Merz, Der historische Jesus, 330 f.<br />

253 A. a. O., 331 f.<br />

254 A. a. O., 330; vgl. dazu ausführlich: Theißen, Die Jesusbewegung.


3.<br />

Themenfelder der<br />

(evangelisch-theologischen)<br />

<strong>Ethik</strong><br />

3.0 Vorbemerkungen<br />

Im ersten Hauptteil dieses Lehrbuchs wurde bereits erläutert, was unter<br />

evangelisch-theologischer <strong>Ethik</strong> zu verstehen ist: Es handelt sich um<br />

eine innerhalb der Systematischen Theologie verortete wissenschaftliche<br />

Disziplin, in der Fragen der menschlichen Lebensführung im Horizont<br />

des christlichen Glaubens evangelischer Provenienz reflektiert<br />

werden. Aus dieser Feststellung ergeben sich zunächst zwei Folgerungen,<br />

die für die inhaltliche Profilierung dieses dritten Hauptteils von<br />

Bedeutung sind.<br />

(1) Sofern sich die Reflexionen der theologischen <strong>Ethik</strong> im Horizont<br />

des christlichen Glaubens evangelischer Provenienz bewegen, sind sie an<br />

einer bestimmten Auffassung vom menschlichen Leben und Handeln<br />

orientiert. Im konkreten Fall der evangelisch-theologischen <strong>Ethik</strong> ist<br />

diese Auffassung geprägt durch die Deutung der biblischen Bezugstexte<br />

und Leitbegriffe (vgl. 2.1) in den reformatorischen Überlieferungen (vgl.<br />

2.3), wobei im vorliegenden Lehrbuch der lutherischen Tradition eine<br />

besondere Bedeutung zukommt (vgl. 2.3.1). Wie diese Auffassung vom<br />

menschlichen Handeln inhaltlich bestimmt ist, wird in 3.1 genauer dargestellt;<br />

in der in diesem Abschnitt anstehenden Entfaltung des dem<br />

christlichen Glauben entsprechenden Verständnisses des menschlichen<br />

Lebensvollzugs wird versucht, den ethisch relevanten Sachgehalt der<br />

lutherischen Rechtfertigungslehre als eine auch gegenwärtig einleuchtende<br />

Grundlage christlicher <strong>Ethik</strong> plausibel zu machen (vgl. die Übersicht<br />

in 1.3.3c).<br />

(2) Sofern es in der theologischen <strong>Ethik</strong> um Fragen der menschlichen<br />

Lebensführung geht, decken sich die Themenbestände der theologischen<br />

prinzipiell mit denen der philosophischen <strong>Ethik</strong> (auch dies hat die<br />

Übersicht in 1.3.3c deutlich gemacht). Aufgrund der Mannigfaltigkeit<br />

der menschlichen Lebenswirklichkeit sind die möglichen Themenfelder


3.0 Vorbemerkungen 281<br />

der <strong>Ethik</strong> allerdings so zahlreich, dass eine alle relevanten Fragen umfassende<br />

Darstellung kaum durchführbar ist. 704<br />

Hinzu kommt, dass aufgrund von historisch bedingten Veränderungen<br />

der menschlichen Lebens- und Handlungswelt gegenwärtig<br />

manche Themen akut sind, die noch vor 50 oder gar 100 Jahren keine<br />

Rolle gespielt haben.<br />

Dies gilt etwa für bestimmte Fragen der medizinischen <strong>Ethik</strong>,<br />

namentlich für die Frage nach der moralischen Zulässigkeit der Forschung<br />

an embryonalen menschlichen Stammzellen (vgl. 3.2.4b) – sie<br />

konnte überhaupt erst aufkommen, nachdem die dafür erforderlichen<br />

medizintechnischen Voraussetzungen gegeben waren, die sich erst seit<br />

den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt haben.<br />

Ebenso gilt umgekehrt, dass in der Vergangenheit Themen als<br />

moralisch relevant betrachtet und in Handbüchern der <strong>Ethik</strong> einer Klärung<br />

zugeführt wurden, die gegenwärtig keine Rolle mehr spielen.<br />

Als ein Beispiel hierfür kann die Frage nach der moralischen Beurteilung<br />

des Duells gelten. Franz Hermann Reinhold von Frank<br />

hat dieses Thema relativ umfangreich behandelt. Dabei hat er einerseits<br />

konstatiert, dass »das christliche Urtheil in der Frage des Duells […]<br />

ablehnend sich verhalten muss«, andererseits aber festgehalten: »Wer<br />

auf seine Ehre hält und eventuell mit seinem Leben dafür eintritt, steht<br />

sittlich höher als wer Beschimpfungen in stumpfer Gefühllosigkeit hinnimmt.«<br />

705 Und der deutsche Pädagoge und Philosoph Friedrich<br />

Paulsen (1846–1908) hat sich noch in der achten Auflage (1906) seines<br />

erstmals 1889 publizierten Hauptwerks »System der <strong>Ethik</strong>« relativ ausführlich<br />

zum Duell geäußert, 706 wobei er diese Praxis allerdings als eine<br />

bereits »im Absterben begriffene Sitte« betrachtet hat. 707<br />

Neben den bisher angesprochenen erst seit kurzem (und möglicherweise<br />

nur noch kurze Zeit) und den aktuell nicht meh relevanten Themen<br />

gibt es natürlich auch »Dauerbrenner«, also Themenbereiche ethischer<br />

Reflexion, über die seit den Anfängen der <strong>Ethik</strong> als wissenschaftlicher<br />

Disziplin nachgedacht wurde und die bis heute sowohl in philo-<br />

704 Als Versuch einer tendenziell umfassenden Behandlung gegenwärtig relevanter<br />

Themen kann das »Handbuch Angewandte <strong>Ethik</strong>« (2011) gelten.<br />

705 von Frank, System der christlichen Sittlichkeit. Zweite Hälfte, 327.<br />

706 Vgl. Paulsen, System der <strong>Ethik</strong>, Band 2, 108–122.<br />

707 A. a. O., 119. Eine Reminiszenz an die ethische Behandlung des Duells findet sich<br />

noch bei Honecker, Grundriß der Sozialethik, 619.


282<br />

3. Themenfelder der (evangelisch-theologischen) <strong>Ethik</strong><br />

sophischen als auch in theologischen Darstellungen berücksichtigt werden.<br />

Dazu gehören – mit charakteristischen Verschiebungen (dazu<br />

gleich) – die modernen Transformationsgestalten der drei Teile der aristotelischen<br />

Moralphilosophie, nämlich Monastik, Ökonomik und Politik.<br />

Die antik-mittelalterliche Monastik, die, wie es in dem in 1.2.3c (vgl.<br />

Seite 44) nachgewiesenen Zitat heißt, »die auf ein Ziel hingeordneten<br />

Tätigkeiten eines [scil. einzelnen] Menschen betrachtet«, kann als Vorläuferin<br />

dessen gelten, was vielfach als Individualethik bezeichnet wird.<br />

Ökonomik und Politik sind dagegen bis in die Gegenwart klassische<br />

Themen der Sozialethik: Die Ökonomik mit ihrer Behandlung des Besitzes<br />

und der Erwerbsformen kann als Vorläuferin der modernen Wirtschaftsethik<br />

gelten; in der aristotelischen Politik, die die Staatsordnung<br />

zum Gegenstand hat, ist die moderne politische <strong>Ethik</strong> präfiguriert.<br />

Sofern freilich, und hier liegt eine wichtige Verschiebung vor, in der<br />

aristotelischen Ökonomik auch die in der Hausgemeinschaft bzw. im<br />

Haushalt (οἶκος /oikos) begegnenden familiär-personalen Beziehungen<br />

eine Rolle spielen, wurde ein Teil der traditionellen Ökonomik zum<br />

Thema der neueren Individualethik (das von Aristoteles ebenfalls in<br />

der Ökonomik behandelte Verhältnis zwischen Herrn und Sklaven ist<br />

ebenso obsolet geworden wie später das Duell).<br />

Das vorliegende Lehrbuch orientiert sich bei der Behandlung der<br />

Themenfelder (evangelisch-theologischer) <strong>Ethik</strong> in gewisser Weise am<br />

aristotelischen Schema: Die Abschnitte 3.3 und 3.4 sind den (im engeren<br />

Sinne) sozialethischen Themen Wirtschaft und Politik gewidmet. Ab -<br />

schnitt 3.2 verhandelt eine Reihe weiterer Themenfelder mit einer<br />

sowohl individual- als auch einer sozialethischen Dimension (auf die<br />

Unterscheidung von Individual- und Sozialethik wird gleich näher eingegangen).<br />

Die vorstehenden Ausführungen zur inhaltlichen Profilierung<br />

sowie zur Gliederung dieses dritten Hauptteils sind nachstehend durch<br />

vier Hinweise zu ergänzen, die einige weitere gliederungstechnische<br />

Bemerkungen sowie verschiedene terminologische Klärungen enthalten.<br />

1. In 2.3.1b war bereits notiert worden, dass sich nach Luther das<br />

christliche Leben dadurch verwirklicht, dass der Mensch seinen Glauben<br />

in den vorgegebenen Strukturen dieser Welt bewährt. Seine Auffassung<br />

von der Beschaffenheit dieser Strukturen, die dort in Anlehnung<br />

an den (»Bekenntnis« überschriebenen) Schlussteil der Abendmahls-


3.0 Vorbemerkungen 283<br />

schrift von 1528 illustriert wurde, war an die mittelalterliche Drei-Stände-Ordnung<br />

angelehnt. Diese Ständelehre schrieb die bereits bei Platon<br />

begegnende funktionale Dreiteilung der Gesamtgesellschaft in<br />

einen erwerbenden (Nährstand), einen beschützenden (Wehrstand) und<br />

einen beratenden Sektor (Lehrstand) fort (vgl. 1.2.2c), indem sie die drei<br />

Gruppen der Betenden, der Kämpfenden und der Arbeitenden unterschied:<br />

»Das Haus Gottes, das als eines geglaubt wird, ist dreigeteilt: So<br />

gibt es welche, die beten, andere kämpfen und andere arbeiten« (»Tripartita<br />

Dei domus est, quae creditur una: Nunc orant, alii pugnant, aliique<br />

laborant«). 708 – Luther hat einerseits an der überlieferten Trias festgehalten<br />

und entsprechend ecclesia (Kirche), oeconomia ([Haus-]Wirtschaft)<br />

und politia (politische Obrigkeit) unterschieden. Dies sind jene<br />

Verantwortungs- bzw. Handlungsfelder des sozialen Lebens, an die die<br />

christliche Liebestätigkeit gewiesen ist. 709 Andererseits hat Luther die<br />

drei Stände nicht als »Segmente einer dreigeteilten Gesellschaft« verstanden,<br />

sondern als »Bereiche des Lebens eines jeden Menschen, der<br />

allen dreien zugleich angehört […]. Die Person ist also in alle drei Stände<br />

gleichmäßig eingebunden.« 710<br />

Nun ist es so, dass sich Luthers Trias von ecclesia, oeconomia und<br />

politia durchaus berührt »mit der traditionellen Unterscheidung von<br />

drei Gattungen der philosophischen <strong>Ethik</strong> [Monastik, Ökonomik und<br />

