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Christoph Meyns | Georg Raatz: Was braucht die Gemeinde? (Leseprobe)

Für die seit rund zwanzig Jahren laufenden Veränderungsprozesse auf allen Ebenen der Kirche liegt der Fokus zunehmend auf Fragen der inhaltlichen Ausrichtung. Wie können die Aufgaben der Kirche unter diesen Herausforderungen weiterhin gut erfüllt werden? Welche ekklesiologischen, kirchen- und gemeindetheoretischen Konzepte erweisen sich für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert als glaubensfördernd? Und wie kann ein konstruktiv-kritisches Wechselspiel zwischen theologischer Theoriebildung und kirchlicher Organisationsentwicklung organisiert werden?  Auf Initiative der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) fand zu diesen Fragen eine Fachtagung statt, deren anregende Impulsreferate in diesem Band abgedruckt sind.

Für die seit rund zwanzig Jahren laufenden Veränderungsprozesse auf allen Ebenen der Kirche liegt der Fokus zunehmend auf Fragen der inhaltlichen Ausrichtung. Wie können die Aufgaben der Kirche unter diesen Herausforderungen weiterhin gut erfüllt werden?

Welche ekklesiologischen, kirchen- und gemeindetheoretischen Konzepte erweisen sich für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert als glaubensfördernd? Und wie kann ein konstruktiv-kritisches Wechselspiel zwischen theologischer Theoriebildung und kirchlicher Organisationsentwicklung organisiert werden? 

Auf Initiative der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) fand zu diesen Fragen eine Fachtagung statt, deren anregende Impulsreferate in diesem Band abgedruckt sind.

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<strong>Christoph</strong> <strong>Meyns</strong> / <strong>Georg</strong> <strong>Raatz</strong> (Hrsg.)<br />

<strong>Was</strong> <strong>braucht</strong> <strong>die</strong> <strong>Gemeinde</strong>?<br />

Zum Wechselspiel zwischen<br />

kirchlichen Transformationsprozessen<br />

und Ekklesiologie


Vorwort<br />

Die seit rund zwanzig Jahren laufenden Veränderungsprozesse<br />

auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens nehmen<br />

bestehende Herausforderungen wie den demographischen<br />

Wandel, Mitgliederschwund, abnehmende Finanzkraft oder<br />

den Fachkräftemangel auf und fragen nach möglichen Lösungen.<br />

Wie lässt sich <strong>die</strong> Arbeit so gestalten, dass <strong>die</strong> Aufgaben<br />

der Kirche unter sich ändernden Bedingungen erfüllt<br />

werden können? Der Fokus bei entsprechenden Prozessen,<br />

Strategien und Projekten liegt dabei zunehmend nicht mehr<br />

auf der Optimierung organisatorischer Zusammenhänge,<br />

sondern auf Fragen der inhaltlichen Ausrichtung und danach,<br />

welche ekklesiologischen und kirchen- und gemeindetheoretischen<br />

Konzepte sich für <strong>die</strong> evangelische Kirche im<br />

21. Jahrhundert als angemessen und glaubensfördernd erweisen.<br />

Wenngleich sich <strong>die</strong> Begleitung durch kircheninterne<br />

oder kirchenexterne Organisations- und <strong>Gemeinde</strong>beratung,<br />

Prozessbegleitung und Coachingangebote auf einem hohen<br />

Professionalisierungsgrad bewegen, wird eine Herausforderung<br />

immer deutlicher: Diese besteht darin, dass bei den laufenden<br />

Diskussionen Grundkonzepte und Bilder von Kirche,<br />

<strong>Gemeinde</strong> und Frömmigkeitspraxis implizit leitend sind und<br />

<strong>die</strong> Richtung steuern. Folgende Fragen stellen sich:<br />

– Wie können Entscheidungen in kirchlichen Transformationsprozessen<br />

von ekklesiologischen, kirchen- und gemeindetheoretischen<br />

Konzepten mitgetragen werden?<br />

5


Vorwort<br />

– Wie generiert <strong>die</strong> Ekklesiologie, Kirchen- und <strong>Gemeinde</strong>theorie<br />

ihre Expertise über <strong>die</strong> Kirchengemeinde?<br />

– Wie kann ein konstruktiv-kritisches Wechselspiel zwischen<br />

theologischer Theoriebildung und kirchlicher Organisationsentwicklung<br />

organisiert werden?<br />

Die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands<br />

(VELKD) hat mit einem Fachtag am 21. Januar 2021 dazu<br />

angeregt, über <strong>die</strong>se Fragen in einen Austausch zwischen Vertreterinnen<br />

und Vertretern aus Kirche und Wissenschaft zu<br />

treten. Den weiteren Kontext bildete ein längerer Reflexionsprozess<br />

innerhalb der VELKD zur Neukonzeption ihres<br />

<strong>Gemeinde</strong>kollegs. Aufgrund der Coronapandemie fand der<br />

Fachtag in Form einer Videokonferenz statt. Unter den ca. 50<br />

Teilnehmenden haben neben zahlreichen Verantwortlichen<br />

aus Landeskirchenämtern und landeskirchlichen Einrichtungen<br />

der Personalberatung und Organisationsentwicklung<br />

akademische Theologinnen und Theologen, zahlreiche<br />

Stu<strong>die</strong>rende, Vikarinnen und Vikare, Pfarrerinnen, Pfarrer<br />

und kirchliche Mitarbeitende, Vertreterinnen und Vertreter<br />

der mittleren und der bischöflichen Leitungsebene teilgenommen<br />

und ihre je eigene spezifische Expertise und regional<br />

unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven eingebracht.<br />

In einem ersten Block von Kurzimpulsen wurden von<br />

Pastorin Eva Gotthold (Neukloster, Landeskirche Hannovers),<br />

Pröpstin Britta Carstensen (Propstei Neustrelitz im Kirchenkreis<br />

Mecklenburg der Nordkirche) und von Kirchenrat Dr.<br />

Thomas Schlegel (Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche<br />

in Mitteldeutschland) Selbstbeschreibungen der Kirche<br />

aus der Perspektive der kirchgemeindlichen Ebene, der mittleren<br />

und landeskirchlichen Ebene eingebracht. Die Leitfrage<br />

lautete: „<strong>Was</strong> weiß <strong>die</strong> Kirche von der <strong>Gemeinde</strong>?“<br />

