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Ulrich H. J. Körtner: Theologische Exegese (Leseprobe)

Systematische Theologie und Bibelexegese gehen heute oftmals getrennte Wege. Einer der Gründe ist die Rehabilitierung des Historismus. In Teilen heutiger Systematischer Theologie spielen religionsphilosophische Reflexionen eine größere Rolle als die Texte der Bibel. Die Studien des vorliegenden Bandes begreifen Bibelexegese als theologisches Unterfangen, das historische und systematische Fragestellungen vereint, und Systematische Theologie als konsequenter Exegese. So vielstimmig, spannungsreich und bisweilen widersprüchlich die in den biblischen Schriften zu vernehmenden Stimmen auch klingen mögen, weisen sie doch über sich hinaus auf einen Konvergenzpunkt, der mit dem Wort „Gott“ benannt wird. Systematische Schriftauslegung versucht diesem Richtungspfeil der biblischen Texte zu folgen.

Systematische Theologie und Bibelexegese gehen heute oftmals getrennte Wege. Einer der Gründe ist die Rehabilitierung des Historismus. In Teilen heutiger Systematischer Theologie spielen religionsphilosophische Reflexionen eine größere Rolle als die Texte der Bibel. Die Studien des vorliegenden Bandes begreifen Bibelexegese als theologisches Unterfangen, das historische und systematische Fragestellungen vereint, und Systematische Theologie als konsequenter Exegese. So vielstimmig, spannungsreich und bisweilen widersprüchlich die in den biblischen Schriften zu vernehmenden Stimmen auch klingen mögen, weisen sie doch über sich hinaus auf einen Konvergenzpunkt, der mit dem Wort „Gott“ benannt wird. Systematische Schriftauslegung versucht diesem Richtungspfeil der biblischen Texte zu folgen.

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1 Ethische Passagen in den Paulusbriefen 99<br />

frühchristliche Traditionen wie Herrenworte (z. B. 1Kor 7,10; vgl. Mk 10,<br />

1–12 par) oder katechismusartige Stücke (1Thess 4,1–12; Röm 12–13). Im<br />

Hinblick auf die außerchristlichen ethischen Traditionen gibt Victor<br />

Paul Furnish zu bedenken: „It must be recognized, first of all, that Paul<br />

was selective and critical in his taking over of non-Christian materials.“ 5<br />

Als oberste Norm im Umgang mit paränetischen Traditionen tritt<br />

bei Paulus die ἀγάπῃ aus einer Reihe von Normen hervor, 6 die teils mit<br />

dem Schöpfungsglauben, teils mit der Heilsgeschichte zusammenhängen,<br />

als welche aber auch die Herrenworte fungieren, 7 womit sich Paulus<br />

sowohl vom Judentum und seiner Norm des Gesetzes, als auch von<br />

der Stoa und ihrer Norm der Natur abgrenzt. Um nicht leere Phrase zu<br />

bleiben, muss sich die christlich gedeutete ἀγάπῃ (Gal 5,22; Röm 5,3 ff.;<br />

vgl. Röm 15,30) in konkreten Verhaltensweisen äußern, wie sie Paulus<br />

exemplarisch in 1Kor 13,4–7 beschreibt. Auf einen Nenner gebracht ist<br />

die Konkretion der Norm „Liebe“ in der οἰκοδομή zu finden: ἡ γνῶσις<br />

φυσιοῖ, ἡ δὲ ἀγάπη οἰκοδομεῖ (1Kor 8,1).<br />

Die Norm der Agape kennt Paulus aber auch als Liebesgebot, das,<br />

wie der nachösterliche Ausdruck νόμος Χριστοῦ (Gal 6,2; 1Kor 9,21)<br />

zeigt, das Gebot des erhöhten κύριος ist. Im Gebot der Nächstenliebe<br />

(Gal 5,14; 6,10; Röm 13,8–10; vgl. Mk 12,28–34!) spricht der Erhöhte<br />

genauso wie in den gelegentlich angeführten Herrenworten. 8 Die Wendung<br />

νόμος Χριστοῦ erinnert an die ἐντολὴ καινὴ aus Joh 13,34 (vgl.<br />

1Joh 2,7 f.10; 3,11.23; 4,10.19). Gleichwohl ist das Gesetz Christi nicht ὁ<br />

ἕτερος νόμος, 9 sondern die mit den Worten von Lev 19,18 ausgesprochene<br />

Erfüllung des alttestamentlichen Gesetzes, welches in Röm 13,8–10<br />

durch die Dekaloggebote VII, VI, VIII und X (nach der alttestamentlichen<br />

Zählung) repräsentiert wird.<br />

Natürlich fragt man sich sofort, wie denn der νόμος Χριστοῦ mit<br />

der Rechtfertigungslehre zusammenpasst, nach der doch (Röm 10,4)<br />

5 Victor P. Furnish, Theology and Ethics in Paul, Nashville/New York 1968, 81<br />

(Neuausgabe Louisville, KY 2009 [mit einer neuen Einleitung von Richard B. Hays]).<br />

6 Vgl. Wolfgang Schrage, Die konkreten Einzelgebote in der paulinischen Paränese.<br />

Ein Beitrag zur neutestamentlichen Ethik, Gütersloh 1961, 209.<br />

7 Siehe dazu Schrage Einzelgebote (s. Anm. 6), 203 ff.210 ff.228 ff.<br />

8 Vgl. Schrage, Einzelgebote (s. Anm. 6), 247 f.<br />

9 Gegen Walter Gutbrod, Art. νόμος B–D, in: ThWNT IV, Stuttgart 1942, 1029–<br />

1077, hier 1063; Merk, Handeln (s. Anm. 3), 165. ‘Έτερος ist in Röm 13,8 nämlich<br />

nicht auf νόμος, sondern auf ἀγαπᾶν zu beziehen, meint also den Nächsten, nicht<br />

das Gesetz! Vgl. Ernst Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen 3 1974, 348.

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