Politik], mit denen der Gebildete Luthers Begriffe leicht assoziieren<br />

konnte« 711 . Die Frage, wie sich Luthers Begriff von Kirche zur Monastik<br />

verhält, ist hier allerdings nicht zu thematisieren. Ungeachtet dessen ist<br />

deutlich, dass die in 3.3 und 3.4 anstehende Behandlung der sozialethischen<br />

Themenfelder (Wirtschaft und Politik) nicht nur dem aristotelischen<br />

Schema verpflichtet ist. Sondern es wird zugleich dem Umstand<br />

Rechnung getragen, dass diese Themen in der reformatorisch geprägten<br />

<strong>Ethik</strong> sowohl traditionell als »Dauerbrenner« der ethischen Reflexion<br />

galten als auch bis heute in der evangelischen <strong>Ethik</strong> regelmäßig behandelt<br />

werden, ungeachtet dessen, dass der Themenbestand der materialen<br />

<strong>Ethik</strong> gegenwärtig noch durch weitere Gegenstände angereichert<br />

wird.<br />

708 Zitiert nach: Oexle, Stand, Klasse I–VI, 187.<br />

709 Vgl. dazu: Schwarz, Martin Luther, 153–162.407–430.<br />

710 Conze, Stand, Klasse VII, 201 f.<br />

711 Schwarz, Martin Luther, 156.


284<br />

3. Themenfelder der (evangelisch-theologischen) <strong>Ethik</strong><br />

Die Langfrist-Wirkung der »klassischen« Themenbestände wird an den Entwürfen<br />

von Rendtorff und Herms besonders deutlich:<br />

– Mit dem Themenfeld Ehe und Familie nimmt Rendtorff einen Teil der<br />

älteren Monastik auf; mit den Themen Politik sowie Arbeit und Wirtschaft werden<br />

die Politik und die Ökonomik (ebenfalls nur zum Teil) aus der aristotelisch geprägten<br />

Tradition aufgenommen, und Rendtorffs Thematisierung der Religion steht<br />

in der Tradition der ecclesia aus der Ständelehre (vgl. 2.6.7).<br />

– Herms’ Unterscheidung des ökonomischen Systems, des politischen Systems<br />

sowie des Leistungsbereichs weltanschaulich-religiöser Kommunikation knüpft<br />

erkennbar an die Drei-Stände-Lehre an (vgl. 2.6.8).<br />

2. Was die (vielfach geläufige) Unterscheidung von Individual- und Sozialethik<br />

angeht, 712 ist es wichtig, darüber Klarheit herzustellen, was sie<br />

sagen will und leisten kann. Dies soll hier zunächst durch drei Bemerkungen<br />

geschehen (a–c), aus denen dann eine gliederungsterminologische<br />

Konsequenz abgeleitet wird (d). Den Abschluss bildet ein Hinweis,<br />

der bereits auf 3.1 vorausweist (e).<br />

(a) An erster Stelle ist darauf hinzuweisen, dass es eine Individualethik<br />

im strengen Sinn des Begriffs nicht geben kann. Denn ethisches<br />

Nachdenken, so sehr es auch auf den Einzelnen gerichtet sein mag, ist<br />

immer eine Reflexion, die die jeweiligen sozialen (also die interpersonalen<br />

und strukturellen) Kontexte mitberücksichtigt: »einzelne Personen<br />

existieren nur in einer gemeinsamen Welt, die sie mit anderen teilen.<br />

[…] Sie können also nur interagieren« 713 . Eine »<strong>Ethik</strong>« für die Situation<br />

von Robinson Crusoe in seiner außer-sozialen Phase, also nach dem<br />

Schiffbruch und vor seiner Begegnung mit Freitag, könnte vielleicht<br />

geschrieben werden; aber sie wäre für den potentiellen Leser eine große<br />

Enttäuschung, weil sie auf die transindividuelle Dimension, durch die<br />

ja moralische Fragen überhaupt erst akut werden, verzichten müsste.<br />

Gemessen am strengen Sinn des Begriffs der Individualethik gilt also in<br />

der Tat: <strong>Ethik</strong> ist »in concreto immer Sozialethik«. 714<br />

712 Der Versuch von Arthur Rich (1910–1992), die Unterscheidung von Individualund<br />

Sozialethik mit Rekurs auf die Grundbeziehungen im menschlichen Dasein so<br />

zu erweitern, dass die traditionelle Individualethik in Individual-, Personal- und<br />

Umweltethik gesplittet und neben die Sozialethik gestellt wird, hat kaum Nachfolger<br />

gefunden (vgl. Rich, Wirtschaftsethik, Band 1, 56–67).<br />

713 Herms, Vorwort, XII.<br />

714 Ebd.


3.0 Vorbemerkungen 285<br />

In seiner Tugendethik hat Otto Friedrich Bollnow (1903–1991) angedeutet, es<br />

könne Tugenden geben, »die der einzelne Mensch auch für sich allein haben kann<br />

(wie Fleiß und Genügsamkeit)«. Dagegen könne sich beispielsweise die Tugend der<br />

Gerechtigkeit »nur im Medium menschlicher Gemeinschaft entwickeln«. – »Robinson<br />

etwa auf seiner einsamen Insel hätte gar keine Gelegenheit gehabt, gerecht zu<br />

sein.« 715 Bollnow sagt zwar nicht ausdrücklich, dass Robinson Tugenden wie<br />

Fleiß und Genügsamkeit hätte kultivieren können, seine Ausführungen legen aber<br />

nahe, dass er dies denkt. Dagegen wäre allerdings einzuwenden, dass jedenfalls für<br />

den klassischen (aristotelischen) Tugendbegriff gilt, dass er auf die Anerkennungswürdigkeit<br />

einer handlungsbestimmenden Disposition im jeweiligen gesellschaftlichen<br />

Kontext abstellt und von daher ohne eine sozialethische Dimension nicht<br />

auskommt.<br />

(b) Zugleich aber kann man sagen, dass Individualethik nicht zwingend<br />

so verstanden werden muss, dass dabei transindividuelle Belange vollständig<br />

ausgeblendet bleiben. Man kann den Begriff der Individualethik<br />

nämlich auch auf die Reflexion solcher Interaktionen beziehen, die primär<br />

durch das Handeln (sowie die dahinterstehenden handlungsleitenden<br />

Gründe) individueller Akteure in interpersonalen Kontexten be -<br />

stimmt werden.<br />

Von Sozialethik wäre dagegen dann zu sprechen, wenn es um<br />

menschliches Handeln geht, sofern es sich primär in Orientierung an<br />

strukturellen Kontexten vollzieht. Anders formuliert: Die Sozialethik hat<br />

es »spezifisch mit demjenigen Verantwortungsaspekt zu tun, der sich<br />

daraus ergibt, daß die Grundbeziehungen, in denen jeder Mensch un -<br />

mittelbar steht, immer auch vermittelt sind durch die Struktur der<br />

gesellschaftlichen Institutionen, innerhalb derer sie sich konkret ausbilden«<br />

716 .<br />

So kann man, um auf einige der im vorliegenden Lehrbuch behandelten<br />

Themen zu blicken, davon ausgehen, dass normalerweise die<br />

Gestaltung der eigenen Biographie zu einem nicht unerheblichen Teil<br />

der Kompetenz des Einzelnen im Rahmen seiner interpersonalen Bezüge<br />

unterliegt – ungeachtet dessen, dass der Beginn des menschlichen<br />

Lebens dem Individuum gar nicht verfügbar ist und es das Ende seines<br />

Lebens nur bedingt in der Hand hat (vgl. 3.2.4; 3.2.6). Fragen von Liebe<br />

und Sexualität sowie von Partnerschaft und Ehe (vgl. 3.2.5) gelten in<br />

besonderer Weise als Handlungsbereiche, die der individuellen Selbst-<br />

715 Bollnow, Wesen und Wandel der Tugenden, 186.<br />

716 Rich, Wirtschaftsethik, Band 1, 65.


286<br />

3. Themenfelder der (evangelisch-theologischen) <strong>Ethik</strong><br />

bestimmung unterliegen, wobei die hier gemeinte Selbstbestimmung<br />

eine besonders ausgeprägt interpersonale Dimension hat. Auch der<br />

Umgang mit Alter und Krankheit (vgl. 3.2.6) ist zunächst einmal ein<br />

Handlungsfeld, in dem es auf die einzelnen Akteure in ihren interpersonalen<br />

Kontexten ankommt; dies gilt ebenso vom Umgang mit unserer<br />

Sprache, sofern damit die Frage der Wahrhaftigkeit unseres Redens<br />

gemeint ist (vgl. 3.2.7). Weiterhin sind die moralrelevanten Fragen, die<br />

unseren Umgang mit der natürlichen und unserer künstlichen (technischen)<br />

Umwelt betreffen, wesentlich auch ein Gegenstand individueller<br />

Entscheidungen in der Interaktion mit anderen Menschen (vgl.<br />

3.2.8).<br />

(c) Die damit verbundene »Rettung« des Begriffs der Individualethik<br />

ist allerdings durch einen Verlust an Trennschärfe erkauft. Denn bei<br />

genauerem Hinsehen erweist sich schnell, dass die gerade als individualethisch<br />

ausgewiesenen Themenfelder in etlichen Fällen auch so be -<br />

handelt werden können, dass die jeweils möglichen individuellen Handlungsoptionen,<br />

ungeachtet ihrer Verwurzelung in interpersonalen<br />

Kontexten, immer schon in bestimmte soziale Strukturen eingebettet,<br />

in-sofern in gewisser Weise durch sie vorgegeben und daher an diesen<br />

Strukturen mindestens ebenso stark orientiert sind wie an unseren individuellen<br />

Entscheidungen. So sind, um hier nur ein Beispiel zu nennen,<br />

die möglichen Optionen im Umgang mit Krankheit und Alter in unserer<br />

gegenwärtigen Gesellschaft wesentlich auch (vielleicht sogar vorrangig)<br />

durch die auf politischen Entscheidungen beruhenden rechtlichen<br />

Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems und der sozialen Pflegeversicherung<br />

bestimmt. Anders formuliert: »In der modernen Gesellschaft<br />

[…] ist alles Handeln vergesellschaftet«. Und daher gilt: »Die drängenden<br />

Fragen heutiger <strong>Ethik</strong> sind sozialer Natur. Darum ist es längst<br />

nicht mehr zureichend, wenn sich die <strong>Ethik</strong> bzw. die praktische Philosophie<br />

mit Fragen der individuellen Lebensführung befasst.« 717 Insofern<br />

ist es durchaus plausibel,<br />

(1) wenn Martin Honecker (geb. 1934) auch diejenigen ethisch relevanten<br />

Fragen, die Leben und Gesundheit, Ehe, Familie und Sexualität<br />

sowie Natur und Umwelt betreffen, innerhalb seines umfangreichen<br />

»Grundriß der Sozialethik« behandelt 718 ;<br />

717 Körtner, Evangelische Sozialethik, 15.<br />

718 Vgl. Honecker, Grundriß der Sozialethik, 79–295.


3.0 Vorbemerkungen 287<br />

(2) wenn Eilert Herms (vgl. 2.6.8) zwar eine eigene »Individualethik«<br />

entwirft, die »Das Tun des Glaubens als Realisierung des bonum<br />

proprium« thematisiert, 719 dabei aber betont, dass dieses Eigen-Gut<br />

(bonum proprium) »nur innerhalb des bonum commune und durch<br />

Mitarbeit an seiner Realisierung erreicht werden« kann. 720<br />

Die Einsicht in die unhintergehbare Einbettung des menschlichen Handelns in solche<br />

sozialen Kontexte, die die interpersonale Dimension transzendieren, war es<br />

übrigens auch, die 1868 zur Entstehung des Begriffs der Sozialethik geführt hat, der<br />

von dem lutherischen Theologen Alexander von Oettingen eingeführt wurde.<br />

Von Oettingen ging davon aus, dass die Frage nach dem sittlichen Handeln des<br />