6


Vorwort<br />

In einem zweiten Slot von Impulsreferaten haben Prof. Dr.<br />

<strong>Georg</strong> Lämmlin (Sozialwissenschaftliches Institut der EKD),<br />

Prof. Dr. Eberhard Hauschildt (Theologische Fakultät der<br />

Universität Bonn) und PD Dr. Frederike van Oorschot (Forschungsstätte<br />

der Evangelischen Stu<strong>die</strong>ngemeinschaft e. V.)<br />

unter der Leitfrage „<strong>Was</strong> und woher weiß <strong>die</strong> theologische<br />

Ekklesiologie, Kirchen- und <strong>Gemeinde</strong>theorie von der <strong>Gemeinde</strong>?“<br />

aktuelle empirisch-sozialwissenschaftliche und<br />

kirchenentwicklungstheoretische Beobachtungen wie auch<br />

konzeptionelle Ideen zu einer digitalen Ekklesiologie vorgetragen.<br />

Wie kirchlich-praktische Erfahrungen und theologischwissenschaftliche<br />

Kirchentheorie miteinander in ein wechselseitig<br />

irritierendes und inspirierendes Gespräch kommen<br />

können, wurde in Workshops ausprobiert, <strong>die</strong> von den Impulsgeberinnen<br />

und -gebern geleitet wurden. Dabei ging es<br />

um praktische und sozialwissenschaftliche Empirie der Kirchengemeinde,<br />

um Kirchen- und <strong>Gemeinde</strong>theorie auf der<br />

mittleren Ebene und schließlich um <strong>Gemeinde</strong>bilder in den<br />

Perspektiven von Landeskirchenämtern und der Debatte zur<br />

Digitalisierung kirchlichen Lebens.<br />

In einem dritten und letzten Slot von zwei Impulsreferaten<br />

referierten OKR Dr. <strong>Georg</strong> <strong>Raatz</strong> (Amtsbereich der VELKD<br />

im Kirchenamt der EKD) und PD Dr. Johannes Greifenstein<br />

(Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität München)<br />

unter der Leitfrage „<strong>Was</strong> erwarten <strong>die</strong> Kirche/Kirchengemeinde<br />

und <strong>die</strong> Ekklesiologie, Kirchen- und <strong>Gemeinde</strong>theorie<br />

voneinander und wie ist ein Wechselspiel organisierbar?“<br />

zur Organisierbarkeit eines konstruktiven und kritischen<br />

Wechselspiels zwischen kirchlicher Reflexionspraxis<br />

und akademischer Theologie und zu wechselseitigen Erwartungen<br />

von Kirchenpraxis und -theorie.<br />

7


Vorwort<br />

Die Aussprachen im Plenum zu den Impulsen wie auch<br />

<strong>die</strong> Abschlussdiskussion haben bei den Teilnehmenden neben<br />

der Relevanz der Sachthemen insbesondere das Anliegen<br />

bestätigt, den Austausch zwischen Vertreterinnen und Vertretern<br />

der Kirchen und akademischer Theologie über das<br />

Verhältnis von Theologie und kirchlicher Praxis von Veränderungsprozessen<br />

und über <strong>die</strong> Wechselwirkungsmechanismen<br />

bei Kirchen- und <strong>Gemeinde</strong>entwicklungsprozessen zu<br />

intensivieren.<br />

Damit <strong>die</strong>ser Impuls nicht im Kreise der Teilnehmenden<br />

bleibt, werden <strong>die</strong> Referate des Fachtages in <strong>die</strong>sem Band dokumentiert<br />

und damit der interessierten Öffentlichkeit zur<br />

Verfügung gestellt. Den Impulsen wird ein Essay von Landesbischof<br />

Dr. <strong>Christoph</strong> <strong>Meyns</strong> vorangestellt, der aus der Perspektive<br />

eines kirchenleitenden Amtes <strong>die</strong> Herausforderungen<br />

skizziert, in deren Horizont auch das Thema und <strong>die</strong> Beiträge<br />

des Fachtages einzuordnen sind.<br />

Mit der Publikation ist <strong>die</strong> Hoffnung verbunden, dass der<br />

Austausch zwischen akademischer Theologie und kirchlicher<br />

Praxis von den Impulsen angeregt, auf verschiedenen Ebenen<br />

und Foren intensiviert wird und im Kontext der VELKD eventuell<br />

eine angemessene institutionelle Form findet.<br />

Allen Impulsgeberinnen und -gebern gilt unser großer<br />

Dank, ebenso allen Teilnehmenden für ihre Diskussionsbeiträge<br />

und Anregungen, Frau Kerstin Pfeiffer von der Bildungsabteilung<br />

des Kirchenamtes der EKD für das Hosting<br />

der Videokonferenz und OKRin Henrike Müller vom Amtsbereich<br />

der VELKD für <strong>die</strong> Moderation. Zu danken ist sodann<br />

der Arbeitsgruppe, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Tagung konzipiert und vorbereitet<br />

hat. Ihr gehörten neben den Herausgebern Pfarrer Matthias<br />

Ansorg (<strong>Gemeinde</strong><strong>die</strong>nst der EKM, Neu<strong>die</strong>tendorf), Kirsten<br />

