Blogtexte2022_1-Halbjahr_korrigiert

06.07.2022 Aufrufe

Unverschämt!Mai 4, 2022Alle paar Jahre schneidet die Stadt ihreSträucher deutlich zurück. Einige Bäumestehen plötzlich frei, die längere Zeit garnicht zugänglich waren. Der Weg an derDüpenau wird hübsch ordentlich gemachtund auch die weniger populären Ecken, diekaum für einen Sonntagsspaziergang taugen,müssen gepflegt werden. Ein orangesAuto der Stadt oder ein anderes des beauftragtenGärtners kommtzur passenden Jahreszeitangefahren. Dann mussmanches Unterholz weichen.Eine Stelle passiere ich oft,wo mir das auffällt, ob vieloder wenig Bewuchs ist.Da steht ein mir bekannterBaum, sage ich mal, den ichalle paar Jahre zur Gänzesehen kann. Dann wächster unten wieder zu. Zeit fürden Baumfrisör, denke ichund sinne darüber nach,wie lange ich hier schonlaufe, diese Strecke – Tag fürTag. Kein Durchkommen heute Nachmittag,als ich das Foto mache. Ich bin extra vonzuhause ein zweites Mal hingegangen, habemeine kleine Taschenkamera mitgenommenund bin noch einmal zurückgelaufen. DasLicht ist so schön.Ohne Smartphone ist man ein behinderterExot. Ich kann nicht mal eben was fotografieren,und dass als Maler und Grafiker,der ich bin. Armselig, wo heute jedermannBilder macht. Früher war es eine Aufgabe fürProfis. Man musste zeichnen können. Menzelverspottete Kollegen, die so blöd wären,das eigene Haus zu verlassen, etwa für eineBesorgung, ohne wenigstens ein winzigesSkizzenbuch in irgendeiner Jackentaschedabeizuhaben. Er ließ sich vom Schneiderzahlreiche Extrataschen in den Ausgehmantelhineinnähen. Ich sollte mich schämen! Esist wieder Frühling, Mai, die Bäume schlagenaus. So auch das Dickicht. Es hat ordentlichzugelegt in den vergangenen Jahren. Da istkein freier oder einfacher Weg zu diesemBaum hier. Wahrscheinlich nicht einmal dieHunde pinkeln dran.:)Mai 4, 2022 - Unverschämt! 72 [Seite 72 bis 72 ]

