VNW-Magazin Ausgabe 3/2022
Das VNW-Magazin erscheint fünf Mal im Jahr. Neben Fachartikeln enthält es Berichte und Reportagen über die Mitgliedsunternehmen des Verbands norddeutscher Wohnungsunternehmen - den Vermietern mit Werten.
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Paternoster – „Vaterunser“<br />
Stets schön in Schwung zu bleiben, ist der Daseinszweck eines Personen-Umlauf-Aufzugs.<br />
Ohne Unterlass über die Stockwerke eines<br />
Gewerbe- oder auch Amtsgebäudes zu rotieren, damit Nutzer jederzeit<br />
problemlos zu- und aussteigen können. Geschmeidig gleiten<br />
soll dieser Aufzug, wie ein Rosenkranz über die Hand von Gläubigen<br />
– darum nennt man ihn auch Paternoster („Vaterunser“).<br />
Zehn elektrobetriebene Zahnräder aus massivstem Stahlguss,<br />
eines davon gut 1,50 Meter hoch, bilden die Grundlage für ein<br />
System mit zwei dicken, bis ins Obergeschoss parallel laufenden<br />
Ketten. An ihnen hängen 14 Kabinen für je zwei Personen aus<br />
Mahagoni gebeiztem Weichholz. Daraus bestehen auch die dezent<br />
ornamentierten Zugangsumrahmungen auf den Etagen.<br />
„Hier handelt es sich eher um ein Standardmodell, aber es<br />
ist ein besonders schöner und in der Bauform in Deutschland<br />
einmaliger Paternoster“, erklärt Augenstein, dessen Promotionsthema<br />
der Denkmalwert alter Aufzüge ist. Und er merkt an: „Die<br />
meisten der etwa 20 Paternoster, die in Hamburg noch lauffähig<br />
sind, haben nicht mehr ihren ursprünglichen Zustand. Oft wurde<br />
massives Holz wie Eiche, Mahagoni oder auch Weichholz durch<br />
Kunststoff ersetzt. Wodurch Charme und Denkmalwert verloren<br />
gehen.“<br />
Nun der älteste erhaltene Paternoster<br />
Als ältester erhaltener Paternoster der Welt läuft der Aufzug des<br />
Flüggerhauses nun dem des Wiener Hauses der Industrie von<br />
1910 den Rang ab. Da fügte es sich, dass inzwischen ein Investor,<br />
SIGNA Real Estate, das alte Kontorgebäude gekauft hatte und<br />
renovieren ließ. Die Firma war bereit, in Zusammenarbeit mit Behörden<br />
und Prüfinstitute auch die Wiederherstellung des Paternosters<br />
zu veranlassen – und die Kosten von einigen hunderttausend<br />
Euro zu tragen.<br />
So können künftige Mieter, Mitarbeiter und Besucher im Haus<br />
nicht nur ein urtümliches Fahrgefühl, sondern auch die Schönheit<br />
des mit Majolika-Fliesen ausgekleideten Treppenhauses genießen.<br />
Für die Arbeiten wie den im Januar durchgeführten Ausbau<br />
der Kabinen, ihren Wiedereinbau sowie die Restaurierung aller<br />
Teile holten die Hamburger eine Spezialfirma aus der Nähe von<br />
Stuttgart mit ins Boot. „Zunächst haben wir die Holzverkleidungen<br />
ausgebaut, um Verschleiß, Korrosion und schlecht reparierte<br />
Teile festzustellen“, sagt deren junger Chef Patric Wagner.<br />
„Bei der Gelegenheit haben wir dann doch sämtliche Kabinen<br />
mit ihren je 250 Kilo herausgenommen. Fünf Mann waren dafür<br />
notwendig – mit elektrischen Kettenzügen und wirklich viel Präzisions-<br />
und Gefühlsarbeit. Das war heftig.“<br />
Sandgestrahlt, nachgeschweißt, grundiert und<br />
neu lackiert<br />
Um etwa die vernieteten Gusskränze der hölzernen Gondeln zu<br />
entfernen, habe man selbst die teuersten und besten kobaltbeschichteten<br />
Bohrer stumpf werden lassen. Ein 40-Tonner beförderte<br />
die Kabinen anschließend nach Aichwald bei Stuttgart, wo<br />
sie auf die Richtbank gestellt wurden.<br />
Fachkräfte korrigierten, was sich im Laufe der Zeit verzogen<br />
