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Ausgabe 203

Magazin mit Berichten von der Politik bis zur Kultur: ab 2022 vier Mal jährlich mit bis zu 170 Seiten Österreich.

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ÖSTERREICH JOURNAL NR. <strong>203</strong> / 04. 07. 2022<br />

Österreich, Europa und die Welt<br />

106<br />

© Wikipedia / / CC-BY 4.0 / Foto: Roman Naumov<br />

Der 1744 von der russischen Kaiserin Elisabeth in Auftrage gegebene Marien-Palast in Kiew ist offizielle Residenz des Präsidenten der Ukraine.<br />

Es handelt sich hier um einen Bau von Bartolomeo Francesco Rastrelli ist, der vielen vielleicht durch seine Paläste in Petersburg bekannt ist.<br />

sall des russischen Zaren, ging 1708 auf die<br />

Seite des schwedischen Königs Karls XII.<br />

über. Mazepas Bündnis mit dem Schweden<br />

ist nicht nur von den militärischen Erfolgen<br />

des scheinbar unbesiegbaren jungen Königs<br />

bedingt, es stellt auch einen Versuch dar, die<br />

Ukraine mit Hilfe eines neuen, „westlichen“<br />

Bündnispartners unabhängig zu machen. Die -<br />

ser Versuch scheitert ein Jahr später in der<br />

Schlacht von Poltawa 1709. Karl XII. mußte<br />

seine erste große und zugleich definitive Nie -<br />

derlage hinnehmen, Rußlands Aufstieg zur<br />

europäischen Großmacht war gesichert. Für<br />

die Ukrainer, die übrigens ihrem Hetman bei<br />

seinem Wechsel auf die schwedi sche Seite<br />

nur zu einem kleineren Teil ge folgt waren,<br />

war diese Niederlage fatal: ab gesehen vom<br />

grausamen Blutgericht, das Peter über die<br />

„Verräter“ befahl (Mazepa konnte sich zu -<br />

sammen mit Karl ins türkische Exil retten, er<br />

starb noch im selben Jahr) und der nicht<br />

weniger brutalen Zerstörung von Mazepas<br />

Hauptstadt Baturin, stellt Poltawa den Be -<br />

ginn einer massiven Russifizierung dar.<br />

Vormauer der Christenheit<br />

Kurz vor seinem Wechsel auf die schwedische<br />

Seite schrieb Mazepa einen Brief nach<br />

Wien an Joseph I., Kaiser des Römischen<br />

Reichs, mit der Bitte um Erhebung in den<br />

Stand eines Reichsfürsten. Die Begründung,<br />

die Mazepa in diesem deutsch abgefaßten<br />

Schreiben anführt, ist typisch für das ukrainische<br />

Selbstverständnis der Frühen Neuzeit:<br />

Mazepa und seine Kosaken hätten<br />

schon immer die Feinde der Christenheit von<br />

deren Grenzen abgehalten und wären auch in<br />

Zukunft bereit, als eine „Vormauer der gantzen<br />

Christenheit uns willig bey allen Vorfallenheiten<br />

gebrauchen zu lassen“. Hier wird<br />

die Vorstellung von einem „antemurale Christianitatis“,<br />

einer Vormauer der Christenheit“,<br />

gebraucht, die sich auch im Selbstverständnis<br />

anderer mitteleuropäischer Nationen findet.<br />

Das schließt aber ein, daß diese Vormauer<br />

noch auf dem Gebiet des christlichen<br />

Abend lands steht, das es zu verteidigen gilt –<br />

d.h. die Ukraine ist Teil dieser Hemisphäre,<br />

wenn auch ganz an deren Rand (so auch die<br />

Etymologie des Wortes „Ukraine“ – „am<br />

Rand“ gelegen).<br />

Königreich Galizien und Lodomerien<br />

1772 kommen die Fürstentümer Halytsch<br />

und Wolodymyr (dieses nur zum geringeren<br />

Teil) an das Kaiserreich Österreich und werden<br />

mit dem Gebiet Kleinpolen im neugeschaffenen<br />

„Königreich Galizien und Lodomerien“,<br />

dem flächenmäßig größten Kronland<br />

des Habsburgerreichs, vereinigt. Seit<br />

1772 muß man die Geschichte der Ukraine<br />

in zwei Versionen schreiben, der Geschichte<br />

der Ruthenen (so die offizielle Bezeichnung<br />

der Ukrainer in Österreich) in Österreich und<br />

die der Kleinrussen (so wurden die Ukrainer<br />

aus „großrussischer“ Perspektive abschätzig<br />

bezeichnet) im Zarenreich. Eine Nation, die<br />

über zwei historische Narrative, aber die<br />

längste Zeit über keinen Staat verfügte, auch<br />

das ist typisch für die Ukraine. Der Vergleich<br />

dieser beiden Narrative ergibt, daß die Situation<br />

für die Ukrainer im Kaiserreich Österreich<br />

und in Österreich-Ungarn besser war,<br />

als in Rußland, vor allem in der zweiten<br />

Hälfte des 19. Jahrhunderts, als in Österreich<br />

seit der konstitutionellen Ära auch für die<br />

Ruthenen ein Mitspracherecht im Wiener<br />

Reichsrat gegeben war, in Rußland hingegen<br />

der Gebrauch des Ukrainischen im öffentli -<br />

chen Leben seit den 1870er Jahren völlig ver -<br />

boten wurde – ukrainische Bücher konnten<br />

also ab jener Zeit nur mehr im Ausland, vor<br />

allem in Galizien, gedruckt werden.<br />

Aber auch schon zu Beginn der habsburgischen<br />

Herrschaft über die heutige Westukraine<br />

wurden Maßnahmen ergriffen, die<br />

der ruthenischen Bevölkerung zugutekamen,<br />

wenn auch primär im religiösen Bereich (man<br />

nahm die Ruthenen als griechische Katholiken<br />

wahr, im Unterschied zu den römischkatholischen<br />

Polen). Die Ausbildung des<br />

griechisch-katholischen Klerus wurde gefördert,<br />

aus dem Stand der verheirateten Geistlichen<br />

entwickelte sich später die Schicht der<br />

ukrainischen Intelligenz, als die Pfarrersöhne<br />

nicht mehr nur Theologie, sondern Jus,<br />

Medizin, Philologie und andere weltliche<br />

Dis ziplinen studierten. Ab den 1870er-Jahren<br />

studierten die Ruthenen Galiziens in großer<br />

Zahl in Wien (die Universität in Lemberg war<br />

zu sehr von der polnischen Verwaltung do -<br />

miniert), die Matrikel der Wiener Universität<br />

weisen zahlreiche ukrainischen Namen auf.<br />

Der Gegensatz zwischen der polnischen<br />

Oberschicht Galiziens und der ruthenischen<br />

Unterschicht, die in Ostgalizien die große<br />

Mehrheit bildete, zeigte sich zum ersten Mal<br />

im Jahr des Völkerfrühlings, 1848. Nun<br />

schickten auch die Ruthenen, so wie zuvor<br />

schon die Polen, eine Petition nach Wien, in<br />

der man vor allem um sprachliche Autonomie<br />

bat. Ermutigt wurde man dabei von<br />

Franz Graf v. Stadion, der nicht nur die<br />

ruthenischen Volksvertreter in ihren Anlie-<br />

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