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Ausgabe 203

Magazin mit Berichten von der Politik bis zur Kultur: ab 2022 vier Mal jährlich mit bis zu 170 Seiten Österreich.

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ÖSTERREICH JOURNAL NR. <strong>203</strong> / 04. 07. 2022<br />

Österreich, Europa und die Welt<br />

108<br />

massenweise dafür auch den Tod fanden,<br />

stellten die Sitsch-Schützen eine national be -<br />

wußte und hochmotivierte kleine Elite dar,<br />

die nach Kriegsende im November 1918 eine<br />

wichtige Rolle spielen sollte. In ihren Reihen<br />

kämpfte auch ein Habsburgischer Erzherzog,<br />

Wilhelm von Habsburg, Wasylʼ<br />

Wyschywanyj, wie ihn die Ukrainer liebevoll<br />

nennen, in dem man nicht nur einen mi -<br />

litärischen Anführer, sondern auch den Fürsten<br />

einer zukünftigen, auf den Trümmern<br />

des besiegten Zarenreichs erbauten Ukraine<br />

sah. Wilhelm bezahlte für diese Visionen mit<br />

dem Tod im Kiewer Untersuchungsgefängnis<br />

1948; vor kurzem hat man ihm in Kiew<br />

ein Denkmal gesetzt, in Charkiw, das heute<br />

für ganz andere Schlagzeilen sorgt, wurde<br />

Anfang Oktober 2021 eine Oper über ihn<br />

uraufgeführt.<br />

Schon nach der Februarrevolution 1917<br />

entstand in Kiew ein neuer ukrainischer<br />

Staat, die Ukrainische Volksrepublik, die bis<br />

1922 Bestand hatte, dann aber der bolschewistischen<br />

Übermacht zum Opfer fiel und<br />

einer sozialistischen Sowjetrepublik weichen<br />

mußte. Anders verliefen die Ereignisse im<br />

österreichischen Ostgalizien, wo am 1. No -<br />

vember 1918 ukrainische Verbände die Stadt<br />

Lemberg besetzten und die Westukrainische<br />

Volksrepublik ausriefen. Dieser ukrainische<br />

Staat konnte sich für ein gutes halbes Jahr in<br />

Stanislau (heute Iwano-Frankiwsk) etablieren,<br />

bevor er im Mai 1919 der polnischen mi -<br />

litärischen Übermacht weichen mußte. Die<br />

Regierung emigrierte nach Wien, wo sie bis<br />

1921 existierte. Im Frühjahr 1919 hatte es<br />

noch einen Versuch gegeben, beide Republiken<br />

zu einem ukrainischen Staat zu vereinigen,<br />

der aber über eine symbolische Geste<br />

nicht hinauskam.<br />

© Wikipedia / / CC-BY 4.0 / Österreichische Nationalbibliothek<br />

© Iwan Franko<br />

Wilhelm von Habsburg (1895-1948)<br />

bzw. Wasylʼ Wyschywanyj, wie ihn die<br />

UkrainerInnen liebevoll nennen<br />

Wien als Ziel von Flüchtlingen<br />

Der Erste Weltkrieg und die Westukrainische<br />

Republik hatten ein spezifisches Echo<br />

in Österreich, vor allem in Wien. Schon von<br />

den ersten Kriegstagen an wurde Wien zum<br />

Ziel von Flüchtlingen, die aus Ostgalizien vor<br />

den russischen Armeen flohen, vor allem jüdi -<br />

sche Bewohner. Dazu kamen große Mengen<br />

von ruthenischer Zivilbevölkerung, die von<br />

den Behörden aus dem Gebiet der Kampfhandlungen<br />

zwangsevakuiert wurden – das<br />

gut dokumentierte Lager in Gmünd/NÖ be -<br />

herbergte in Spitzenzeiten bis zu 100.000<br />

Flüchtlinge, die Mehrheit davon Ukrainer.<br />

Im Lager Gmünd, das vor allem von Frauen,<br />

Kindern und alten Menschen belegt war, gab<br />

es eine Kirche und Schulen, und auch ein<br />

reges kulturelles Leben. Im oberösterreichischen<br />

Freistadt waren im sog. „Ukrainerlager“<br />

Kriegsgefangene aus den zaristischen<br />

