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Ulrich H. J. Körtner: Theologische Exegese (Leseprobe)

Systematische Theologie und Bibelexegese gehen heute oftmals getrennte Wege. Einer der Gründe ist die Rehabilitierung des Historismus. In Teilen heutiger Systematischer Theologie spielen religionsphilosophische Reflexionen eine größere Rolle als die Texte der Bibel. Die Studien des vorliegenden Bandes begreifen Bibelexegese als theologisches Unterfangen, das historische und systematische Fragestellungen vereint, und Systematische Theologie als konsequenter Exegese. So vielstimmig, spannungsreich und bisweilen widersprüchlich die in den biblischen Schriften zu vernehmenden Stimmen auch klingen mögen, weisen sie doch über sich hinaus auf einen Konvergenzpunkt, der mit dem Wort „Gott“ benannt wird. Systematische Schriftauslegung versucht diesem Richtungspfeil der biblischen Texte zu folgen.

Systematische Theologie und Bibelexegese gehen heute oftmals getrennte Wege. Einer der Gründe ist die Rehabilitierung des Historismus. In Teilen heutiger Systematischer Theologie spielen religionsphilosophische Reflexionen eine größere Rolle als die Texte der Bibel. Die Studien des vorliegenden Bandes begreifen Bibelexegese als theologisches Unterfangen, das historische und systematische Fragestellungen vereint, und Systematische Theologie als konsequenter Exegese. So vielstimmig, spannungsreich und bisweilen widersprüchlich die in den biblischen Schriften zu vernehmenden Stimmen auch klingen mögen, weisen sie doch über sich hinaus auf einen Konvergenzpunkt, der mit dem Wort „Gott“ benannt wird. Systematische Schriftauslegung versucht diesem Richtungspfeil der biblischen Texte zu folgen.

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84<br />

IV Vergebung!<br />

der paulinischen Rechtfertigungslehre notwendig, mit den Worten des<br />

Vaterunser beständig aufs Neue um die Vergebung der Sünden zu bitten?<br />

Wie ist es zu verstehen, dass die Bereitschaft des Menschen, anderen<br />

zu vergeben, im Vaterunser zur Bedingung göttlicher Sündenvergebung<br />

erklärt wird, und wie passt diese Junktimierung mit der Lehre von der<br />

bedingungslosen Rechtfertigung des Sünders zusammen? In welchem<br />

Verhältnis stehen Rechtfertigung und Ethik bei Paulus einerseits und<br />

Beten und Handeln im Vaterunser andererseits, wobei das Augenmerk<br />

besonders auf Matthäus zu richten ist? Lässt sich die Zuordnung von<br />

Gebet und Ethik im Vaterunser mit derjenigen von Rechtfertigung und<br />

Ethik bei Paulus in Einklang bringen, oder widersprechen sie sich?<br />

2 Die Vaterunserbitte um die Vergebung<br />

der Schuld<br />

Das Vaterunser oder Unservater ist in drei verschiedenen Fassungen überliefert,<br />

und zwar in der lukanischen Kurzfassung, die lediglich aus fünf<br />

Bitten besteht (Lk 11,2–4) sowie zwei Langfassungen in Mt 6,9–13 und Did<br />

8,2 f., die miteinander verwandt sind. In der <strong>Exegese</strong> hat sich die These<br />

durchgesetzt, dass die lukanische Version ursprünglicher ist, was die<br />

Zahl der Bitten und die Gottesanrede betrifft, die matthäische hingegen<br />

hinsichtlich des Wortlauts. Die Didache-Fassung weicht in Einzelheiten<br />

von der matthäischen ab. Einige Indizien sprechen dafür, dass sich der<br />

Text der Didache auf eine ältere, von Mt unabhängige Vorlage zurückführen<br />

lässt, so dass die Bitten, die bei Lk fehlen, nicht von Mt stammen, sondern<br />

von ihm in einer älteren Quelle vorgefunden worden sind.<br />

Die Vergebungsbitte ist in allen drei Varianten des Vaterunser enthalten.<br />

In der lukanischen Fassung lautet sie: „Vergib uns unsere Sünden<br />

(ἁμαρτίαι), denn auch wir vergeben allen, die an uns schuldig werden<br />

(ὀφείλοντι)“ (Lk 11,4). Wer um Vergebung der Sünden bittet, bittet<br />

um das, was im Zentrum des Wirkens Jesu steht. Beispielhaft sei die<br />

Geschichte von der Heilung des Gelähmten in Erinnerung gerufen, dem<br />

Jesus zunächst seine Sünden vergibt. In der Folge entspinnt sich ein Disput<br />

über Jesu Vollmacht zur Sündenvergebung. Die Erzählung gehört<br />

zur synoptischen Überlieferung (Mk 2,1–12; Mt 9,1–8; Lk 5,17–26). Die<br />

Formel: „Deine Sünden sind dir vergeben (ἀφέωνταί σοι αἱ ἁμαρτίαι<br />

σου)“ (Lk 5,20) kehrt wörtlich in Lk 7,48 wieder, nämlich in der Geschichte<br />

von Jesus und der Sünderin.

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