Individuums erst dann sachgerecht beantwortet werden kann, wenn man es »in seiner<br />

gliedlichen Beziehung zur Gesamtheit erfasst« 721 ; diese Erfassung aber müsse<br />

im Rahmen einer »Socialethik« geleistet werden, in der die empirische Moralstatistik<br />

eine wichtige Rolle spielt (von der durch Franz Hermann Reinhold von<br />

Frank artikulierten Gegenposition war in 2.6.2 bereits die Rede). Insgesamt hat sich<br />

die Sozialethik in der protestantischen Tradition nicht ganz leicht durchgesetzt;<br />

von den mit der Etablierung der sozialethischen Fragestellung verbundenen Problemen<br />

legt noch die von Georg Wünsch (1887–1964) 1927 formulierte Kritik an<br />

der »<strong>Ethik</strong>« Wilhelm Herrmanns Zeugnis ab. 722<br />

(d) Aus den vorstehenden Hinweisen ergibt sich – als vierte und letzte<br />

hier zu formulierende Feststellung – eine Folgerung. Im vorliegenden<br />

Lehrbuch wird gliederungsterminologisch auf die Unterscheidung von<br />

Individual- und Sozialethik verzichtet. 723 Damit wird den in den Punkten<br />

a bis c angesprochenen Bedenken Rechnung getragen, die darauf<br />

hinauslaufen, dass von Individualethik nur (noch) im übertragenen<br />

Sinne die Rede sein kann. Unterschieden werden deshalb nicht Individual-<br />

und Sozialethik, sondern (terminologisch nicht weiter spezifiziert)<br />

verschiedene materiale Themenfelder der <strong>Ethik</strong>. Sofern freilich<br />

unter der Überschrift »Materiale Themenfelder der <strong>Ethik</strong> II« sowohl<br />

Wirtschaft (»Materiale Themenfelder der <strong>Ethik</strong> II/1«) als auch Politik<br />

(»Materiale Themenfelder der <strong>Ethik</strong> II/2«) zur Sprache kommen, werden<br />

diese »Klassiker« der Sozialethik (im engeren Sinne) doch noch einmal<br />

719 Vgl. Herms, Systematische Theologie, 3095–3408 [3. Teilband]: §§ 97–100.<br />

720 Herms, Systematische Theologie, 3093 [3. Teilband]: § 96; 4. 3.<br />

721 von Oettingen, Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre, 28.<br />

722 Vgl. Wünsch, Evangelische Wirtschaftsethik, 11 f.<br />

723 So verfährt auch Klaas Huizing in den bereichsethischen Abschnitten seines Entwurfs<br />

(vgl. Huizing, Scham und Ehre, 134–448).


288<br />

3. Themenfelder der (evangelisch-theologischen) <strong>Ethik</strong><br />

abgegrenzt von den unter der Überschrift »Materiale Themenfelder der<br />

<strong>Ethik</strong> I« verhandelten Problembereichen, die in höherem Maße als Wirtschaft<br />

und Politik eine individualethische Dimension aufweisen, aber<br />

dennoch hinreichend nur unter Berücksichtigung der jeweils relevanten<br />

politischen, rechtlichen und gesellschaftskulturellen Vorgegebenheiten<br />

und Rahmenbedingungen erörtert werden können.<br />

(e) Ungeachtet der gerade formulierten Feststellung, nach der von<br />

Individualethik nur (noch) im übertragenen Sinne die Rede sein kann,<br />

wird daran festgehalten, dass als Thema der <strong>Ethik</strong> das (von bestimmten<br />

Werthaltungen getragene) menschliche Handeln gilt (vgl. 1.1.1). Von<br />

menschlichem Handeln gilt grundsätzlich zweierlei: Es wird einerseits<br />

unvermeidbar von einzelnen Menschen (Individuen) vollzogen, und<br />

insofern kommt keine moraltheoretische Reflexion ohne »individualethischen<br />

Anteil« aus; es vollzieht sich andererseits stets in interpersonalen<br />

und strukturellen Kontexten, und insofern ist der unvermeidbare<br />

»individualethische Anteil« unterschiedlich groß bzw. klein. – Diese<br />

Doppel-Feststellung ist in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Zum<br />

ersten: In 3.1 wird die Rechtfertigungslehre als Grundlage der evangelischen<br />

<strong>Ethik</strong> geltend gemacht. Allerdings ist die Rechtfertigungskategorie<br />

primär und substanziell auf den (Glauben des) Einzelnen bezogen.<br />

Dass sie hier dennoch auch für die Grundlegung einer evangelischen<br />

Sozialethik in Anschlag gebracht wird, soll mit dem Hinweis auf die<br />

Unvermeidbarkeit des »individualethischen Anteils« plausibel gemacht<br />

werden. Zum zweiten: In bestimmten sozialen Kontexten steht eine<br />

normativ-ethische Betrachtung des persönlichen Verhaltens der Akteure<br />

vor besonderen Schwierigkeiten; in 3.3.5 wird dieses Problem explizit<br />

formuliert. Bereits Georg Wünsch hatte es als Besonderheit des sozialethischen<br />

Verhältnisses von Personen bezeichnet, dass diese »unter<br />

einem übergreifenden sachlichen Dritten im Verhältnis stehen. […] Die<br />

Sozialethik hat es also mit dem Verhältnis des Ich zu einem objektiven<br />

Wert, der als dritte Größe das Ich mit einem Du oder mehreren Du vereinen<br />

kann, zu tun.« 724 Die in interpersonalen Zusammenhängen zu -<br />

meist effektiven moralischen Werthaltungen können also aufgrund<br />

jener »dritte[n] Größe« ihre »Durchschlagskraft« verlieren. Diesem Sachverhalt<br />

versucht der Hinweis auf die unterschiedliche Quantität »individualethischen<br />

Anteils« gerecht zu werden.<br />

724 Wünsch, Evangelische Wirtschaftsethik, 13.


3.0 Vorbemerkungen 289<br />

3. Klärungsbedürftig ist auch das Verhältnis zwischen der sog. allgemeinen<br />

<strong>Ethik</strong> und der als spezielle oder materiale <strong>Ethik</strong> bezeichneten<br />

Behandlung der unterschiedlichen Themenfelder. Grundsätzlich gilt:<br />

Die allgemeine <strong>Ethik</strong> ist (ebenso wie die materiale) ein gemeinsamer<br />

Gegenstand von philosophischer und theologischer Moralreflexion (vgl.<br />

erneut die Übersicht in 1.3.3c), auch wenn theologisch-ethische Entwürfe<br />

an dieser Stelle zumeist weniger ausführlich sind. Unter der Überschrift<br />

»Allgemeine <strong>Ethik</strong>« finden sich in der praktischen Philosophie<br />

gewöhnlich moraltheoretische Überlegungen, in denen – neben der Klärung<br />

der Frage, was <strong>Ethik</strong> überhaupt ist 725 (vgl. in diesem Lehrbuch<br />

1.1) – maßgebliche Haupttypen der <strong>Ethik</strong> dargestellt werden 726 (dies ist<br />

hier im Rahmen des zweiten Hauptteils erfolgt). Vielfach werden dabei<br />

auch Fragestellungen der sog. Metaethik thematisiert 727 (vgl. dazu den<br />

Metaethik-Exkurs in 1.1.1). Schließlich kommen Themen zur Sprache,<br />

die in der vorliegenden Darstellung dem ersten Hauptteil der materialen<br />

Themenfelder zugeschlagen werden. Dies gilt für die handlungstheoretische<br />

Frage nach der Freiheitlichkeit unseres Handelns 728 (vgl. 3.2.1);<br />

dies gilt auch für die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Person,<br />

729 deren Entscheidung von Bedeutung dafür ist, was unter der<br />

Würde des Menschen verstanden werden und ab und bis wann ein<br />

Anspruch auf die Gewährung bestimmter Rechte besteht, die aus der<br />

Würde des Menschen abgeleitet werden (vgl. 3.2.2; 3.2.4); dies gilt<br />

schließlich für die Frage nach der moralischen Bedeutung und Reichweite<br />

des menschlichen Gewissens 730 (vgl. 3.2.3). – Dieses Lehrbuch bietet<br />

also kein eigenständiges Kapitel zur sog. allgemeinen <strong>Ethik</strong>, sondern<br />

es verhandelt einige der damit assoziierten Gegenstände an verschiedenen<br />

Orten.<br />

4. Schließlich ist auf den oft begegnenden Begriff der angewandten<br />

<strong>Ethik</strong> einzugehen. Dessen Klärung ist an dieser Stelle schon deshalb<br />

nicht ganz einfach, weil er innerhalb der praktischen Philosophie unterschiedlich<br />

profiliert wird. So kann angewandte <strong>Ethik</strong> einerseits (1) »als<br />

725 Vgl. Quante, Einführung in die allgemeine <strong>Ethik</strong>, 9–23.<br />

726 Vgl. a. a. O., 126–142.<br />

727 Vgl. a. a. O., 24–125.<br />

728 Vgl. a. a. O., 165–180.<br />

729 Vgl. Ricken, Allgemeine <strong>Ethik</strong>, 178–188.<br />

730 Vgl. a. a. O., 275–285.


290<br />

3. Themenfelder der (evangelisch-theologischen) <strong>Ethik</strong><br />

Oberbegriff für die Vielzahl sogenannter ›Bereichsethiken‹ (manchmal<br />

auch ›Bindestrich-<strong>Ethik</strong>en‹ genannt)« angesehen werden. 731 Dieses Verständnis<br />

ist vor allem deshalb problematisch, weil dadurch signalisiert<br />

wird, es ginge lediglich um eine Applikation von in der allgemeinen<br />

<strong>Ethik</strong> abstrakt geklärten Fragen auf die Mannigfaltigkeit konkreter<br />

lebensweltlicher Probleme. Faktisch ist dies aber nicht der Fall. Denn<br />

einerseits werden vielfach allgemein-ethische Grundsätze schon am Ort<br />

ihrer Explikation durch Hinweise auf konkrete Fälle plausibilisiert (vgl.<br />

etwa das in Teil 2, Anm. 486 nachgewiesene Zitat von Immanuel Kant);<br />

andererseits ist zum Verständnis angewandt-ethischer Beiträge oftmals<br />

die Einbeziehung abstrakter ethischer Konzepte und Überlegungen<br />

erforderlich (vgl. etwa den Hinweis auf den deontologischen oder utilitaristischen<br />