Reimann (Soziologin an der Institutionsberatung der Nord-<br />

8


kirche, Hamburg), Diakon Henning Schulze-Drude (Mitglied<br />

der Kirchenleitung der VELKD, Hannover) und Pfarrer Harald<br />

Welge (Mitglied der Kirchenleitung der VELKD, Braunschweig)<br />

an. Für seine fachliche Beratung und Expertise ist <strong>die</strong> Arbeitsgruppe<br />

auch Pfarrer Peter Burkowski (Geschäftsführer der<br />

Führungsakademie für Kirche und Diakonie, Berlin) zu Dank<br />

verpflichtet.<br />

Der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig, ihrer Leiterin,<br />

Dr. Annette Weidhas, und Mitarbeitenden sind wir schließlich<br />

für Übernahme des Tagungsbandes in das Programm wie<br />

auch für alle verlegerische Begleitung und Beratung dankbar.<br />

Möge der Band der Realisierung dessen <strong>die</strong>nen, was Friedrich<br />

Schleiermacher in seiner kurzen Darstellung des Theologischen<br />

Studiums für das Zusammenwirken von Theologie<br />

und Kirche mehr erhofft als diagnostiziert:<br />

„Wie jene Kenntnisse nur durch das Interesse am Christenthum<br />

zu dem Ganzen verknüpft werden, welches <strong>die</strong> Theologie<br />

bildet; so kann auch nur durch <strong>die</strong> Aneignung jener<br />

wissenschaftlichen Kenntnisse das Interesse am Christenthum<br />

zu der zwekmäßigen Thätigkeit gedeihen, durch welche<br />

<strong>die</strong> Kirche wirklich erhalten und weiter gebildet wird.“ (Einleitung<br />

der 1. Auflage von 1811, § 8)<br />

Landesbischof Dr. <strong>Christoph</strong> <strong>Meyns</strong><br />

und Oberkirchenrat Dr. <strong>Georg</strong> <strong>Raatz</strong><br />

Braunschweig/Hannover in der Passionszeit 2022<br />

Vorwort<br />

9


Inhalt<br />

In ein Land, das ich dir zeigen will (1. Mose 12,1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

<strong>Gemeinde</strong>- und Kirchenleitungen stehen vor neuen<br />

Herausforderungen<br />

<strong>Christoph</strong> <strong>Meyns</strong><br />

<strong>Was</strong> <strong>braucht</strong> <strong>die</strong> <strong>Gemeinde</strong>? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />

Subjektive Wahrnehmungen und Antworten von der Basis<br />

Eva Gotthold<br />

Die Kirchengemeinde aus der Halbdistanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33<br />

(Ein-)Blick aus der pröpstlichen Praxis<br />

Britta Carstensen<br />

Der Dritte im Bunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47<br />

Einblicke in <strong>die</strong> Arbeit eines Landeskirchenamtes<br />

Thomas Schlegel<br />

Schlüsselfaktoren für <strong>Gemeinde</strong>entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63<br />

Empirische Beobachtungen und weiterführende Überlegungen<br />

<strong>Georg</strong> Lämmlin<br />

Kirche und <strong>Gemeinde</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89<br />

Fünf Schritte zu einer einfallsreichen Theologie<br />

Eberhard Hauschildt<br />

<strong>Gemeinde</strong>bilder und Kirchenverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109<br />

Zur (neu)eröffneten Debatte um <strong>Gemeinde</strong> und Ekklesiologie<br />

im Licht digitalen kirchlichen Lebens<br />

Frederike van Oorschot<br />

11


Inhalt<br />

Wie ist das Wechselspiel zwischen Kirche und Theologie<br />

organisierbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127<br />

Prolegomena zu einem komplexen Verhältnis<br />

<strong>Georg</strong> <strong>Raatz</strong><br />

Erwartung und Erfüllung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161<br />

Bemerkungen zur Konstellation, ,Kirchenpraxis und Kirchentheorie‘<br />

Johannes Greifenstein<br />

Autoren und Autorinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213<br />

12


<strong>Christoph</strong> <strong>Meyns</strong><br />

In ein Land, das ich dir zeigen will<br />

(1. Mose 12,1)<br />

<strong>Gemeinde</strong>- und Kirchenleitungen stehen vor<br />

neuen Herausforderungen<br />

Im Laufe der vergangenen dreißig Jahre sahen sich gemeindeund<br />

kirchenleitende Organe wiederholt gezwungen, den Umfang<br />

der kirchlichen Arbeit an sinkende Ressourcen anzupassen.<br />

Nach einer ersten Phase linearer Kürzungen von Sachmitteln<br />

und Personalstellen in den 1990er Jahren lösten hohe<br />

Kirchensteuerausfälle infolge der Senkung der Spitzensteuersätze<br />

in der Einkommensteuer zwischen 1999 und 2007 eine<br />

Welle von Strukturveränderungen aus: Kirchengemeinden,<br />

Kirchenkreise und Landeskirchen schlossen sich zusammen;<br />

Kindertagesstätten, diakonische Einrichtungen, Verwaltungsämter<br />

und allgemeinkirchliche Arbeitsfelder wurden zu größeren<br />

Organisationseinheiten verschmolzen; neue Formen<br />

der Zusammenarbeit entstanden.<br />

Mit den neuen Strukturen veränderten sich <strong>die</strong> Rollenanforderungen<br />