Armeen interniert, Ukrainer, die aufgrund<br />

ihrer Uniformen häufig als „Russen“ galten.<br />

Auch dort erschienen Zeitschriften und Broschüren,<br />

entstanden literarische Texte, die<br />

ein kleines Zeugnis von dem Geist bewahrt<br />

haben, der in diesen Lagern herrschte und<br />

nicht nur von der Rückkehr in die Heimat,<br />

sondern auch vom Glauben an eine wiedergeborene,<br />

neue und bessere Ukraine beseelt<br />

ist. Besonders negativ konnotiert ist im ukrai -<br />

Iwan Franko, Ein Held wider Willen<br />

nischen historischen Bewußtsein das Lager<br />

Thalerhof bei Graz (die letzten Reste mußten<br />

dem Bau des gleichnamigen Flughafens weichen),<br />

wo politische Gefangene interniert<br />

waren, ruthenischen Pfarrer und Intellektuelle,<br />

die man – in der Regel völlig zu Unrecht<br />

– der Spionage für die Russen verdächtigt<br />

hatte. Die große Zahl von Todesopfern in<br />

diesem Lager, auch auf die schlechten hygienischen<br />

Verhältnisse zurückzuführen, trägt<br />

dazu bei, daß Thalerhof auch in der Ge -<br />

schichte der österreichisch-ukrainischen Be -<br />

ziehungen einen traurigen Tiefpunkt darstellt.<br />

Ukrainisches kulturelles Leben in Wien<br />

In Wien entwickelte sich in den Jahren<br />

un mittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ein<br />

reges ukrainisches kulturelles Leben, Zeitungen,<br />

Zeitschriften und Broschüren erschie nen<br />

in ukrainischer und vereinzelt auch in deutscher<br />

Sprache. Intellektuelle und Künstler,<br />

die aus Lemberg, manchmal sogar aus Kiew<br />

geflohen waren gründeten 1921 in Wien die<br />

Freie Ukrainische Universität, die aber noch<br />

im selben Jahr nach Prag übersiedelte; 1944<br />

zog sie von dort nach München weiter, wo<br />

sie bis heute tätig ist. Mit den Jahren 1922/<br />

1923 kam auch schon das Ende des großen<br />

ukrainischen Exils in Wien, der Schwerpunkt<br />

der ukrainischen Diaspora verlagert sich nach<br />

Prag, wo Präsident Masaryk viel Ver ständnis<br />

für die Nöte der russischen, ukrainischen<br />

und weißrussischen Emigration zeigte.<br />

Zu einer zweiten ukrainischen Emigration<br />

in Österreich kam es nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg, nur daß die ukrainischen Flüchtlinge<br />

jetzt Wien mieden (dort gab es ja auch<br />

eine sowjetische Zone) und sich in Salzburg,<br />

dem nahen Bayern und Tirol niederließen.<br />

Wiederum wurde in den Flüchtlingslagern<br />

das kulturelle Leben rasch wiederhergestellt,<br />

es gab Schulen, Theatergruppen, Zeitschriften,<br />

ein Gymnasium und Kirchen des orthodoxen<br />

wie auch des griechisch-katholischen<br />

Ritus. Auch die zweite ukrainische Emigration<br />

blieb, von kleinen Resten abgesehen,<br />

nicht lang in Österreich, ab 1947 wurde Mün -<br />

chen zum Zentrum der ukrainischen Diaspora,<br />

und von dort ging es wenig später weiter<br />

nach Übersee.<br />

Dritte ukrainische Emigration<br />

Heute sind wir Zeitzeugen einer dritten<br />

ukrainischen Emigration in Österreich und<br />

es liegt auch an uns ÖsterreicherInnen, den<br />

Menschen aus der Ukraine in einer Situation,<br />

da deren Heimat von einer bespiellosen<br />

Katastrophe heimgesucht wird, Schutz zu<br />

bieten und zu helfen.<br />

n<br />

»Österreich Journal« – https://kiosk.oesterreichjournal.at

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