VNW-Magazin Ausgabe 3/2022
Das VNW-Magazin erscheint fünf Mal im Jahr. Neben Fachartikeln enthält es Berichte und Reportagen über die Mitgliedsunternehmen des Verbands norddeutscher Wohnungsunternehmen - den Vermietern mit Werten.
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12 <strong>VNW</strong><br />
Hamburgserste<br />
Baugenossenschaftsgründerin<br />
Nach dem Ersten Weltkrieg herrscht im Norden Deutschlands große<br />
Wohnungsnot. Eine Lösung ist die Gründung von Wohnungsgenossenschaften.<br />
1927 rückt mit Adele Reiche erstmals eine Frau an die Spitze<br />
einer Baugenossenschaft.<br />
Hamburg. Die Revolution von 1918/19 brachte für einen Großteil<br />
der Bevölkerung lang ersehnte Veränderungen mit sich. Das<br />
Frauenwahlrecht wurde eingeführt und die ersten demokratischen<br />
Wahlen bildeten endlich die wirklichen politischen Kräfteverhältnisse<br />
ab.<br />
Die neuen Regierungen im Reich und in den Ländern standen<br />
allerdings vor gewaltigen Herausforderungen. Die Folgen des<br />
verlorenen Krieges waren zu bewältigen, die Nahrungsmittelversorgung<br />
musste sichergestellt werden und die allgegenwärtige<br />
Wohnungsnot forderte Lösungen.<br />
Während des Ersten Weltkrieges war die Bautätigkeit weitgehend<br />
zum Erliegen gekommen. Nach dem Kriegsende heimkehrende<br />
Soldaten, die jetzt eine Familie gründen wollten, fanden keine<br />
Wohnung. Wohnraumbewirtschaftung und Mietenkontrolle<br />
wurden eingesetzt, um den Mangel zu verwalten.<br />
Wohnungsversorgung wird staatliche Aufgabe<br />
Die Dringlichkeit des Wohnungsbaus kam auch in der Verfassung<br />
der Weimarer Republik zum Ausdruck, in der die Wohnraumversorgung<br />
nunmehr als staatliche Aufgabe gesehen wurde. In Art.<br />
155 der neuen Verfassung wurde als Ziel ausgegeben, „jedem<br />
Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen Familien,<br />
besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende<br />
Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zu sichern“.<br />
Land auf Land ab wurde vor Ort nach Lösungen gesucht und<br />
wurden Wohnungsunternehmen in kommunaler Trägerschaft<br />
oder in der Rechtsform der Genossenschaft gegründet. Auch in<br />
Hamburg wurden ab 1919 zahlreiche Baugenossenschaften ins<br />
Leben gerufen.<br />
Ausgangspunkt für Gründungen waren häufig verbindende<br />
Gemeinsamkeiten etwa im Beruf. So entstand beispielsweise der<br />
Bauverein der Finanzbeamten oder die Baugenossenschaft der<br />
Buchdrucker. Gleich drei Genossenschaften widmeten sich in<br />
Hamburg dem Verfassungsauftrag und bauten für Kinderreiche.<br />
Erstmals eine Frau an der Spitze<br />
Die 1927 gegründete Baugenossenschaft für kinderreiche Familien<br />
e.Gen.m.H. zeichnete sich dadurch aus, dass mit Adele Reiche<br />
erstmalig eine Frau an der Spitze einer Hamburger Baugenossenschaft<br />
stand, die sich auch politisch für Kinder, Frauen und Familien<br />
einsetzte. Soweit bekannt ist, hatte zuvor nur die Baugenossenschaft<br />
Finkenwärder 1922 ein weibliches Vorstandsmitglied,<br />
das als Kassiererin fungierte.<br />
Adele Reiche, geb. Cords, wurde am 16. Juni 1875 in Hamburg<br />
geboren. Sie besuchte die Volksschule und absolvierte anschließend<br />
von 1892 bis 1896 das Lehrerinnenseminar. Sie arbeitete<br />
als Volksschullehrerin, bis sie nach ihrer Heirat 1906 aus dem<br />
Schuldienst ausschied.<br />
1907 wurde ihr Sohn Egon geboren. Während des Ersten<br />
Weltkrieges war sie ab 1915 als Kriegshilfslehrerin wieder im<br />
Staatsdienst tätig. Adele Reiche war Mitglied der SPD und wurde<br />
1919 nach der Einführung des Frauenwahlrechts in die Hamburgische<br />
Bürgerschaft gewählt, der sie bis 1931 angehörte.<br />
Aufgabenfeld öffentliche Jugendfürsorge<br />
Adele Reiche war eine engagierte Politikerin, die sich für soziale<br />
Themen und die Rechte der Frauen einsetzte. Als Bürgerschaftsabgeordnete<br />
war sie Mitglied der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge.<br />
Besonders wichtig waren ihr gesunde Lebensverhältnisse<br />
für Kinder und Familien sowie bessere Bildungschancen.<br />
Dass eine große Anzahl von Kindern das Armutsrisiko erhöhte,<br />
war auch für Adele Reiche keine neue Erkenntnis. Sie trat für<br />
eine Geburtenkontrolle ein und setzte dabei auf eine Aufklärung<br />
der Frauen. 1930 gründete sie zusammen mit der SPD-Bürgerschaftsabgeordneten<br />
Paula Henningsen die Hamburger Ortsgruppe<br />
des „Reichsverbandes für Geburtenregelung und Sexualhygiene“.<br />
Der Verband lehnte den Paragraph 218 ab und klärte Frauen<br />
über Verhütungsmöglichkeiten auf.<br />
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