an haupt-, neben- und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter. So sind etwa in der Ev.-Luth. Landeskirche<br />

in Braunschweig alle 300 Kirchengemeinden seit<br />

2015 rechtlich verbindlich in 45 Gestaltungsräumen zusammengefasst.<br />

Ihnen sind drei bis sechs Pfarrerinnen und Pfarrer<br />

zugeordnet, <strong>die</strong> gemeinsam das Pfarramt bilden. Über<br />

Pfarrstellenbesetzungen, Seelsorgebezirke und funktionale<br />

Zuordnungen entscheiden Verbandsversammlungen. Auch<br />

Diakoninnen und Kirchenmusiker arbeiten zunehmend in<br />

13


<strong>Christoph</strong> <strong>Meyns</strong><br />

regionaler Verantwortung. In der Folge mussten Aufgaben,<br />

Verantwortlichkeiten und Entscheidungskompetenzen neu<br />

bedacht, beschrieben, ausgehandelt und eingeübt werden,<br />

ein langwieriger, mühsamer Prozess, der noch nicht überall<br />

abgeschlossen ist.<br />

Das Grundanliegen aller bisheriger Veränderungen bestand<br />

darin, <strong>die</strong> kirchliche Arbeit effizienter zu organisieren,<br />

um auf <strong>die</strong>se Weise <strong>die</strong> gewachsene Gestalt des kirchlichen Lebens<br />

trotz sinkender Einnahmen so weit wie möglich zu erhalten.<br />

Das ist nur teilweise gelungen. So erklärt sich der im<br />

Vergleich zur Mitgliederentwicklung überdurchschnittliche<br />

Rückgang der Gottes<strong>die</strong>nstbesucherzahlen seit 2001 dadurch,<br />

dass seitdem einsparungsbedingt an weniger Orten weniger<br />

Gottes<strong>die</strong>nste gefeiert werden. Im gleichen Zeitraum ging <strong>die</strong><br />

Zahl der Kinder- und Jugendgruppen und <strong>die</strong> der Kirchenchöre<br />

um ein Drittel, <strong>die</strong> der Bläserkreise um ein Viertel zurück.<br />

1 Das sind gravierende Einschnitte innerhalb nur einer<br />

halben Generation.<br />

Im Jahr 2019 veröffentlichte das Forschungszentrum Generationenverträge<br />

der Universität Freiburg eine Stu<strong>die</strong> mit<br />

dem Titel „Kirche im Umbruch – Projektion 2060“. 2 Sie untersuchte<br />

im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland<br />

und der Deutschen Bischofskonferenz, was geschehen wird,<br />

sollten sich bisherige Entwicklungen unverändert fortsetzen.<br />

Für <strong>die</strong> evangelischen Landeskirchen prognostizierten <strong>die</strong><br />

Freiburger Sozialforscher einen Rückgang der Mitgliederzahl<br />

1 Die Zahl der Mitglieder ging zwischen 2001 und 2019 um 22 Prozent zu -<br />

rück, <strong>die</strong> der Gottes<strong>die</strong>nstbesucher um 34 Prozent. Vgl. <strong>die</strong> von der EKD<br />

herausgegebenen „Äußerungen des kirchlichen Lebens für <strong>die</strong> Jahre 2001<br />

und 2019 unter https://www.ekd.de/statistiken-ueber-<strong>die</strong>-aeusserungendes-kirchlichen-lebens-44432.htm,<br />

Abruf am 7.8.2021.<br />

2 https://www.ekd.de/kirche-im-umbruch-projektion-2060-45516.htm.<br />

14


In ein Land, das ich dir zeigen will (1. Mose 12,1)<br />

zwischen 2017 und 2035 um etwa 22 Prozent und bis 2060 um<br />

49 Prozent in Verbindung mit einem Absinken der Finanzkraft<br />

um 26 bzw. 51 Prozent.<br />

Damit sind <strong>die</strong> Grenzen dessen erreicht, was sich durch<br />

den Abbau von Personalstellen, den Umbau von Strukturen,<br />

veränderte Abläufe und <strong>die</strong> Neuordnung von Verantwortlichkeiten<br />