Hintergrund der unterschiedlichen Positionen zum absoluten<br />

Folterverbot in 3.2.2c). – Damit verschwimmt die in diesem Verständnis<br />

von angewandter <strong>Ethik</strong> behauptete Grenze zur allgemeinen<br />

<strong>Ethik</strong>. Denn beide <strong>Ethik</strong>-Formen behandeln abstrakte Fragen und konkrete<br />

Probleme; der Unterschied ist lediglich der, dass für die angewandte<br />

<strong>Ethik</strong> »der Rückgang auf die theoretische Ebene ein Mittel zur Lösung<br />

der Anwendungsprobleme ist«, während für die allgemeine <strong>Ethik</strong> »die<br />

Anwendungsbeispiele ein Mittel zur Illustration der theoretischen<br />

Überlegungen bilden« 732 . Eingedenk des skizzierten Einwands kann<br />

angewandte <strong>Ethik</strong> andererseits (2) auch als ein Versuch bezeichnet werden,<br />

»Menschen dabei zu helfen, sich in bestimmten Situationen moralisch<br />

richtig zu verhalten, in denen Unklarheit oder Unsicherheit darüber<br />

herrscht, was in dieser Situation moralisch richtig wäre.« 733 Die<br />

Behandlung materialer Themenfelder der <strong>Ethik</strong> kann also insofern auch<br />

als angewandte <strong>Ethik</strong> verstanden werden, als es um eine Handlungsorientierung<br />

angesichts moralrelevanter Probleme geht. Mit diesem<br />

Begriff von angewandter <strong>Ethik</strong> verbindet sich ebenfalls das bereits in der<br />

Verständnis-Variante (1) leitende normative Interesse, wie es auch in<br />

diesem Lehrbuch verfolgt wird (vgl. 1.1.1 sowie die Präzisierung des Normativitätsbegriffs<br />

in 3.1.3). Allerdings wird die mit dem Verständnis (1)<br />

verbundene Schwierigkeit vermieden, dass angewandte <strong>Ethik</strong> lediglich<br />

als Applikation abstrakter Grundsätze auf konkrete Problemlagen<br />

erscheint. (3) Eine weitere Möglichkeit, die Spezifik der angewandten<br />

731 Stoecker/Neuhäuser/Raters, Einleitung, 3.<br />

732 A. a. O., 5.


3.1 Die rechtfertigungslehre als Grundlage 291<br />

<strong>Ethik</strong> zu erfassen, ergibt sich aus dem Hinweis, dass die in ihr behandelten<br />

Themen und Fragestellungen regelmäßig »Gegenstand öffentlicher<br />

Debatten sind«. 734 Auseinandersetzungen über diese Themen und Fragestellungen<br />

finden daher statt vor dem komplexen Hintergrund<br />

unterschiedlichster »gesellschaftlich vorhandener Überzeugungen, Einstellungen<br />

und Orientierungen«. Gegenüber den rein wissenschaftsinternen<br />

Fachdiskursen zu den eher abstrakten Fragen der allgemeinen<br />

<strong>Ethik</strong> liegt hierin eine »spezifische methodologische Herausforderung«<br />

735 . – Diesem mit Recht geltend gemachten Aspekt wird das vorliegende<br />

Lehrbuch dadurch Rechnung tragen, dass bei der Behandlung der<br />

einzelnen Themen (insbesondere ab 3.2.4) gelegentlich auf aktuelle<br />

gesellschaftliche Debatten verwiesen wird.<br />

3.1 Die Rechtfertigungslehre als<br />

Grundlage der evangelischen <strong>Ethik</strong><br />

In diesem Abschnitt ist diejenige Auffassung vom menschlichen Leben<br />

und Handeln zu explizieren, die für die Behandlung der materialen Themenfelder<br />

der <strong>Ethik</strong> (ab 3.2) leitend sein wird (vgl. 1.3.3c). Diese Explikation<br />

knüpft an die in 1.3.2 aufgezeigten Probleme bezüglich einer biblischen<br />

Begründung der christlichen <strong>Ethik</strong> an; und sie erfolgt im An -<br />

schluss an die rechtfertigungstheologisch fundierte <strong>Ethik</strong> Martin<br />

Luthers. 736 Um diese Rückbindung an eine theologische Theorie aus<br />

dem 16. Jahrhundert plausibel zu machen, wird ein Brückenschlag von<br />

der Gegenwart zu Luther versucht. Dies geschieht so, dass zunächst<br />

zwei im historischen Kontext der Reformation explizit gar nicht begegnende<br />

Begriffe eingeführt und erläutert werden, die als geeignete »Kandidaten«<br />

für die Charakterisierung des in der <strong>Ethik</strong> zu reflektierenden<br />

menschlichen Handelns ausgewiesen werden sollen; es handelt sich<br />

um die Begriffe der Nicht-Perfektibilität und des Endlichkeitsmanage-<br />

733 A. a. O., 4.<br />

734 Fischer, Theologische <strong>Ethik</strong>, 234.<br />

735 A. a. O., 236; vgl. auch den ganzen Zusammenhang a. a. O., 232–239.<br />

736 Eine (vom hier vorgelegten Versuch allerdings sehr verschiedene) rechtfertigungstheologische<br />

Fundierung der <strong>Ethik</strong> findet sich bei Körtner, Evangelische Sozialethik,<br />

125–149.


292<br />

3. Themenfelder der (evangelisch-theologischen) <strong>Ethik</strong><br />

ments (3.1.1). Daran anschließend ist (auch im Rückblick auf 2.3.1) zu<br />

zeigen, dass mit diesen Begriffen die Pointe der Lutherschen <strong>Ethik</strong> sachgerecht<br />

erfasst werden kann (3.1.2). Was aus dem über Nicht-Perfektibilität<br />

und Endlichkeitsmanagement argumentierenden Rückgriff<br />

auf Luther für die Behandlung der ethischen Themenfelder folgt,<br />

wird schließlich durch den – ebenfalls nicht der reformatorischen Tradition<br />

entstammenden – Be griff der provisorischen Moral verdeutlicht<br />

(3.1.3).<br />

3.1.1 Nicht-Perfektibilität<br />

und Endlichkeitsmanagement<br />

(a Allgemeine Hinweise) Alles menschliche Handeln, ob im Horizont<br />

religiöser Überzeugungen vollzogen oder in weltanschaulicher Indifferenz<br />

verwurzelt, steht unter einer unhintergehbaren Voraussetzung: Es<br />

ist Handeln aus endlicher Freiheit. Diese Feststellung impliziert zweierlei.<br />

(1) Menschliches Handeln ist Handeln aus endlicher Freiheit. Das<br />

bedeutet (in einer in 3.2.1 zu präzisierenden Weise), dass dem Menschen<br />

diejenigen Handlungen, die als von ihm willentlich hervorgebracht gelten,<br />

auch zugerechnet werden. Diese Zurechenbarkeit impliziert die<br />

Moralitätsfähigkeit des Menschen und damit seine Kompetenz, sich<br />

rückblickend rechtfertigend oder selbstkritisch zu seinen Handlungen<br />

zu verhalten und zu äußern. Dieselbe Zurechenbarkeit impliziert aber<br />

auch die menschliche Befähigung dazu, sich im Vorfeld einer Handlung<br />

unter den regelmäßig zahlreichen Optionen aus wohlerwogenen Gründen<br />

für die eine Möglichkeit zu entscheiden, die dann durch den Handlungsvollzug<br />

in die Realität überführt werden soll. Dass die Gründe<br />

»wohlerwogen« sind, heißt konkret, dass der Mensch aufgrund einer<br />

selbstbestimmten (autonom getroffenen) Entscheidung so handelt, wie<br />

er handelt. – Das dabei vorausgesetzte Verständnis von Autonomie, das<br />

nicht nur auf Einzelhandlungen, sondern auch auf das Leben im ganzen<br />

anwendbar ist, lässt sich folgendermaßen präzisieren: »Wir gehen [scil.<br />

jedenfalls in liberal-demokratischen Gesellschaften] davon aus, das<br />

Recht zu haben, autonome Entscheidungen zu treffen und gemäß unseren<br />

eigenen Werten und Grundsätzen leben zu können, überdies<br />

davon, dass wir über die Fähigkeiten verfügen, ein solches Leben zu<br />

leben.« 737


3.1 Die rechtfertigungslehre als Grundlage 293<br />

(2) Menschliches Handeln ist Handeln aus endlicher Freiheit. Dies<br />

bedeutet, dass der Mensch (auch) in seinen den Handlungsvollzug<br />

strukturierenden Erwägungen den Bedingungen seiner Endlichkeit<br />

unterliegt. Damit ist hier nicht primär gemeint, dass allen Menschen<br />

nur eine begrenzte (also keine un-endliche) Lebensdauer beschieden ist.<br />

Vielmehr zielt der Endlichkeitshinweis auf einen doppelten Sachverhalt,<br />

der die selbstbestimmten Entscheidungen betrifft. Erstens steht dem<br />

Menschen in den meisten Entscheidungssituationen nur ein Teil der<br />

möglichen Handlungsoptionen vor Augen; und selbst im Blick auf die<br />

ihm vor Augen stehenden Möglichkeiten gilt, dass er die jeweils denkbaren<br />

Folgen in den wenigsten Fällen zuverlässig vorauskalkulieren<br />

kann – lebensweltlich ist die Differenz zwischen Handlungsintention<br />

und -resultat ein durchaus bekanntes Phänomen. Zweitens ist die<br />

menschliche Selbstbestimmung, die den handlungsrelevanten Entscheidungen<br />

zugrunde liegt, niemals unbeeinflusst von erziehungsbedingten<br />

Präferenzen und gesellschaftskulturellen Gepflogenheiten,<br />

wobei letztere als heteronom erlebt werden oder verinnerlicht sein können.<br />

Das Selbst unserer Selbstbestimmung ist also immer schon ein vielfach<br />

bestimmtes Selbst. 738<br />

(b Nicht-Perfektibilität) Es hat sich gezeigt: Freies und selbstbestimmtes<br />

menschliches Handeln steht insofern unter den Bedingungen der Endlichkeit,<br />

als den Akteuren weder die Handlungsmotive noch die Handlungsfolgen<br />

vollkommen verfügbar sind. Damit wird der Gedanke der<br />

Autonomie nicht obsolet, im Gegenteil: »Erfahrungen von Unfreiheit<br />

sind […] immer schon Erfahrungen innerhalb eines Rahmens von möglicher<br />

Freiheit.« 739 – Allerdings gilt auch das Umgekehrte: Sagt »das Freiheitsgefühl<br />

eine aus uns herausgehende Selbstthätigkeit aus: so muß<br />

diese einen Gegenstand haben der uns irgendwie gegeben worden ist,<br />

welches aber nicht hat geschehen können ohne eine Einwirkung desselben<br />

auf unsere Empfänglichkeit, in jedem solchen Falle ist daher ein zu<br />

dem Freiheitsgefühl gehöriges Abhängigkeitsgefühl mit gesezt, und<br />

also jenes durch dieses begrenzt.« 740<br />

737 Rössler, Autonomie, 368.<br />

738 Vgl. dazu: Sievers, Bestimmtes Selbst.<br />

739 Rössler, Autonomie, 369.<br />

740 Schleiermacher, Der christliche Glaube, § 4,3 (Kritische Gesamtausgabe I/13,1,<br />

37,19–24).