hatte und stellten die Fahrgastzellen in ein chemisches Entlackungsbad.<br />
Unter vielen Farbschichten kam dabei im Guss noch<br />
eine Gebrauchsmusternummer des Deutschen Patent- und Markenamts<br />
zutage. Dann wurden die Kabinen sandgestrahlt, nachgeschweißt,<br />
grundiert und neu lackiert.<br />
Ihr Wiedereinbau in Hamburg begann Ende Februar, nachdem<br />
die Zahnräder und Ketten vor Ort generalüberholt waren. „Die<br />
sind so unglaublich kompakt und massiv gebaut. Und bei regelmäßiger<br />
Wartung mit Spezialölen auch in Zukunft nicht kaputtzukriegen“,<br />
schwärmt Wagner, ein gelernter Maschinenbauer. Er<br />
habe sich auch herausgefordert gefühlt zu zeigen, was man so<br />
alles reparieren und damit stilvoll und umweltschonend erhalten<br />
könne.<br />
Eine Umrundung dauert vier Minuten<br />
„Momentan haben wir noch einen großen Bauabschnitt, der viel<br />
Dreck und die eine oder andere Macke verursachen könnte“, erklärt<br />
Wagner. Darum sei das Finish durch einen Holzrestaurator<br />
erst für September eingeplant. Denn derzeit ist der Aufzug zwar<br />
betriebsfähig. „Es fehlt nichts. So wie er jetzt läuft, lief er immer“,<br />
sagt Augenstein über das nur leise surrende Gefährt, das für eine<br />
Umrundung aller Etagen vier Minuten braucht.<br />
Doch aufgrund technischer Vorgaben erhalten die Kabinen<br />
noch Decken, außerdem werden zwischen ihnen aufwendig sogenannte<br />
Schürzen – komplette Hohlraumkabinen – eingebaut.<br />
Man soll eben nicht in den Schacht hineinfallen können. Um<br />
weiterhin die Sicht auf die alte Technik zu ermöglichen, bestehen<br />
die neuen Teile aus Plexiglas.<br />
„Was dann fertig ist, ist wirklich das Original und nicht etwas<br />
Nachgebautes“, urteilt der Kunsthistoriker.<br />
Und aus der Hamburger Kulturbehörde heißt es dazu auf dpa-<br />
Anfrage: „Mit der Wiederentdeckung und Wiederherstellung des<br />
Paternosters im Flüggerhaus konnte ein spannendes Zeugnis der<br />
Fahrstuhl-Kultur des frühen 20. Jahrhunderts gesichert und für<br />
nachfolgende Generationen erhalten werden. Ein vergleichbarer<br />
Vorgang ist zumindest für die letzten zwanzig Jahre nicht bekannt.“<br />
Hamburg war einst Vorreiter bei Paternostern<br />
Augenstein erzählt, dass die Hansestadt einst Vorreiter bei den<br />
Paternostern war. Um 1900 habe es weit mehr als 100 davon<br />
gegeben – wohingegen etwa in Berlin bis in die 1920er Jahre wegen<br />
eines Verbots der Baupolizei keiner dieser Personenaufzüge<br />
eingebaut werden durfte. Heute sind in Deutschland noch rund<br />
200 der 1875 in London erfundenen Paternoster in Betrieb. In<br />
Hamburg haben sehenswerte Exemplare auch im Slomanhaus am<br />
Hafen und in der Finanzbehörde am Gänsemarkt überlebt.<br />
Persönlich begeistert sich Augenstein vor allem für die Anlagen<br />
im Haus des Reichs in Bremen mit ihren Art-Deco-Kabinen aus<br />
Mahagoni und im Salamander-Areal in Stuttgart-Kornwestheim.<br />
Wie all diese Gebäude wird auch das Flüggerhaus nicht zum<br />
Hotspot für Paternoster-Fans werden. Denn es ist nicht öffentlich<br />
zugänglich – allein Fahrten an einem „Tag des offenen Denkmals“<br />
stellt der Eigentümer in Aussicht. Aufgrund amtlicher Bestimmungen<br />
müsste sich jeder Benutzer dann eine Einweisung in das richtige<br />
Fahrgastverhalten gefallen lassen.<br />
Dabei dürfte jedoch kaum noch gelten, was ein Metallschild<br />
an der Holzverkleidung besagt: Die Geldstrafe bei Zuwiderhandlung<br />
müsse in Goldmark gezahlt werden. h