„Das Ohr zur Welt“Mai 5, 2022Schenefeld ist nichts besonderes. Ein paarHäuser stehen rum. Es fängt an, wo Lurupaufhört. Lurup ist ein langweiliger Stadtteil,ganz am Rand von Hamburg. Wir gehörenzum Kreis Pinneberg, sind in Schleswig-Holsteinangesiedelt. Ein besseres Kaff. Das istdie Provinz: Blankenese geht anders. NiedrigeWohnblöcke, Reihenhäuser und eine freieTankstelle „Kattner“ prägen die Gegend. Einschmales Rinnsal erweitertsich an einemStaubecken, das mitKraut zugewachsenwenig Eindruck macht;die Düpenau suchtnoch das Meer. DerCharkter dieses nichtso schönen Schenefeldeswill nicht rechtsichtbar werden. Immerhin,wir haben eineansprechende, kleineKirche im Dorf.Im Norden heißt die Gemeinde schlichtSiedlung. Nicht weit entfernt, über einenKreisel, erreicht man die Autobahn inRichtung Nordsee, Sylt, die Insel der Schönenund Reichen, schließlich Dänemark.Das freie Wasser erstreckt sich über denAtlantik bis nach New York. Das sollte manschon hinschreiben. Gut angebunden andie weite Welt ist dieses Ende schon. Daoben, in der Siedlung von Schenefeld, woes ein China-Restaurant gibt und einenAldi, ist eine weitere Kirche. Sie hat denCharme einer Fabrikhalle aus Beton. Wenigstensein nettes Türmchen haben dieLeute in einiger Entfernung hingestellt.Das ist, damit man die architektonischeArmseligkeit (zu der die Siedler nach demKrieg, Vertriebene aus dem Osten, gerademal fähig waren) nicht bemerken soll?Schenefeld! Im Zentrum durchschneidetuns eine Straße nach Pinneberg, auf derman hundert fahren darf. In der durch dieRasenden zweigeteilten Mitte befindet sichtatsächlich das „Stadtzentrum“.Das ist aber keines, sonderndiese Blechbuchstaben sindder Name eines Einkaufszentrums.Es hat größtenteilsLeerstand. Es gibteinen Supermarkt, dasFitnesszentrum unddie Haspa. Man darfsich eine Hose kaufenund Mittagstisch essen,Eis. Im Tabakladendes Einkaufstempels– die hochtrabendeBezeichnung imTageblatt amüsiert– kannst du deine Briefe abgeben.Der Discounter unter den Shoppingcenternregt nicht zum Verweilen an.Es gibt nichts, das von kaufgeilenWohlstandsdeutschen verzückt angebetetwürde. Ein Tempel ist es nurfür Konsumenten, welche das „Elbe“ mangelsLiquidität meiden.Alternativ läuft man auf die alte Landstraßebis ins Dorf zu „Timmse und die Hörspiele“.Die nehmen auch Briefe und Pakete an. Sieverkaufen Briefmarken. Das ist ursprünglichein Krämerladen gewesen, der (vermutlichzur Existenzsicherung) sein Angebot erweiterthat. Es gibt gebrauchte Kompaktkassettenaus den Achtzigern, Spiele, und einigesZeugs von früher liegt im Schaufenster. Titelmeiner Kindheit: Hui-Buh, das Schlossgespenst,TKKG und die drei Fragezeichenerweitern das verstaubte Interieur einervergessenen Zeit. Bandsalat war gestern?Nicht bei „Timmse“. Peng! Elektro, KommissarBikloppski brennt durch; so was in der Artmöchte noch gekauft werden. Die richtigePost, die wir einmal am Rathaus kannten, hatdauerhaft dichtgemacht.Da werdenAltkleider gelagertvom „Glücksgriff“,ein Second-Hand-Geschäft. Wir sindgar keine Stadt imeigentlichen Sinnemehr. Wie gesagt,nur ein paar Häuser,und die Menschenfahren nach Hamburgzur Arbeit. Esgibt eine Busverbindung.Im Dorf gehen einige auch zu Fuß. Ichlaufe hier täglich rum. Dieses Plakat, mankönnte es bemerken: Bei „Timmse“ hängt derAufruf, ein neues Logo samt Motto für dieGemeinde zu gestalten. Die Bürgermeisterinunterstreicht unsere Wichtigkeit (und ihreeigene) gern. Ein zünftiger Schnack, daswär’s doch. „Schenefeld, die Stadt am Stadtrand“oder so? Dazu das Wappen in grün mitden bekannten Schmuckelementen, Spatenund Rad. Dazwischen eiert die Düpenaudurch oder die Landstraße-Schenefeld-Elmshorn eben, die über Pinneberg hinausnie fertig gebaut wurde, Elmshorn tatsächlichzu erreichen. Wie du das interpretierenwillst? Hammer und Sichel lassen grüßen.Ein Logo zu entwerfen, ist eine interessanteAufgabe. Das kam in meiner grafischen Laufbahneinige Male vor, dass ich mich daranversucht habe.# Hamburg, das Tor zur Welt!Erinnerungengewinnen anWichtigkeitmit zunehmendenAlter. Anfangder Achtzigerjahrewar ich beiSchlotfeldtPraktikant,eineseinerzeitbekannteWerbeagenturin der Hansastraße, Ecke Mittelweg(beim Stadion). Gleich zu Beginn meinerAusbildung hatten wir „Winschermann“ zubetreuen, die fuhren Heizöl in Tanklastwagenzum Kunden, bekamen einen orangenStrich auf weiß. Wir verwendeten Helvetica,das war modern.Das eigene Motto, unverwechselbare Zeichen,ein Logo, Farben, ausgesuchte Formendes Designs, bestimmte Schriften einemUnternehmen an die Seite stellen: CorporateIdentity zu definieren, bedeutet dasgewünschte Erscheinungsbild eines Systemsoder Firma zu erschaffen. Ein Konzept, dasmittels der Werbung kommuniziert wird.Die Stadt ist auch Auftraggeber gewesen.Die Hamburg-Werbung kannte man mit roterBurg in HKS 13, begleitet von Mottosätzen„Hamburg ist Alster“ (und ähnlich) auf Blau41. Es gab immer neue Aktionen. Einmalmachten wir ein Plakat mit Nummernschildern,die an den Wagen auf den Straßen derWeltstadt irgendwo fotografiert waren. Soan die zwanzig verschiedene hatten wir be-Mai 5, 2022 - „Das Ohr zur Welt“ 73 [Seite 73 bis 75 ]

„Das Ohr zur Welt“

Mai 5, 2022

Schenefeld ist nichts besonderes. Ein paar

Häuser stehen rum. Es fängt an, wo Lurup

aufhört. Lurup ist ein langweiliger Stadtteil,

ganz am Rand von Hamburg. Wir gehören

zum Kreis Pinneberg, sind in Schleswig-Holstein

angesiedelt. Ein besseres Kaff. Das ist

die Provinz: Blankenese geht anders. Niedrige

Wohnblöcke, Reihenhäuser und eine freie

Tankstelle „Kattner“ prägen die Gegend. Ein

schmales Rinnsal erweitert

sich an einem

Staubecken, das mit

Kraut zugewachsen

wenig Eindruck macht;

die Düpenau sucht

noch das Meer. Der

Charkter dieses nicht

so schönen Schenefeldes

will nicht recht

sichtbar werden. Immerhin,

wir haben eine

ansprechende, kleine

Kirche im Dorf.

Im Norden heißt die Gemeinde schlicht

Siedlung. Nicht weit entfernt, über einen

Kreisel, erreicht man die Autobahn in

Richtung Nordsee, Sylt, die Insel der Schönen

und Reichen, schließlich Dänemark.

Das freie Wasser erstreckt sich über den

Atlantik bis nach New York. Das sollte man

schon hinschreiben. Gut angebunden an

die weite Welt ist dieses Ende schon. Da

oben, in der Siedlung von Schenefeld, wo

es ein China-Restaurant gibt und einen

Aldi, ist eine weitere Kirche. Sie hat den

Charme einer Fabrikhalle aus Beton. Wenigstens

ein nettes Türmchen haben die

Leute in einiger Entfernung hingestellt.

Das ist, damit man die architektonische

Armseligkeit (zu der die Siedler nach dem

Krieg, Vertriebene aus dem Osten, gerade

mal fähig waren) nicht bemerken soll?

Schenefeld! Im Zentrum durchschneidet

uns eine Straße nach Pinneberg, auf der

man hundert fahren darf. In der durch die

Rasenden zweigeteilten Mitte befindet sich

tatsächlich das „Stadtzentrum“.

Das ist aber keines, sondern

diese Blechbuchstaben sind

der Name eines Einkaufszentrums.

Es hat größtenteils

Leerstand. Es gibt

einen Supermarkt, das

Fitnesszentrum und

die Haspa. Man darf

sich eine Hose kaufen

und Mittagstisch essen,

Eis. Im Tabakladen

des Einkaufstempels

– die hochtrabende

Bezeichnung im

Tageblatt amüsiert

– kannst du deine Briefe abgeben.

Der Discounter unter den Shoppingcentern

regt nicht zum Verweilen an.

Es gibt nichts, das von kaufgeilen

Wohlstandsdeutschen verzückt angebetet

würde. Ein Tempel ist es nur

für Konsumenten, welche das „Elbe“ mangels

Liquidität meiden.

Alternativ läuft man auf die alte Landstraße

bis ins Dorf zu „Timmse und die Hörspiele“.

Die nehmen auch Briefe und Pakete an. Sie

verkaufen Briefmarken. Das ist ursprünglich

ein Krämerladen gewesen, der (vermutlich

zur Existenzsicherung) sein Angebot erweitert

hat. Es gibt gebrauchte Kompaktkassetten

aus den Achtzigern, Spiele, und einiges

Zeugs von früher liegt im Schaufenster. Titel

meiner Kindheit: Hui-Buh, das Schlossgespenst,

TKKG und die drei Fragezeichen

erweitern das verstaubte Interieur einer

vergessenen Zeit. Bandsalat war gestern?

Nicht bei „Timmse“. Peng! Elektro, Kommissar

Bikloppski brennt durch; so was in der Art

möchte noch gekauft werden. Die richtige

Post, die wir einmal am Rathaus kannten, hat

dauerhaft dichtgemacht.

Da werden

Altkleider gelagert

vom „Glücksgriff“,

ein Second-Hand-

Geschäft. Wir sind

gar keine Stadt im

eigentlichen Sinne

mehr. Wie gesagt,

nur ein paar Häuser,

und die Menschen

fahren nach Hamburg

zur Arbeit. Es

gibt eine Busverbindung.

Im Dorf gehen einige auch zu Fuß. Ich

laufe hier täglich rum. Dieses Plakat, man

könnte es bemerken: Bei „Timmse“ hängt der

Aufruf, ein neues Logo samt Motto für die

Gemeinde zu gestalten. Die Bürgermeisterin

unterstreicht unsere Wichtigkeit (und ihre

eigene) gern. Ein zünftiger Schnack, das

wär’s doch. „Schenefeld, die Stadt am Stadtrand“

oder so? Dazu das Wappen in grün mit

den bekannten Schmuckelementen, Spaten

und Rad. Dazwischen eiert die Düpenau

durch oder die Landstraße-Schenefeld-

Elmshorn eben, die über Pinneberg hinaus

nie fertig gebaut wurde, Elmshorn tatsächlich

zu erreichen. Wie du das interpretieren

willst? Hammer und Sichel lassen grüßen.

Ein Logo zu entwerfen, ist eine interessante

Aufgabe. Das kam in meiner grafischen Laufbahn

einige Male vor, dass ich mich daran

versucht habe.

# Hamburg, das Tor zur Welt!

Erinnerungen

gewinnen an

Wichtigkeit

mit zunehmenden

Alter. Anfang

der Achtzigerjahre

war ich bei

Schlotfeldt

Praktikant,

eine

seinerzeit

bekannte

Werbeagentur

in der Hansastraße, Ecke Mittelweg

(beim Stadion). Gleich zu Beginn meiner

Ausbildung hatten wir „Winschermann“ zu

betreuen, die fuhren Heizöl in Tanklastwagen

zum Kunden, bekamen einen orangen

Strich auf weiß. Wir verwendeten Helvetica,

das war modern.

Das eigene Motto, unverwechselbare Zeichen,

ein Logo, Farben, ausgesuchte Formen

des Designs, bestimmte Schriften einem

Unternehmen an die Seite stellen: Corporate

Identity zu definieren, bedeutet das

gewünschte Erscheinungsbild eines Systems

oder Firma zu erschaffen. Ein Konzept, das

mittels der Werbung kommuniziert wird.

Die Stadt ist auch Auftraggeber gewesen.

Die Hamburg-Werbung kannte man mit roter

Burg in HKS 13, begleitet von Mottosätzen

„Hamburg ist Alster“ (und ähnlich) auf Blau

41. Es gab immer neue Aktionen. Einmal

machten wir ein Plakat mit Nummernschildern,

die an den Wagen auf den Straßen der

Weltstadt irgendwo fotografiert waren. So

an die zwanzig verschiedene hatten wir be-

Mai 5, 2022 - „Das Ohr zur Welt“ 73 [Seite 73 bis 75 ]

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