294<br />

3. Themenfelder der (evangelisch-theologischen) <strong>Ethik</strong><br />

Dass den Akteuren endlichkeitsbedingt weder die Voraussetzungen<br />

und Motive noch die Folgen ihres Handelns vollkommen verfügbar sein<br />

können, ist einer der Gründe dafür, dass die Perfektionierung der<br />

menschlichen Moralität nicht nur ein unvollendetes, sondern sogar ein<br />

dezidiert unvollendbares »Projekt« darstellt. 741 Perfekte Moralität mag<br />

im Blick auf einzelne Situationen nicht ausgeschlossen sein; dass Menschen<br />

– vereinfacht gesagt – aus den richtigen Gründen erfolgreich das<br />

Richtige tun, ist natürlich denkbar. Die Regel ist allerdings, dass Menschen<br />

– mit jeweils mehr oder weniger »Erfolg« – aus den richtigen<br />

Gründen das Falsche, aus den falschen Gründen das Richtige oder auch<br />

aus den falschen Gründen das Falsche tun. Anders (und bereits im Blick<br />

auf die rechtfertigungstheologische Begründung des Nicht-Perfektibilitäts-Grundsatzes)<br />

formuliert: Der Einsicht, »dass zur menschlichen<br />

Freiheit die Erfahrung gehört, an etwas schuld zu sein, kann man nicht<br />

ausweichen, denn zur Endlichkeit der menschlichen Freiheit gehört<br />

auch, dass ihr fehlerfreier Gebrauch keinem Menschen gelingt« 742 .<br />

Die damit im Faktum der menschlichen (und damit unvermeidbar<br />

endlichen) Freiheit verwurzelte Unfähigkeit zu moralischer Perfektion –<br />

einschließlich der Insuffizienz im Blick auf die Schaffung schlechthin<br />

idealer gesellschaftlicher Zustände – wird hier mit dem Begriff der<br />

Nicht-Perfektibilität auf den Punkt gebracht. Dieser Begriff knüpft an<br />

das Konzept der Perfektibilität an, dessen Hochkonjunktur in die Zeit<br />

nach 1750 fiel, also in eine historische Phase, in der jene »Bestrebungen<br />

zur Mündigkeit, Selbsttätigkeit und Selbstvervollkommnung« ge -<br />

schichtsmächtig wurden, »welche die Aufklärung zu ihrem entscheidenden<br />

Anliegen gemacht hatte«. 743<br />

Das deutsche Wort Perfektibilität ist angelehnt an das um 1750 in<br />

Frankreich entstandene Wort perfectibilité. Als deutsche Synonyme des<br />

Lehnwortes fungierten Vervollkommnungsfähigkeit und Vervollkommnung.<br />

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde damit zunächst<br />

das Faktum der Bildungs- und Entwicklungsfähigkeit des (einzelnen)<br />

Menschen zum Ausdruck gebracht. Allerdings wurde der Perfektibilitätsbegriff<br />

schnell ausgeweitet und »auf überindividuelle geschichtliche<br />

741 Die letzte Formulierung ist angelehnt an Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes<br />

Projekt.<br />

742 Huber, Glaubensfragen, 122.<br />

743 Hornig, Perfektibilität II, 241.


3.1 Die rechtfertigungslehre als Grundlage 295<br />

Phänomene wie Christentum, Kultur und Wissenschaft« bezogen. 744<br />

Noch vor 1800 war Perfektibilität zu einem umfassenden geschichtsphilosophischen<br />

und kulturgeschichtlichen Begriff geworden:<br />

»Der P. [scil. Perfektibilitäts]-Begriff wird zur Bezeichnung für einen ge -<br />

schichtlichen Prozeß, der Europa oder die ganze Menschheit umfassen soll<br />

und der als zunehmende Erleichterung der Lebensbedingungen und als Vervollkommnung<br />

der Kultur mit einer Zielgerichtetheit verläuft. Diese optimistische<br />

Prognose stellt nach Ansicht ihrer Vertreter keine bloße Hypothese dar,<br />

sondern wird als relativ gesicherte Geschichtserkenntnis betrachtet.« 745<br />

Der hier verwendete Begriff der Nicht-Perfektibilität macht grundsätzliche<br />

Vorbehalte geltend, was die mit dem Perfektibilitäts-Begriff verbundene<br />

Vorstellung einer moralischen Vervollkommnungsfähigkeit<br />

des Menschen und einer (dadurch ermöglichten) Perfektionierung von<br />

Kultur und Gesellschaft angeht. Denn, so die hier vertretene Grundüberzeugung:<br />

Unter den Bedingungen endlicher Freiheit kann menschlichmoralisches<br />

Handeln nicht mehr sein als Endlichkeitsmanagement.<br />

(c Endlichkeitsmanagement) Mit diesem Stichwort wird der oben schon<br />

verwendete Endlichkeits-Begriff erneut aufgenommen. Betont werden<br />

soll dabei insbesondere zweierlei:<br />

(1) Wenn die Vorstellung einer moralischen Vervollkommnungsfähigkeit<br />

des Menschen und einer (dadurch ermöglichten) Vervollkommnung<br />

von Kultur und Gesellschaft als illusorisch gelten muss, dann<br />

kann es nicht die Aufgabe der <strong>Ethik</strong> als der Reflexion von Moralität<br />

sein, perfektionistische Leitbilder als normative Orientierungsmarken<br />

menschlichen Handelns festzuschreiben. Hinzu kommt,<br />

(2) dass die ethische Reflexion menschlichen Handelns stets der Tatsache<br />

Rechnung tragen muss, dass seine realen Ergebnisse (endlichkeitsbedingt)<br />

regelmäßig mehr oder weniger von den dieses Handeln<br />

leitenden Absichten abweichen und sogar – ungeachtet der Intention,<br />

moralisch relevante Probleme zu lösen – nicht-intendierte Folgen haben<br />

können, die als (neue) moralische Probleme wahrgenommen werden.<br />

Was diese recht abstrakt formulierten Hinweise konkret bedeuten<br />

können, ist nachstehend im Blick auf medizinethische Fragen ein wenig<br />

zu verdeutlichen.<br />

744 A. a. O., 242.<br />

745 A. a. O., 243.


296<br />

3. Themenfelder der (evangelisch-theologischen) <strong>Ethik</strong><br />

(zu 1) »Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen,<br />

geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von<br />

Krankheit oder Gebrechen.« (»Health is a state of complete physical,<br />

mental and social well-being and not merely the absence of disease or<br />

infirmity.«). 746 Diese – tendenziell durchaus auf eine Vervollkommnung<br />

von Kultur und Gesellschaft gerichtete – Definition entstammt der Präambel<br />

der 1946 verabschiedeten und zwei Jahre später in Kraft getretenen<br />

Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die Formulierungen<br />

sind vielfach als utopistisch und wirklichkeitsfremd kritisiert<br />

worden. Und in der Tat: Würde man das ärztliche Handeln daran messen,<br />

ob der definierte Zustand erreicht wurde, müssten die entsprechenden<br />

Bemühungen selbst in medizintechnisch hoch entwickelten Staaten<br />

bis heute als weitgehend gescheitert betrachtet werden. Tatsächlich<br />

beschreibt der WHO-Gesundheitsbegriff allerdings lediglich ein »Gut,<br />

das Menschen erstreben, aber nie wirklich erlangen«, wobei der in der<br />

Definition vollzogenen »Integration der körperlichen, geistigen und so -<br />

zialen Gesundheit« eine wegweisende Bedeutung beigemessen wird. 747 –<br />

Faktisch ist ärztliches Handeln (im Sinne von Endlichkeitsmanagement)<br />

deshalb unvermeidbar und sinnvollerweise auf das Bestmögliche<br />

orientiert und nicht auf die Verwirklichung eines utopischen Ideals –<br />

auch wenn sich, gerade im Horizont einer säkularen Lebensorientierung,<br />

die Erwartungen an die Leistungskraft der Medizin gelegentlich<br />

an der Grenze zum religiösen Heilsverlangen bewegen. 748 »Gesundheit<br />

ist nicht die Abwesenheit von Störungen, Gesundheit ist die Kraft, mit<br />

ihnen zu leben.« Diese von dem Tübinger praktischen Theologen Dietrich<br />

Rössler (geb. 1927) stammende Formulierung bringt gegenüber<br />

der auf ein Ideal orientierten WHO-Definition ein lebensweltlich reales<br />

Gesundheitsverständnis zum Ausdruck. 749<br />

(zu 2) Die moderne medizinische Forschung hat in den letzten Jahrzehnten<br />

zahlreiche bio- und gentechnologische Möglichkeiten zur Verbesserung<br />

der physischen und mentalen Eigenschaften des Menschen<br />

746 Constitution of the World Health Organization, Präambel.<br />

747 Kickbusch, Der Gesundheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation, 275 f.<br />

Vgl. auch die »Ehrenrettung« der WHO-Definition durch Hans Blumenberg<br />

(Beschreibung des Menschen, 668. 690 im Gesamtzusammenhang 656–776).<br />

748 Vgl. dazu (aus katholischer Perspektive): Meyer, Medizin als Heilsversprechen.<br />

749 Rössler, Der Arzt zwischen Technik und Humanität, 63.


3.1 Die rechtfertigungslehre als Grundlage 297<br />

sowie zur Steigerung seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit<br />

ausgebaut und neu entwickelt. Schönheitschirurgie, pränatale Diagnostik,<br />

Doping im Sport, Einsatz von Methylphenidat (»Ritalin«) zur<br />

Erhöhung der Konzentrations- und Lernfähigkeit sind nur einige be -<br />

kannte Beispiele. Diese Entwicklung hat auch dazu geführt, dass das<br />

konventionelle – auf Therapie orientierte – medizinische Handeln er -<br />

gänzt wurde durch das sog. Enhancement, das auf Optimierung ausgerichtet<br />

ist. Während also das »primäre Ziel von Therapie« darin besteht,<br />

»die Ausprägung der funktional bedeutsamen Merkmale eines Individuums<br />

so zu beeinflussen, daß sie sich wieder im Normbereich be -<br />

wegen«, liegt eine Enhancement-Maßnahme dann vor, wenn die Ab -<br />

sicht einer Restitution des Normalzustandes »durch die Befolgung einer<br />

Optimierungsidee ersetzt wird« 750 . Sofern das die Enhancement-Maßnahmen<br />

leitende Interesse an Optimierung, Modifizierung und Ver -<br />

besserung von der Idee einer technologischen Transformation des<br />

Menschen geleitet ist, ist damit bereits der Schritt hin zum sog. Transhumanismus<br />

vollzogen. Diese primär im angelsächsischen Raum verortete<br />

Denkrichtung propagiert eine Weiterführung der menschlichen<br />

Evolution mit Hilfe der Technik. Darüber hinaus geht der Posthumanismus.<br />

Er zielt weniger auf eine Weiterführung und Perfektionierung,<br />

sondern eher auf eine Überwindung des Menschen; dieser wird »letztlich<br />

von einer artifiziellen Superintelligenz überholt und in seiner Rolle<br />

als Krone der Schöpfung abgelöst.« 751 – Das nachstehende Zitat verdeutlicht<br />