erreichen lässt. Wir werden in den kommenden<br />

Jahren und Jahrzehnten nicht umhinkommen, grundsätzlicher<br />

als bisher Auftrag, Leitbilder, Ziele und Konzepte der<br />

kirchlichen Arbeit in Auseinandersetzung mit den hinter<br />

den sinkenden Mitgliederzahlen stehenden gesellschaftlichen<br />

Trends zu durchdenken und von da ausgehend Aufgaben,<br />

Abläufe, Strukturen sowie <strong>die</strong> Rollen haupt-, neben- und<br />

ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter neu zu<br />

beschreiben. Tun wir das nicht, werden inhaltliche Prioritäten<br />

nicht bezogen auf Umfeldbedingungen bewusst gesetzt,<br />

sondern bleiben den Zufälligkeiten kirchenpolitischer Prozesse<br />

und kurzfristigen pragmatischen Überlegungen überlassen.<br />

Strukturen verlieren ihre Funktionalität. Hauptamtliche<br />

Mitarbeitende geraten in eine Situation der Dauerüberforderung,<br />

Ehrenamtliche verlieren <strong>die</strong> Lust zur Mitarbeit.<br />

Im Hintergrund dessen, was Kirchengemeinden, übergemeindliche<br />

Arbeitsfelder und kirchliche Verwaltungsämter<br />

leisten, steht nach wie vor das traditionelle Bild der Kirche als<br />

staatsanalog gedachter Institution mit dem Anspruch, zentrale<br />

Instanz einer Lebens- und Weltanschauung von gesamtgesellschaftlicher<br />

Relevanz zu sein, in Verbindung mit flächendeckender<br />

Erreichbarkeit, Präsenz und Versorgung.<br />

Wenn im Laufe der kommenden Jahrzehnte <strong>die</strong> Bedeutung<br />

des christlichen Glaubens für das Leben des Einzelnen und<br />

das Gewicht der Stimme der Kirche in der Öffentlichkeit weiter<br />

abnimmt, verliert <strong>die</strong>ses Ideal jedoch zunehmend seine<br />

15


<strong>Christoph</strong> <strong>Meyns</strong><br />

Tragfähigkeit. Wir müssen uns damit auseinandersetzen,<br />

was es bedeutet, als Minderheit in einem lebens- und weltanschaulich<br />

pluralen Umfeld das Evangelium von Jesus Christus<br />

in Wort und Tat zu bezeugen.<br />

Dabei stehen wir jedoch über Begriffe wie „missionarische<br />

Kirche“ oder „Diasporatheologie“ hinaus erst am Anfang.<br />

Bisherige Konzepte und Projekte zum <strong>Gemeinde</strong>aufbau und<br />

prozessorientierte Ansätze der <strong>Gemeinde</strong>entwicklung greifen<br />

zu kurz, weil sie nur <strong>die</strong> Ebene der Ortsgemeinde im Blick<br />

haben, nicht aber das kirchliche Leben als Ganzes in der Komplexität<br />

verschiedener Sozial- und Organisationsformen. Im<br />

besten Fall entstehen auf <strong>die</strong>se Weise lokale Insellösungen auf<br />

Kosten anderer Orte ohne gesamtkirchliche Wirksamkeit. Es<br />

bedarf vielmehr der Entwicklung von mittel- und langfristig<br />

angelegten Strategien, <strong>die</strong> das kirchliche Leben in seiner Gesamtheit<br />

in den Blick nehmen und auf breite Umsetzung angelegt<br />

sind.<br />

Das Impulspapier der EKD „Kirche der Freiheit“ 3 von 2006<br />

war ein erster Versuch, in <strong>die</strong>se Richtung zu denken, zeigte jedoch<br />

zugleich, wie schlecht gerüstet <strong>die</strong> Kirche für <strong>die</strong>se Aufgabe<br />

ist. Es warb für eine Reform in Anlehnung an Vorstellungen<br />

aus Marketing und Management, um auf <strong>die</strong>se Weise<br />

<strong>die</strong> Bindung von Kirchenmitgliedern zu erhöhen, neue Mitglieder<br />

zu gewinnen und so gegen den Trend zu wachsen. Die<br />

sich daran anschließende kontroverse Diskussion zeigte jedoch,<br />

dass eine markttheoretische Perspektive nicht geeignet<br />

ist, <strong>die</strong> Wirklichkeit des kirchlichen Lebens angemessen zu<br />

erfassen. Sie konstruiert nichtzutreffende Kausalzusammen-<br />

3 Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Kirche der Freiheit. Perspektiven für <strong>die</strong><br />

evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier der EKD. Hannover<br />

2006.<br />

16


In ein Land, das ich dir zeigen will (1. Mose 12,1)<br />

hänge und denkt zu kurzfristig, überschätzt deshalb vorhandene<br />

Handlungsspielräume und vermutet sie zugleich an<br />

der falschen Stelle. Entsprechende Handlungsempfehlungen<br />

sind daher für eine inhaltliche Neuorientierung der kirchlichen<br />

Arbeit nicht geeignet. 4<br />

Zugleich machte der unreflektierte Import ökonomischer<br />

Ansätze der neoklassischen Denkweise deutlich, wie wenig<br />

<strong>die</strong> Theologie zu Fragen der Gestalt des kirchlichen Lebens in<br />

Orientierung an Wesen und Auftrag der Kirche und in Auseinandersetzung<br />

mit aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen<br />

beizusteuern hatte. Inzwischen sind eine Reihe von<br />

Veröffentlichungen erschienen, <strong>die</strong> das kirchentheoretische<br />

Defizit aufarbeiten. 5 Bei allen Unterschieden im Einzelnen<br />

verbindet <strong>die</strong> verschiedenen Modelle, dass sie <strong>die</strong> Kirche im<br />

Rückgriff auf CA VII und in Aufnahme der soziologischen<br />

Systemtheorie als Kommunikationsgeschehen beschreiben.<br />

Dabei unterscheiden sie zwischen drei aufeinander bezogenen<br />

Typen menschlicher Kommunikation, in denen sich das<br />

kirchliche Leben vollzieht:<br />

–<strong>die</strong> Dimension des Glaubens im Sinne der religiösen<br />

Kommunikation in Gottes<strong>die</strong>nst, Gebet, Kirchenmusik, sa-<br />

4 Vgl. <strong>Christoph</strong> <strong>Meyns</strong>, Kirchenreform und betriebswirtschaftliches<br />

Denken: Modelle – Erfahrungen – Alternativen, 2013.<br />

5 Vgl. Hans-Richard Reuter, Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht.<br />

In: Gerhard Rau/Hans-Richard Reuter/Klaas Schlaich (Hrsg.),<br />

Das Recht der Kirche. Band 1. Zur Theorie des Kirchenrechts, Gütersloh<br />

1997, 23–75; Jan Hermelink/Gerhard Wegner (Hrsg.), Paradoxien<br />

kirchlicher Organisation. Niklas Luhmanns frühe Kirchensoziologie und<br />

<strong>die</strong> aktuelle Reform der evangelischen Kirche, Würzburg 2008; Isolde<br />

