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Ulrich H. J. Körtner: Theologische Exegese (Leseprobe)

Systematische Theologie und Bibelexegese gehen heute oftmals getrennte Wege. Einer der Gründe ist die Rehabilitierung des Historismus. In Teilen heutiger Systematischer Theologie spielen religionsphilosophische Reflexionen eine größere Rolle als die Texte der Bibel. Die Studien des vorliegenden Bandes begreifen Bibelexegese als theologisches Unterfangen, das historische und systematische Fragestellungen vereint, und Systematische Theologie als konsequenter Exegese. So vielstimmig, spannungsreich und bisweilen widersprüchlich die in den biblischen Schriften zu vernehmenden Stimmen auch klingen mögen, weisen sie doch über sich hinaus auf einen Konvergenzpunkt, der mit dem Wort „Gott“ benannt wird. Systematische Schriftauslegung versucht diesem Richtungspfeil der biblischen Texte zu folgen.

Systematische Theologie und Bibelexegese gehen heute oftmals getrennte Wege. Einer der Gründe ist die Rehabilitierung des Historismus. In Teilen heutiger Systematischer Theologie spielen religionsphilosophische Reflexionen eine größere Rolle als die Texte der Bibel. Die Studien des vorliegenden Bandes begreifen Bibelexegese als theologisches Unterfangen, das historische und systematische Fragestellungen vereint, und Systematische Theologie als konsequenter Exegese. So vielstimmig, spannungsreich und bisweilen widersprüchlich die in den biblischen Schriften zu vernehmenden Stimmen auch klingen mögen, weisen sie doch über sich hinaus auf einen Konvergenzpunkt, der mit dem Wort „Gott“ benannt wird. Systematische Schriftauslegung versucht diesem Richtungspfeil der biblischen Texte zu folgen.

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VI<br />

„... und hätte die Liebe nicht ...“<br />

Der Begriff der Agape im Christentum<br />

1 Agape im Neuen Testament<br />

„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen rede, Liebe aber nicht<br />

habe, 1 dann bin ich hallendes Erz oder gellende Zimbel. Und wenn ich<br />

Prophetengabe habe und weiß alle Geheimnisse und die ganze Erkenntnis,<br />

und wenn ich verfüge über allen Glauben, so daß ich berge versetze,<br />

Liebe aber nicht habe, dann bin ich nichts. Und wenn ich in Brocken<br />

aufteilte meinen gesamten Besitz, und wenn ich dahingäbe meinen<br />

Leib, damit ich verbrannt werden, Liebe aber nicht habe, dann nützt es<br />

mir nichts.“ 2 So beginnt das 13. Kapitel im 1. Korintherbrief des Apostels<br />

Paulus, das auch als das Hohelied der Liebe bekannt ist. 3 Die Bezeichnung<br />

spielt direkt auf das Hohelied im Alten Testament an, das canticum<br />

canticorum (hebräisch: shir hashirim) – das Lied der Lieder also und<br />

Liebeslied schlechthin, das die legendarische Überlieferung dem König<br />

Salomo zuschreibt. Doch während das Hohelied im Alten Testament die<br />

erotische Liebe besingt, beschreibt Paulus die Gottes- und Nächstenliebe,<br />

für welche im Neuen Testament das griechische Wort ἀγάπη steht.<br />

„Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie<br />

das Totenreich“, lautet der Spitzensatz in Hoheslied 8,6. Das erotische<br />

Begehren wird im Nachsatz als „Flamme des Herrn“ bezeichnet, deren<br />

Glut feurig ist. Die sexuelle Liebe ist also eine Gottesmacht. Wenn Paulus<br />

von der Macht der Liebe spricht und die Liebe als Königsweg zur<br />

Seligkeit beschreibt, denkt er freilich gerade nicht an das sexuelle Ver-<br />

1 Die Lutherbibel übersetzt im Konjunktiv: „Wenn ich mit Menschen- und mit<br />

Engelszunge redete und hätte die Liebe nicht …“.<br />

2 1Kor 13,1–3 in der Übersetzung von Andreas Lindemann, Der erste Korintherbrief<br />

(HNT 9,1), Tübingen 2000, 279.<br />

3 Wie Lindemann, Korinther (s. Anm. 2), 280 feststellt, handelt es sich bei 1Kor 13 freilich<br />

weder um ein Lied noch um einen Hymnus, sondern um kunstfertige Prosa.

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