diesen Unterschied.<br />

»Mit der Unterscheidung zwischen trans- und posthumanen Lebensformen<br />

wird eine relevante Differenzierung eingeführt: Der transitorische Übergang<br />

zu einem ›höheren‹ Entwicklungsstadium, der gleichwohl noch zu einer Aktivität<br />

der humanen Lebensform zu zählen ist, wird damit vom Erreichen eines<br />

Entwicklungsstadiums unterschieden, das die menschliche Lebensform hinter<br />

sich gelassen hat.« 752<br />

Als wie realistisch die in Trans- und Posthumanismus propagierten<br />

Visionen gelten können, ist hier nicht zu diskutieren. Entscheidend ist<br />

750 Vgl. dazu: Hoffmann, Gibt es eine klare Abgrenzung von Therapie und Enhancement?,<br />

215.217. Zu dieser Abgrenzung kritisch: Synofzik, Psychopharmakologisches<br />

Enhancement.<br />

751 Loh, Trans- und Posthumanismus, 92.<br />

752 Heilinger, Anthropologie und <strong>Ethik</strong> des Enhancements, 109.


298<br />

3. Themenfelder der (evangelisch-theologischen) <strong>Ethik</strong><br />

lediglich, dass die Enhancement-Maßnahmen regelmäßig Effekte ha -<br />

ben, durch die neue moralisch relevante Fragen aufgeworfen werden. 753<br />

Hier ist exemplarisch zunächst auf die Überlegungen hinzuweisen,<br />

die der US-amerikanische Philosoph Michael J. Sandel (geb. 1953) in<br />

seiner bereits 2007 publizierten Schrift »The Case against Perfection« vorgetragen<br />

hat. Speziell im Blick auf genetische Optimierungen macht<br />

Sandel darauf aufmerksam, dass die versuchte Realisierung der »Vision<br />

einer menschlichen Freiheit, die von Gegebenem unbeeinträchtigt<br />

ist« 754 , zunächst eine »Explosion der Verantwortung für unser eigenes<br />

Schicksal« 755 bedeuten würde. Darüber hinaus würde der »Triumph der<br />

Absichtlichkeit über das Geschenktsein, der Dominanz über die Ehrfurcht,<br />

des Formens über das Betrachten« 756 auch tradierte soziale<br />

Gepflogenheiten und Praktiken unterminieren, etwa die »Offenheit für<br />

das Unerbetene im Falle der Elternschaft; […] Demut angesichts von Privilegien<br />

und eine Bereitschaft, die Früchte guten Gelingens durch Institutionen<br />

sozialer Solidarität zu teilen« 757 . Schließlich könnte die biotechnische<br />

Perfektionierung unserer Nachkommen auch als »die tiefste<br />

Form der Entmachtung« 758 verstanden werden.<br />

Als ein weiteres – deutlich aktuelleres – Beispiel können die Reaktionen<br />

auf das Bekanntwerden einer bestimmten Anwendung der CRISPR-<br />

Cas-9-Methode gelten; diese Methode dient der Genomeditierung, also<br />

der gezielten Veränderung der DNA. Am 25. November 2018 hat der chinesische<br />

Biophysiker He Jiankui (geb. 1984) bekanntgegeben, dass er<br />

mittels dieser Methode gentechnisch veränderte menschliche Embryonen<br />

Frauen eingesetzt hat, was in einem Fall zur Geburt der Zwillinge<br />

Lulu und Nana geführt hat. Hinzu kommt, dass es dabei nicht um die<br />

Beseitigung eines genetischen Defekts ging, sondern um die Ausstattung<br />

der Kinder mit einem genetischen Vorteil: der Resistenz gegenüber<br />

einer HIV-Infektion; es handelt sich also um eine Enhancement-Maßnahme.<br />

Die französische Mikrobiologin, Genetikerin und Biochemikerin<br />

Emmanuelle Marie Charpentier (geb. 1968), die die auch als<br />

753 Vgl. Heilinger, Anthropologie und <strong>Ethik</strong> des Enhancements, sowie die Beiträge in:<br />

Gordijn/Chadwick (Hg.), Medical Enhancement and Posthumanity.<br />

754 Sandel, Plädoyer gegen die Perfektion, 120.<br />

755 A. a. O., 111.<br />

756 A. a. O., 107.<br />

757 A. a. O., 117 f.<br />

758 A. a. O., 118.


3.1 Die rechtfertigungslehre als Grundlage 299<br />

»Gen-Schere« bezeichnete CRISPR/Cas9-Methode maßgeblich mitentwickelt<br />

hat, hat sich angesichts dieses Vorgangs »entschieden gegen die<br />

Verwendung von CRISPR-Cas-9-Gen-Editierung für menschliche Optimierung«<br />

ausgesprochen. 759<br />

Wie offensiv oder defensiv sich der Umgang mit Optimierungspraktiken<br />

konkret gestalten und wie eine ethische Positionierung in der<br />

Enhancement-Debatte auch beschaffen sein mag, faktisch wird sich<br />

stets zeigen, dass diese Maßnahmen niemals dazu führen, dass die<br />

dahinterstehende Perfektionsidee dergestalt Realität wird, dass ethische<br />

Debatten über zwar kontraintentionale, aber doch absehbare moralisch<br />

relevante Folgen obsolet wären. Vielmehr dürfte gelten: Je zahlreicher<br />

die entsprechenden Handlungsmöglichkeiten sind, desto mehr Endlichkeitsmanagement<br />

ist gefragt – in Gestalt des Nachdenkens über<br />

denkbare kontraintentionale Implikationen sowie absehbare individuelle<br />

und gesamtgesellschaftliche Folgekosten der unterschiedlichen<br />

Optionen. Und dieses Nachdenken ist naturgemäß eine Sache der <strong>Ethik</strong>.<br />

Die dabei anzustellenden Überlegungen müssen insbesondere darum<br />

bemüht sein, zu unterscheiden zwischen solchen Optimierungspraktiken,<br />

die von einem (der conditio humana nicht entsprechenden) Perfektibilitäts-<br />

bzw. Perfektionsideal geleitet sind, und solchen, für die dies<br />

nicht gilt; es ist ja durchaus möglich, ein Verständnis von Selbstoptimierung<br />

zu entwickeln, das der Endlichkeit menschlicher Freiheit Rechnung<br />

trägt; in diesem Fall kann gelten:<br />

»Gerade Selbstoptimierung schützt vor Selbstperfektionierung. […] Die Perfektionierten<br />

stehen auf einem imaginären Gipfel. Um sich und über sich nur<br />

Leere. Das Optimum allerdings ist nicht statisch und abstrakt, sondern<br />

bezieht sich auf konkrete lebensweltliche Ziele.« 760<br />

Die vorstehenden Überlegungen zu Nicht-Perfektibilität, Endlichkeitsmanagement<br />

und Optimierung, die zum Teil an einige bereits 2010 formulierte<br />

Bemerkungen anknüpfen, 761 sind in der zeitgenössischen<br />

evangelischen <strong>Ethik</strong> keinesfalls Allgemeingut. Wo sie zur Kenntnis ge -<br />

nommen wurden, hat man sie vielmehr – im Gegenteil – deutlich kriti-<br />

759 Zitiert nach: https://www.forschung-und-lehre.de/forschung/charpentier-aeus<br />

sert-sich-zu-gen-babys-rote-linie-ueberschritten-1251/ (Zugriff am 22. Juli 2019).<br />

760 Scheller, Sollen wir Menschen uns so akzeptieren, wie wir sind?<br />

761 Vgl. <strong>Leonhardt</strong>, Moralische Urteilsbildung in der evangelischen <strong>Ethik</strong>, 189–192.


300<br />

3. Themenfelder der (evangelisch-theologischen) <strong>Ethik</strong><br />

siert. So hat der Würzburger Theologe Klaas Huizing (geb. 1958) be -<br />

hauptet, mit der Betonung einer endlichkeitsbedingten Nicht-Perfektibilität<br />

des Menschen würde »hysterisch unterreflektiert medizinischer<br />

Technik unterschwellig« ein »Absolutheitswahn unterstellt«. 762 Überdies<br />

sei der Nicht-Perfektibilitäts-Grundsatz »im fragwürdigen Rekurs<br />

auf die lutherische Rechtfertigungslehre« 763 formuliert. – Ob die zuletzt<br />

zitierte Behauptung zutreffend ist, mag der Leser dieses Lehrbuchs nach<br />

der Lektüre von Abschnitt 3.1.2 entscheiden.<br />

3.1.2 Rückbezug auf Luthers Rechtfertigungslehre<br />

(a Allgemeine Hinweise ) »Unser Verhältnis zur Rechtfertigungslehre<br />

gleicht häufig dem Verhältnis zu einem Denkmal, vor dem wir ehrfürchtig<br />

stehen, ohne daß wir einen festen Zusammenhang zwischen<br />

unserem Leben und der Botschaft ausmachen können, die durch diese<br />

Lehre interpretiert wird.« 764 – Dieses Zitat verweist auf die Diskrepanz<br />

zwischen der unumstrittenen historischen Bedeutung des Themas<br />

Rechtfertigung und der offenkundigen Schwierigkeit, die Gegenwartsplausibilität<br />

dieser theologischen Lehre, ihre systematische Relevanz,<br />

aufzuzeigen. 765<br />

Hier ist nicht der Ort für eine kritische Bestandsaufnahme neuerer<br />

Aktualisierungsversuche des evangelischen Fundamentalartikels. Stattdessen<br />

soll versucht werden, die lutherische Rechtfertigungslehre als<br />

denjenigen Entdeckungszusammenhang zu erweisen, innerhalb dessen<br />

im Horizont des christlichen Glaubens evangelischer Provenienz die in<br />

3.1.1 erläuterten Begriffe der Nicht-Perfektibilität und des Endlichkeitsmanagements<br />

plausibel gemacht werden können. Dabei wird Luthers<br />

Rechtfertigungslehre als Kritik des Ideals menschlicher Vollkommenheit<br />

und seine Lehre von den guten Werken des Christen als eine Einübung<br />

ins Endlichkeitsmanagement interpretiert.<br />

(b Nicht-Perfektibilität und Endlichkeitsmanagement bei Luther) In der<br />

spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur, von der Luther ge prägt<br />