Karle, Kirche im Reformstress, Gütersloh 2010; Jan Hermelink, Kirchliche<br />

Organisation und das Jenseits des Glaubens. Eine praktisch-theologische<br />

Theorie der evangelischen Kirche, Gütersloh 2011; Eberhard Hauschildt/Uta<br />

Pohl-Patalong, Kirche, Gütersloh 2014.<br />

17


<strong>Christoph</strong> <strong>Meyns</strong><br />

kraler Kunst, Architektur, Bildungshandeln und Diakonie,<br />

teilweise in Verbindung mit anderen Funktionen,<br />

– <strong>die</strong> Dimension persönlicher Begegnungen und menschlicher<br />

Beziehungen samt den damit verbundenen sozialen<br />

Dynamiken,<br />

– <strong>die</strong> Dimension der Organisation im Sinne der kirchenrechtlich<br />

geregelten, entscheidungsförmigen Kommunikation<br />

über Mitgliedschaft, Programme, Strukturen, Personal<br />

und Finanzen.<br />

So viel ist deshalb inzwischen klar: Überlegungen zur<br />

künftigen Ausrichtung der kirchlichen Arbeit müssen alle<br />

drei Ebenen des kirchlichen Lebens sowohl in ihrer jeweiligen<br />

Eigenlogik als auch in ihrem Zusammenwirken im Blick behalten.<br />

Aus <strong>die</strong>ser Perspektive betrachtet bestünde das Ziel in<br />

Konzepten für eine integrierte Kirchen- und <strong>Gemeinde</strong>entwicklung,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Vitalität und Stabilität des kirchlichen Lebens<br />

unter sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen<br />

fördern. Davon sind wir jedoch derzeit noch weit<br />

entfernt.<br />

Einige Veröffentlichungen zeigen, in welche Richtung gedacht<br />

werden müsste. So hat Niklas Luhmann bereits in den<br />

1970er Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass religiöse<br />

Kommunikation auf dichte dialogische Sozialbeziehungen<br />

angewiesen ist und sich zugleich formalen Entscheidungen<br />

über Mitgliedschaft, Strukturen, Personal und Finanzen entzieht,<br />

mit paradoxen Folgen für das kirchliche Leitungshandeln.<br />

6 Hans-Richard Reuter hat aufgezeigt, dass Fragen der<br />

Ordnung des kirchlichen Lebens über <strong>die</strong> Vorstellung der Kir-<br />

6 Niklas Luhmann, Die Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen.<br />

Gesellschaftliche Differenzierung. In: Schriften zur Organisation, Wiesbaden<br />

3 2019 (1972), 3–54.<br />

18


In ein Land, das ich dir zeigen will (1. Mose 12,1)<br />

che als Lebensgemeinschaft mit der Kirche als Glaubensgemeinschaft<br />

vermittelt werden müssen. 7 Bei Anna Stöber lässt<br />

sich nachlesen, wie Strategien aussehen müssten, <strong>die</strong> Inhalte,<br />

Beziehungen und Organisationsformen synergetisch aufeinander<br />

beziehen und wie stark dabei gemeinde- und kirchenleitende<br />

Perspektiven gemeinsam zu bedenken sind. 8 Isolde<br />

Karle hat <strong>die</strong> Ebene informeller Begegnungen als entscheidenden<br />

Faktor der kirchlichen Arbeit herausgearbeitet. 9 Für<br />

Jan Hermelink ist <strong>die</strong> Kirche eine Organisation zur öffentlichen<br />

Inszenierung des Glaubens. 10 Uta Pohl-Patalong spricht<br />

von der Kirche als Netzwerk kirchlicher Orte. 11<br />

Inzwischen haben in vielen Landeskirchen Zukunftsprozesse<br />

begonnen, um Themen der inhaltlichen Neuorientierung<br />

in Auseinandersetzung mit den Prognosen der Freiburger<br />

Stu<strong>die</strong> zu bearbeiten. In Bayern geschieht das etwa unter<br />

dem Stichwort „Profil und Konzentration“, im Rheinland<br />

spricht man von „Kirche mit leichtem Gepäck“, in der Nordkirche<br />

von „Horizonte“, in Braunschweig wird unter dem<br />

Motto „Lebendige Kirche 2030“ diskutiert. Die von der Synode<br />

7 Hans-Richard Reuter, Begriff der Kirche (s. Anm. 5).<br />

8 Ausführlich dazu vgl. Anna Stöber, Kirche – gut beraten? Betrachtung<br />

einer Kirchengemeinde aus betriebswirtschaftlicher und funktionalistisch-sys<br />

temtheoretischer Perspektive, Heidelberg 2005; Martin Gössler/Thomas<br />

Schweinschwaller, Spezifika von Nonprofit Organisationen<br />

und deren Beratung, in: OrganisationsEntwicklung 27 (2008) 2,<br />

48–56.<br />

9 Isolde Karle, Religion – Interaktion – Organisation, in: Jan Hermelink/<br />

Gerhard Wagner (Hrsg.), Paradoxien kirchlicher Organisation.<br />

Niklas Luhmanns frühe Kirchensoziologie und <strong>die</strong> aktuelle Reform der<br />

evangelischen Kirche, Würzburg 2008, 237–257.<br />

10 Jan Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens.<br />

11 Uta Pohl-Patalong, Von der Ortskirche zu kirchlichen Orten. Ein<br />

Zukunftsmodell, Göttingen 2 2006.<br />

19


<strong>Christoph</strong> <strong>Meyns</strong><br />

der EKD im November 2020 verabschiedete Schrift „Hinaus<br />

ins Weite – Kirche auf gutem Grund. Zwölf Leitsätze zur Zukunft<br />

einer aufgeschlossenen Kirche“ benennt Seelsorge und<br />

öffentliche Verantwortung als Grundaufgaben der Kirche,<br />

beschreibt notwendige organisatorische Veränderungen und<br />

Anregungen zur Neugestaltung des Mitgliedschaftsrechts<br />

sowie Themenfelder einer künftigen Ausrichtung der Arbeit<br />

wie z. B. Frömmigkeit, Mission, Digitalisierung, Kirchenentwicklung<br />

oder Interkulturalität.<br />

Mit all dem stehen wir jedoch erst am Anfang eines langen<br />

Weges. Personalstellen und Finanzmittel linear zu kürzen,<br />

gelingt innerhalb weniger Jahre. Strukturveränderungen<br />

benötigen von ersten Diskussionen über <strong>die</strong> dazu notwendigen<br />

Entscheidungen und ihre rechtliche Umsetzung<br />

bis hin zur Eingewöhnung in <strong>die</strong> neuen Arbeitszusammenhänge<br />

bis zu zehn Jahre. Mit den traditionellen Vorstellungen<br />

vom Auftrag der Kirche, den Idealen des kirchlichen Lebens<br />

und den damit verbundenen Rollenbeschreibungen<br />

stehen tief verwurzelte, mit dem kulturellen Kontext verwobene<br />

und bis ins Unbewusste reichende Prägungen auf dem<br />

Prüfstand. Veränderungen auf <strong>die</strong>ser Ebene des kirchlichen<br />

Lebens brauchen Jahrzehnte.<br />

Dabei stellen sich eine Reihe schwieriger Fragen. Sie betreffen<br />

zum einen <strong>die</strong> Situationsanalyse. So hat <strong>die</strong> Bindungskraft<br />

gesellschaftlicher Institutionen insgesamt stark abgenommen.<br />

Im Vergleich zu Parteien, Gewerkschaften und Vereinen<br />

ist <strong>die</strong> evangelische Kirche relativ stabil. Dabei ist nicht<br />

klar, was daran günstigen oder ungünstigen Rahmenbedingungen<br />

geschuldet ist, was an der kirchlichen Arbeit dazu<br />

beigetragen hat und deshalb bewahrt werden muss und was<br />

in Reaktion auf sich verändernde Umfeldbedingungen in<br />

welcher Weise angepasst werden sollte. Die Wahrnehmung<br />

20


In ein Land, das ich dir zeigen will (1. Mose 12,1)<br />

wird dadurch erschwert, dass <strong>die</strong> Kirche an generationsübergreifenden,<br />

sich der einfachen Machbarkeit entziehenden<br />

Prozessen der Identitäts-, Herzens- und Gewissensbildung<br />

arbeitet. Ergebnisse zeigen sich oft erst nach Jahrzehnten und<br />

Jahrhunderten. Wir sehen heute <strong>die</strong> Ergebnisse der Arbeit<br />

von gestern. Hinzu kommt, dass neben Fragen der konzeptionellen<br />

Ausrichtung solche der Vertrauensbildung, der Beziehungsgestaltung<br />

und der persönlichen Motivation eine<br />

wichtige Rolle spielen.<br />

Zum anderen sind <strong>die</strong> Ziele der Veränderung über <strong>die</strong> Benennung<br />

strategischer Themenfelder eines notwendigen<br />

Wandels hinaus bisher noch nicht klar. Wie beschreiben wir<br />

<strong>die</strong> wünschenswerte Zukunft in der Differenz zur Gegenwart?<br />

Wenn der Heilige Geist über Nacht das kirchliche Leben<br />

wie durch ein Wunder verändert hätte, was wäre dann konkret<br />

anders? Und ist <strong>die</strong>se Zukunft es wert, dafür einen entsprechenden<br />

Aufwand an Mühe, Geld, emotionaler Energie<br />

und Lebenszeit zu treiben? Mit welchen Risiken und nicht<br />

beabsichtigten Nebenwirkungen müssen wir rechnen?<br />

Zugleich ist zu bedenken, dass Veränderungen nur dann<br />

erfolgreich sind, wenn <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> sie umsetzen sollen,<br />

sich auf eine gemeinsame Beschreibung einigen. Das sind in<br />

der Regel nicht nur gemeinde- oder kirchenleitende Organe,<br />

sondern auch haupt-, neben- und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen<br />

in Kirchengemeinden, Kindertagestätten, Schulen<br />

und allgemeinkirchlichen Arbeitsfeldern. Es <strong>braucht</strong> also neben<br />

kirchenleitenden Impulsen langwierige, alle Ebenen des<br />

kirch-lichen Lebens übergreifende Diskussions- und Beteiligungsverfahren.<br />

Das wichtigste Thema, das zur Bearbeitung ansteht,<br />

scheint mir neben Auftragsverständnis, Zielen, und Arbeitskonzepten<br />

auf der Ebene der geistlichen Dimension des<br />

21


<strong>Christoph</strong> <strong>Meyns</strong><br />

kirchlichen Lebens zu liegen. Sichtbare Erfolge der kirchlichen<br />

Arbeit beruhten in der Vergangenheit oft genug auf ihrem<br />

Missbrauch für fremde Zwecke. Heute kann sich <strong>die</strong> Verkündigung<br />

frei entfalten, scheint jedoch zugleich mehr oder<br />

weniger resonanzlos zu verhallen. Das vergrößert <strong>die</strong> Spannung<br />

zwischen Anspruch und Erfolg und weckt Zweifel an<br />

der Macht des Wortes Gottes. Es liegt nahe, sich in der Folge<br />

entweder resigniert mit kleinen Zahlen abzufinden oder in<br />

Taten zu fliehen, <strong>die</strong> den Zweifel kompensieren sollen. Vor<br />

<strong>die</strong>sem Hintergrund müssen wir uns davon freimachen, Gottes<br />

Segen mit sichtbaren Phänomenen quantitativen Wachstums<br />

zu identifizieren. Es gilt hineinzufinden in ein Vertrauen,<br />

das <strong>die</strong> Gegenwart Gottes gegen den Augenschein von<br />

Zahlen und Trends erglaubt und bereit ist, eine Haltung zu<br />

kultivieren, <strong>die</strong> voraussetzt, dass <strong>die</strong> Liebe Gottes verborgen<br />

inmitten der sichtbaren Armut des kirchlichen Lebens verborgen<br />

am Werk ist. 12<br />

Die anstehenden Zukunftsfragen lassen sich nicht kurzfristig<br />

lösen. Tragfähige Antworten zu finden, wird Zeit und<br />

Ressourcen brauchen. Neben Diskussions-, Entscheidungsund<br />

Umsetzungsprozessen auf den verschiedenen Ebenen<br />

der kirchlichen Praxis bedarf es dazu der begleitenden praktisch-theologischen<br />

Reflexion. Dabei besteht das Problem aus<br />

meiner Sicht darin, dass kirchentheoretische Ansätze bisher<br />

kaum in der kirchlichen Leitungspraxis angekommen sind<br />

und für <strong>die</strong> Weiterentwicklung der kirchlichen Arbeit fruchtbar<br />

gemacht wurden. Auch stehen im Bereich der Beratungs<strong>die</strong>nste<br />

zwar Formate zur Verfügung, <strong>die</strong> sich intensiv einer<br />

der drei Dimensionen des kirchlichen Lebens widmen. So för-<br />

12 Vgl. Christian Möller, Liebe und Planung. Hochgerechnete Volkskirche<br />

und Geheimnis der <strong>Gemeinde</strong>, in: EK 20 (1987), 76–80.<br />

22


In ein Land, das ich dir zeigen will (1. Mose 12,1)<br />

dert <strong>die</strong> geistliche Begleitung spirituelle Haltungen und<br />

Praktiken. Die Pastoralpsychologie arbeitet daran, <strong>die</strong> Kommunikations-<br />

und Beziehungsfähigkeit kirchlicher Mitarbeitender<br />

zu stärken. Die <strong>Gemeinde</strong>beratung fördert den professionellen<br />

Umgang mit Themen der Organisations- und<br />

Personalentwicklung. Aber es fehlen Formen, <strong>die</strong> alle drei<br />

Ebenen des kirchlichen Lebens miteinander verbinden.<br />

Kirchentheorie, kirchliches Leitungshandeln und Beratungspraxis<br />

stehen unverbunden nebeneinander, anstatt<br />

sich laufend gegenseitig zu befruchten und damit eine Spirale<br />

wachsender Erkenntnis in Gang zu setzen. Damit besteht<br />

<strong>die</strong> Gefahr, dass gemeinde- und kirchenleitende Organe ihre<br />

Aufmerksamkeit auf Bereiche richten, <strong>die</strong> sich durch organisatorische<br />

Entscheidungen beeinflussen lassen, ohne <strong>die</strong><br />

geistliche und interaktionale Dimension des kirchlichen Lebens<br />

in ihrer jeweiligen Eigenlogik einzubeziehen. Im besten<br />

Falle entfalten entsprechende Vorhaben keine Wirksamkeit,<br />

im schlimmsten Falle richten sie Schaden an. Umgekehrt<br />

bleibt <strong>die</strong> Kirchentheorie ohne Impulse aus der kirchlichen<br />

Praxis auf dem bisher erreichten Stand stehen.<br />

Es fehlen Orte, <strong>die</strong> als Katalysatoren <strong>die</strong> Verbindung zwischen<br />

Theorie und Praxis fördern, zwischen verschiedenen<br />

Ebenen des kirchlichen Lebens, zwischen Leitung, Beratung<br />

und Theologie sowie zwischen der Theologie und anderen<br />

Wissenschaften, nicht nur mit soziologischen, sondern auch<br />

mit sozialpsychologischen, kulturwissenschaftlichen, biokybernetischen<br />

oder ethnologischen Perspektiven. 13 Das Ziel<br />

13 Vgl. Frederic Vester, Die Kunst vernetzt zu denken. Ideen und Werkzeuge<br />

für einen neuen Umgang mit Komplexität; ein Bericht an den Club<br />

of Rome, München 3 1999; Anna Minta, Glaubenssache(n). Editorial. Kritische<br />

Berichte, in: Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, 41<br />

23


<strong>Christoph</strong> <strong>Meyns</strong><br />

bestünde darin, in Auseinandersetzung mit den sich verändernden<br />

Umfeldbedingungen integrierte und auf nachhaltige,<br />

gesamtkirchliche Wirksamkeit angelegte Handlungskonzepte<br />

für eine inhaltliche Neuorientierung der kirchlichen<br />

Arbeit zu entwickeln und in ihrer Erprobung zu begleiten.<br />

Ich hoffe sehr, dass es gelingt, in den nächsten Jahren<br />

Orte zu etablieren, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Aufgabe leisten und sie langfristig<br />

strukturell abzusichern. Denn das ist nötig als Beitrag<br />

für eine zukunftsfähige Gestalt des kirchlichen Lebens.<br />

(2013) 2, 7–9; Juliane Stückrad, Vertrauen – Krise – Glaube. Bedeutung<br />

von Kirche in ländlichen Räumen im Kirchenbezirk Vogtland, