Ausgabe 203
Magazin mit Berichten von der Politik bis zur Kultur: ab 2022 vier Mal jährlich mit bis zu 170 Seiten Österreich.
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ÖSTERREICH JOURNAL NR. <strong>203</strong> / 04. 07. 2022<br />
Unsere Sprache verändert sich ständig.<br />
WissenschafterInnen der Universität<br />
Wien fanden heraus, daß jene Lautmuster,<br />
die häufig in unserer Sprache vorkommen,<br />
über Jahrhunderte hinweg noch häufiger<br />
wurden. Der Grund dafür ist, daß häufige<br />
und daher prototypische Lautmuster von un -<br />
serem Gehirn leichter wahrgenommen und<br />
erlernt, und folglich noch häufiger benutzt<br />
werden. Die Erkenntnisse ihrer Studie veröffentlichten<br />
die Forschenden im Fachjournal<br />
Cognitive Linguistics.<br />
Sprachen aus früheren Zeiten und unsere<br />
heutigen Sprachen unterscheiden sich grundlegend,<br />
und zwar nicht nur in ihrem Vokabular<br />
und ihrer Grammatik, sondern auch in der<br />
Aussprache. Theresa Matzinger und Nikolaus<br />
Ritt vom Institut für Anglistik der Universität<br />
Wien untersuchten, welche Faktoren<br />
für diesen Wandel von Sprachlauten verantwortlich<br />
sind und was uns derartige Lautwandelphänomene<br />
über die allgemeinen<br />
Fähigkeiten unseres Gehirns sagen können.<br />
Wir bevorzugen in unserer Sprache jene<br />
Lautmuster, die häufig vorkommen<br />
Zum Beispiel wurde das englische Wort<br />
make („machen“) im frühen Mittelalter als<br />
„ma-ke“, also mit zwei Silben und einem<br />
kurzen „a“ ausgesprochen, während es im<br />
spä ten Mittelalter als „maak“, also mit einer<br />
Silbe und einem langen „a“ ausgesprochen<br />
wurde. Der Verlust der zweiten Silbe und die<br />
gleichzeitige Verlängerung des Vokals wie es<br />
beim Wort make passierte, kam bei vielen<br />
englischen Wörtern des Mittelalters vor.<br />
Doch wieso kam es dazu, daß Vokale von<br />
Wörtern, die ihre zweite Silbe verloren und<br />
einsilbig wurden, länger ausgesprochen wurden?<br />
Um dies herauszufinden, analysierten<br />
Matzinger und Ritt mehr als 40.000 Wörter<br />
aus englischen Texten des frühen Mittelalters.<br />
Die WissenschafterInnen bestimmten<br />
die Länge der Vokale dieser Wörter, unter an -<br />
derem, indem sie Wörterbücher zu Hilfe<br />
nahmen oder angrenzende Laute berücksichtigten.<br />
Danach zählten sie, wie häufig Wörter<br />
mit langen und kurzen Vokalen waren.<br />
Wissenschaft & Technik<br />
Wie unser Gehirn die Veränderung<br />
von Sprache beeinflußt<br />
Lautwandelphänomene im Mittelalter geben<br />
Aufschluß über die Wahrnehmung von Sprache<br />
Foto: Pixabay<br />
Dabei fanden sie heraus, daß die Mehrheit<br />
der einsilbigen Wörter des Mittelalters lange<br />
Vokale hatten und nur eine Minderheit kurze<br />
Vokale. „Wenn SprecherInnen einsilbige Wör -<br />
ter mit einem kurzen Vokal aussprachen,<br />
klangen diese Wörter ,eigenartig‘ und wurden<br />
von ZuhörerInnen nicht so gut oder nicht<br />
so schnell erkannt oder erlernt, weil sie nicht<br />
in das gewohnte Lautmuster paßten. Wörter,<br />
die zu den häufig vorkommenden Lautmustern<br />
mit langem Vokal paßten, konnten hingegen<br />
leichter vom Gehirn verarbeitet werden“,<br />
erklärt Matzinger, die derzeit als Gastforscherin<br />
an der Universität Toruń (Polen)<br />
arbeitet.<br />
Sprachwandel funktioniert<br />
wie ein Stille-Post-Spiel<br />
Diese leichtere Wahrnehmbarkeit und Er -<br />
lernbarkeit von einsilbigen Wörtern mit langen<br />
Vokalen führten über Jahrhunderte hinweg<br />
dazu, daß immer mehr einsilbige Wörter<br />
lange Vokale bekamen. „Man kann sich<br />
Sprachwandel wie ein Stille-Post-Spiel vorstellen“,<br />
sagt Matzinger. „Eine Generation<br />
von SprecherInnen spricht eine bestimmte<br />
»Österreich Journal« – https://kiosk.oesterreichjournal.at<br />
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Sprachvariante. Deren Kinder nehmen Mu -<br />
ster, die in der Sprache der Elterngeneration<br />
häufig vorkommen, besser wahr, lernen sie<br />
daher schneller und benutzen sie daher noch<br />
häufiger. Diese zweite Generation gibt an<br />
ihre eigenen Kinder daher eine leicht veränderte<br />
Sprache weiter.“<br />
Wir erkennen diesen langsamen Sprachwandel<br />
auch daran, daß unsere Großeltern,<br />
wir selbst und unsere Kinder leicht unterschiedlich<br />
sprechen. Wenn dieser Prozeß je -<br />
doch über Jahrhunderte hinweg abläuft, entstehen<br />
Sprachvarianten, die so unterschiedlich<br />
sind, daß man sie kaum mehr verstehen<br />
kann. „In unserer Studie konnten wir zeigen,<br />
daß die allgemeine Fähigkeit unseres Ge -<br />
hirns, häufige Dinge bevorzugt wahrzunehmen<br />
und zu erlernen, ein wichtiger Faktor<br />
ist, der bestimmt, wie sich Sprachen verändern“,<br />
faßt Matzinger zusammen. Ein nächster<br />
Schritt in der Forschung ist, diese Häufigkeiten<br />
von sprachlichen Mustern auch bei<br />
anderen Sprachwandelphänomenen oder in<br />
anderen Sprachen als Englisch zu untersuchen.<br />
n<br />
https://www.univie.ac.at/