762 Huizing, Scham und Ehre, 264.<br />

763 A. a. O., 263.<br />

764 Beintker, Rechtfertigung in der neuzeitlichen Lebenswelt, 12.<br />

765 Vgl. dazu auch: Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung, 15–40.


3.1 Die rechtfertigungslehre als Grundlage 301<br />

war, spielte der christlich transformierte strebensethische Grundsatz<br />

eine zentrale Rolle, nach dem als das Ziel des menschlichen Lebens die<br />

Erlangung des vollkommenen Glücks bzw. der ewigen Seligkeit aufgefasst<br />

wurde, die in der nach diesem Leben erhofften Gottesschau bestehen<br />

würde. Die für die Erreichung dieses Ziels erforderliche moralische<br />

Vollkommenheit (konkret: die umfassende Konformität mit dem biblisch<br />

bezeugten Willen Gottes) konnte vom Menschen selbst nicht vollständig<br />

verwirklicht werden; er blieb deshalb im Blick auf die Erlangung<br />

seines Letztziels stets auf die (kirchlich verwaltete) göttliche Gnade<br />

angewiesen. – Ungeachtet dessen aber waren die Christen »durch die<br />

Gespanntheit auf die göttliche Vollkommenheit […] unter aktiven<br />

Handlungs- und Erkenntniszwang« 766 gesetzt.<br />

Die Hinweise in 2.3.1a haben gezeigt, dass es genau die beschriebene<br />

Konstellation war, durch die Luther in die Verzweiflung der Verwerfungsgewissheit<br />

geriet, statt seines Heils gewiss zu werden. Die Pointe<br />

seines (Neu-)Verständnisses des biblischen Begriffs der Gerechtigkeit<br />

Gottes bestand daher in einer Grundsatzkritik der überlieferten Vollkommenheitsvorstellung.<br />

Für die Erlangung der Heilsgewissheit entscheidend<br />

ist nurmehr das im Christusgeschehen verankerte Vertrauen<br />

darauf, dass der Mensch trotz seiner Unfähigkeit zur umfassenden<br />

Erfüllung der göttlichen Gebote kontrafaktisch als Gerechter betrachtet<br />

wird. – Es ist Luthers rechtfertigungstheologisch wesentliche nachdrückliche<br />

Hervorhebung der christenmenschlichen Unfähigkeit zur<br />

umfassenden Erfüllung der göttlichen Gebote, die Tendenz, »das natürliche<br />

Gefälle des Vollkommenheitsdiskurses zum ethischen Perfektionismus<br />

nachhaltig zu blockieren« 767 , die es nahelegt, den Grundsatz der<br />

menschlichen Nicht-Perfektibilität als kompatibel mit dem Denken des<br />

Reformators auszuweisen.<br />

Mit seiner Kritik des vorneuzeitlichen Perfectio-Gedankens hat<br />

Luther eine klare Unterscheidung zwischen dem Gottesverhältnis und<br />

der irdisch-moralischen Lebensführung des Menschen verbunden: Die<br />

vom Glauben getragene christliche Lebenspraxis ist nicht vom Streben<br />

nach Entsprechung zum göttlichen Vollkommenheitsideal überwölbt.<br />

Vielmehr gilt: Der Mensch ist von der (im Horizont des überlieferten<br />

Perfectio-Gedankens stets gegebenen) Notwendigkeit, dem göttlichen<br />

766 Koselleck, Fortschritt, 366.<br />

767 Moxter, Vollkommenheit II, 1201.


302<br />

3. Themenfelder der (evangelisch-theologischen) <strong>Ethik</strong><br />

Vollkommenheitsideal möglichst weitgehend gerecht zu werden, entlastet.<br />

Die angesichts dieser Entlastung empfundene Dankbarkeit führt<br />

dann dazu, dass als Adressat der christlichen Liebestätigkeit der Nächste<br />

in den Blick kommt. Damit verbunden ist Luthers Kritik an der traditionell<br />

üblichen Auszeichnung der monastischen Lebensform als Stand<br />

der Vollkommenheit. Er hat in der klösterlichen Existenz eine Flucht<br />

vor der Nächstenliebe erblickt, die noch dazu mit dem Anspruch verbunden<br />

war, dem Willen Gottes in überdurchschnittlicher Weise ge -<br />

recht zu werden. Dagegen bedeuten nach Luther, wie in 2.3.1b ge zeigt,<br />

die zwischen den Menschen bestehenden Unterschiede in den irdischen<br />

Lebensvollzügen keine Unterschiede in der Geltung vor Gott. Daraus<br />

folgt zweierlei:<br />

– Es kommt einerseits zu einer »Ausweitung der monastischen<br />

Radikalität und Innerlichkeit auf alle Glaubenden« 768 . Mit anderen<br />

Worten: Der Vollzug christlicher Nächstenliebe als das dem Willen Gottes<br />

entsprechende Handeln realisiert sich nicht außerhalb der allgemeinmenschlichen<br />

Handlungswelt; Nächstenliebe manifestiert sich<br />

vielmehr dezidiert innerweltlich. Damit hängt die von Luther vollzogene<br />

Verlegung der christlichen Liebestätigkeit in die Felder des sozialen<br />

Lebens aufs engste zusammen.<br />

– Mit dieser »Radikalisierung des laikalen Ethos in Richtung auf das<br />

monastische Ideal« 769 hat Luther andererseits stets die Einsicht verbunden,<br />

dass auch die innerweltliche Manifestation der christlichen<br />

Nächstenliebe nicht zu einer vollkommenen (sündenfreien) Gesamtsituation<br />

führen kann. Dies liegt letztlich daran, dass die guten Werke des<br />

Gerechtfertigten/Glaubenden nicht in der Weise vollkommen sind, dass<br />

sie dem göttlichen Maximal-Anspruch vollumfänglich gerecht werden<br />

könnten. Das heißt: Auch christliche Sittlichkeit kann der moralischen<br />

Ambivalenz nie entgehen. Sofern sie in einer Affirmation der menschlichen<br />

Nicht-Perfektibilität im Gottesverhältnis wurzelt, wird sie sich<br />

daher als Endlichkeitsmanagement manifestieren. Wie Luther »keine<br />

bestimmte geschichtliche Gestalt sozialen Lebens für verbindlich« er -<br />

klärte und sich dessen bewusst war, »daß nicht alles gelingt und nicht<br />

immer Idealzustände herrschen« 770 , so wird sich das Handeln im Hori-<br />

768 Stegmann, Luthers Auffassung vom christlichen Leben, 506.<br />

769 A. a. O., 347.<br />

770 A. a. O., 384.


3.1 Die rechtfertigungslehre als Grundlage 303<br />

zont des christlichen Glaubens evangelischer Provenienz dessen be -<br />

wusst sein, dass es weder eine christlich-verbindliche Optimal-Lösung<br />

für moralisch relevante Fragen geben kann noch eine einheitliche Auffassung<br />

darüber, welche der denkbaren zweitbesten Lösungen die angemessenste<br />

ist.<br />

Oben ist gesagt worden, dass es nicht die Aufgabe der <strong>Ethik</strong> sein<br />

kann, perfektionistische Leitbilder als normative Orientierungsmarken<br />

menschlichen Handelns festzuschreiben. Der Rückbezug auf Luthers<br />

Rechtfertigungslehre hat gezeigt, dass diese Feststellung gerade für die<br />

evangelische <strong>Ethik</strong> von besonderer Bedeutung ist. Denn (auch) die<br />

christliche <strong>Ethik</strong> hat es mit den notorisch nicht-perfektiblen irdischendlichen<br />

Lebensvollzügen der Menschen zu tun.<br />

Oben ist weiterhin gesagt worden, dass die ethische Reflexion des<br />

menschlichen Handelns stets die möglichen kontraintentionalen Im -<br />

plikationen und die absehbaren individuellen und gesamtgesellschaftlichen<br />

Folgekosten der unterschiedlichen Handlungsoptionen einbeziehen<br />

wird, dies aber im Wissen darum, dass diese Implikationen und<br />

Folgekosten nie vollständig und hinreichend erfassbar sind. Im rechtfertigungstheologischen<br />

Kontext kann dies durch die Feststellung<br />

reformuliert werden, dass »zur Struktur verantwortlichen Handelns die<br />

Bereitschaft zur Schuldübernahme gehört« 771 . Erinnert sei überdies an<br />

die in Anm. 742 nachgewiesene von Wolfgang Huber (geb. 1942) formulierte<br />

Einsicht, nach der zur Endlichkeit der menschlichen Freiheit<br />

gehört, »dass ihr fehlerfreier Gebrauch keinem Menschen ge lingt«.<br />

Im Gegenzug zu dieser Einschärfung der grundsätzlichen Schuldbehaftetheit<br />

alles menschlichen Handelns gilt allerdings auch: Innerhalb<br />

der irdisch-endlichen Lebensvollzüge sind keineswegs alle Katzen<br />

grau. Evangelische <strong>Ethik</strong> wird zwar weitgehend darauf verzichten,<br />

bestimmte Lösungen für ethische Probleme als dem Willen Gottes entsprechend<br />

und insofern als alternativlos zu präsentieren (dazu mehr in<br />

3.1.3). Aber sie wird auch versuchen, im Blick auf die jeweils anstehenden<br />

Fragen zwischenmenschlich nachvollziehbare Kriterien für eine moralische<br />

Beurteilung der verschiedenen Optionen zu benennen. Dabei gilt<br />

freilich: Es geht stets um Reflexion, nicht um In struktion. So kann, um<br />

das in Anm. 733 nachgewiesene Zitat nochmals aufzunehmen, die<br />

771 Bonhoeffer, Die Struktur des verantwortlichen Lebens, 275.


304<br />

3. Themenfelder der (evangelisch-theologischen) <strong>Ethik</strong><br />

Behandlung materialer Themenfelder auch in der evangelischen <strong>Ethik</strong><br />

als ein Versuch verstanden werden, mit Hilfe von Argumenten »Menschen<br />

dabei zu helfen, sich in bestimmten Situationen moralisch richtig<br />

zu verhalten, in denen Unklarheit oder Unsicherheit darüber herrscht,<br />

was in dieser Situation moralisch richtig wäre«. Dabei gilt allerdings,<br />

dass eine definitive und allgemein geteilte Auffassung darüber, was als<br />

»moralisch richtig« zu gelten hat, nicht zu erwarten ist. Vielmehr wird<br />

man es gerade auch im Horizont des christlichen Glaubens evangelischer<br />

Provenienz als den Normalfall anerkennen müssen, dass unterschiedliche<br />

moralische Überzeugungen koexistieren.<br />

Exkurs: »Schluss mit Sünde!«?<br />

Am Ende von 3.1.1c ist die von Klaas Huizing geäußerte Kritik an einer<br />

von der menschlichen Nicht-Perfektibilität ausgehenden und den<br />

christlichen Lebensvollzug als Endlichkeitsmanagement verstehenden<br />

<strong>Ethik</strong> zitiert worden. Nachdem versucht worden ist, zu verdeutlichen,<br />

dass mit den genannten Begriffen die Pointe der Lutherschen <strong>Ethik</strong><br />

durchaus sachgerecht erfasst werden kann, soll nun kurz angezeigt werden,<br />

wo wahrscheinlich die maßgebliche Differenz zwischen Huizings<br />

Auffassung und dem hier vorgetragenen Ansatz liegt. – 2017, im Jahr des<br />

Reformationsjubiläums, hat Huizing eine kleine Schrift mit dem<br />

(Ober-)Titel »Schluss mit Sünde!« publiziert. Eingebettet in eine Präsentation<br />

zahlreicher Lesefrüchte beklagt er das »unter Theologen weiterhin<br />

prominent« besetzte »Sündenkartell« und schlägt die Verabschiedung<br />

des Sündenbegriffs vor. Damit verbinde sich ein »misanthropische[s]<br />

Menschenbild […] Hier ist ein Exit zwingend«. Denn offensichtlich ist ja<br />

»ein selbstbestimmtes Leben im Kontext mit anderen Menschen«, ein<br />

»gelungenes Leben möglich« 772 . – Für eine <strong>Ethik</strong>, in der die Begriffe der<br />

Nicht-Perfektibilität und des Endlichkeitsmanagements wichtig sind<br />

und mit Luthers rechtfertigungstheologischen Grundentscheidungen<br />

verbunden werden, ist das Sündenkonzept allerdings unverzichtbar.<br />

Sünde steht, kurz gesagt, für die stets realisierte Schuldfähigkeit<br />

der endlichen Freiheit, ein Verständnis, das einen »Exit« nicht zulässt<br />

und mit der Idee eines gelungenen Lebens durchaus verbunden werden<br />

kann. 773<br />

772 Huizing, Schluss mit Sünde!, 78 f.<br />

773 Vgl. dazu: <strong>Leonhardt</strong>, Luthers Rearistotelisierung der christlichen <strong>Ethik</strong>, 156–166.


3.1 Die rechtfertigungslehre als Grundlage 305<br />

Eine Würdigung der Sündenpolemik von Huizing müsste sich<br />

eingehend mit dessen Profilierung der Scham als Grundbegriff der <strong>Ethik</strong><br />

auseinandersetzen. 774 Dies kann hier nicht geleistet werden. An dieser<br />

Stelle muss der Hinweis darauf genügen, dass die Differenzen im Blick<br />

auf die Tauglichkeit des Nicht-Perfektibilitäts- und des Endlichkeitsmanagement-Begriffs<br />

für die <strong>Ethik</strong> offenbar mit Unterschieden im Sündenverständnis<br />

zusammenhängen.<br />

3.1.3 Provisorische Moral<br />

Oben wurde gesagt, dass die Koexistenz unterschiedlicher moralischer<br />

Überzeugungen auch und gerade im Horizont des christlichen Glaubens<br />

evangelischer Provenienz als Normalfall anzuerkennen ist. Diese<br />

Behauptung ergibt sich einerseits aus der in 3.1.2b im Anschluss an<br />

Luther formulierten Feststellung, nach der (auch) christliche Sittlichkeit<br />

der allem menschlichen Handeln eigenen moralischen Ambivalenz<br />

nicht zu entgehen vermag. Sie knüpft andererseits an die in Teil 1<br />

mehrfach formulierte und erläuterte Feststellung an, dass die christliche<br />

<strong>Ethik</strong> nicht als eine autarke Größe gelten kann. Denn für sie war<br />

von Anfang an ein von kritischer Anknüpfung geprägtes Verhältnis zu<br />

den vom Christentum vorgefundenen Moralen charakteristisch. Dies<br />

be deutet auch, dass die christliche <strong>Ethik</strong> von den Umgestaltungen der<br />

»allgemeinen« Moral beeinflusst ist; die im 20. Jahrhundert erfolgte<br />

Veränderung in der Haltung der evangelischen (und auch der römischkatholischen)<br />

Kirche gegenüber dem modernen Menschenrechtsgedanken<br />

(vgl. 3.2.2b) ist ein besonders deutliches Beispiel für diesen Einfluss.<br />

Die religiöse Leitperspektive der christlichen <strong>Ethik</strong> ist daher nicht<br />

ein zeitloser Maßstab; die Konkretionen dessen, was der christliche<br />

Glaube für das menschliche Handeln bedeutet, sind vielmehr immer<br />

eingebettet in die jeweils gegebenen gesellschaftskulturellen Rahmenbedingungen.<br />

Das damit Gesagte wird im Folgenden durch die Heranziehung des<br />

Begriffs der provisorischen Moral präzisiert. Es war der Philosoph René<br />

Descartes (1596–1650), der im dritten Teil seines »Discours de la<br />

méthode« (1637) von der »morale par provision« gesprochen hat. 775 Diese<br />

774 Vgl. dazu: Huizing, Scham und Ehre, 27–133.<br />

775 Vgl. Descartes, Discours de la méthode, 22–31.


306<br />

3. Themenfelder der (evangelisch-theologischen) <strong>Ethik</strong><br />

provisorische Moral besteht, kurz gesagt, in einer Konformität mit den<br />

überlieferten Konventionen. Dieses konventionelle Verhalten betrachtet<br />

Descartes als eine »Übergangswohnung«, die ihm Obdach bieten soll,<br />

bis sein Neubau fertig ist; anders formuliert: bis die Revision der theoretischen<br />

Philosophie abgeschlossen ist und die sich daraus ergebenden –<br />

dann auf sicherem Fundament stehenden – handlungsleitenden Orientierungen<br />

formuliert sind. Mit der erwarteten Etablierung einer solchen<br />

definitiven Moral wäre die Geltungszeit der provisorischen Moral beendet.<br />

Dieser Begriff der provisorischen Moral lässt sich in spezifischer<br />

Weise auf Luthers <strong>Ethik</strong> beziehen. Für den Wittenberger Reformator<br />

gilt nämlich: Die Werke christlicher Nächstenliebe, die zu tun der Glaubende<br />

gehalten ist, machen ihn vor Gott nicht besser oder schlechter; sie<br />

sind allerdings nach bestem Wissen und Gewissen zu tun – freilich im<br />

Bewusstsein ihrer unüberwindbaren moralischen Ambivalenz, die alle<br />

Alternativlosigkeitsprätentionen ausschließt. Zur Menschlichkeit des<br />

Menschen, also zu seiner unüberwindbaren Nicht-Perfektibilität, ge -<br />

hört deshalb, dass er über so etwas wie eine provisorische Moral nicht<br />

hinauskommen kann, weil er aufgrund seines Menschseins über eine<br />

definitive Moral grundsätzlich nicht verfügt. Eine Transzendierung des<br />

Horizonts endlich-menschlicher (und damit immer auch sündenbehafteter)<br />

Moralität ist lediglich aus der Perspektive Gottes möglich. Die<br />

Inanspruchnahme dieser Perspektive dient in der reformatorischen<br />

Theologie vor allem dazu, die unhintergehbare moralische Defizienz des<br />

christenmenschlichen Handelns einzuschärfen. Insofern ist Luthers<br />

provisorische Moral, anders als die von Descartes, nicht als ein befristetes,<br />

sondern als ein – sit venia verbo – dauerhaftes Provisorium konzipiert.<br />

Ein dergestalt rechtfertigungstheologisch profiliertes Verständnis<br />

des Begriffs der provisorischen Moral macht erneut kenntlich, dass das<br />

christliche Handeln den Charakter des Endlichkeitsmanagements aufweist<br />

und auf eine (idealerweise möglichst schadensarme) Bewältigung<br />

der Nicht-Perfektibilitäts-Situation zielt.<br />

Der Begriff der provisorischen Moral im bisher präzisierten Sinn ist<br />

auch geeignet, den ebenfalls schon benannten Sachverhalt zu verdeutlichen,<br />

dass nach Luther das christenmenschliche Mitwirken an der<br />

Stabilisierung der göttlichen Erhaltungsordnungen als ein paradigmatischer<br />

Ausdruck der Nächstenliebe gelten kann. Diese verantwortungs-


3.1 Die rechtfertigungslehre als Grundlage 307<br />

ethische Hochschätzung der innerweltlichen Strukturen und Verhaltensüblichkeiten<br />

steht einerseits in der Tradition jener Überwindung<br />

der eschatologisch begründeten frühchristlichen Weltindifferenz, die<br />

in 1.3.1c exemplarisch aufgewiesen wurde. Andererseits ist die von Lu -<br />

ther avisierte »Heiligung des Weltlebens« 776 immer von der Überzeugung<br />

begleitet, dass »keine bestimmte geschichtliche Gestalt sozialen<br />

Lebens für verbindlich« erklärt werden kann. 777 In Luthers Verweis auf<br />

die irdischen Lebensordnungen als Realisierungsort christlicher Nächstenliebe<br />

lebt daher die im frühen Christentum bestimmende Weltdistanz<br />

fort und geht einher mit der Weigerung, historisch-kontingente<br />

Konstellationen zu verabsolutieren und religiös zu überhöhen (vgl.<br />

dazu die Hinweise in 3.4.0).<br />

Die Folgen des so verstandenen provisorischen Charakters der<br />

christlichen Moral sind nicht trivial. Zunächst ergibt sich daraus, dass<br />

die theologische <strong>Ethik</strong> im Streit über das innerweltlich Bestmögliche<br />

keine privilegierte Position beanspruchen kann – jedenfalls nicht aufgrund<br />

ihrer Verwurzelung in der biblisch-theologischen Tradition.<br />

Dass, wie in 1.1.3 gesagt, im vorliegenden Lehrbuch die normative Frage<br />

nach der »richtigen« Moral stets mitgeführt wird, bedeutet daher nicht,<br />

dass bei der Behandlung der materialen Themenfelder (3.2–3.4) die<br />

jeweils möglichen Optionen regelmäßig einem Nicht-Perfektibilitäts-<br />

Test unterzogen werden; entsprechend wird darauf verzichtet, themenspezifisch<br />

konkrete Handlungsanweisungen zu formulieren. Der provisorische<br />

Charakter der christlichen Moral erlaubt lediglich – um einen<br />

in kulturtheoretischen Debatten gelegentlich verwendeten Begriff aufzunehmen<br />

778 – eine schwache Normativität. Es geht primär um Problemanzeigen<br />

und nicht um die Formulierung von Wegweisungen. Den<br />

damit einhergehenden Verzicht auf Eineindeutigkeit mag man als<br />

Nachteil empfinden; damit zugleich verbunden ist allerdings auch die<br />

Freiheit zu einer eigenen Überzeugungsbildung sowie die (in 3.1.2b<br />

bereits erwähnte) Priorisierung der Reflexion gegenüber der Instruktion.<br />

776 Troeltsch, Glaubenslehre, 186.<br />

777 Stegmann, Luthers Auffassung vom christlichen Leben, 384.<br />

778 Kettner, Kultur, Kulturrelativität, Kulturrelativismus, 184; vgl. ders., Werte und<br />

Normen, 228.


<strong>Rochus</strong> <strong>Leonhardt</strong>, Dr. theol., Jahrgang<br />

1965, ist seit 2011 Professor für Systematische<br />

Theologie unter besonderer Berücksichtigung<br />

der <strong>Ethik</strong> an der Theologischen<br />

Fakultät der Universität Leipzig. Nach<br />

dem Studium der Evangelischen Theologie<br />

an den kirchlichen Hochschulen in Naumburg/Saale<br />

und Leipzig sowie dem Vikariat<br />

in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche<br />

Sachsens wurde er an der Theologischen<br />

Fakultät der Universität Rostock<br />

1996 promoviert und habilitierte sich 2001.<br />

<strong>Leonhardt</strong> ist Mitglied des Theologischen<br />

Ausschusses der VELKD sowie Mitherausgeber<br />

der Schriftenreihe »Arbeiten zur Systematischen<br />

Theologie« (Leipzig).<br />

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

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Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

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Satz: Evangelische Verlagsanstalt GmbH<br />

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ISBN 978-3-374-05486-2<br />

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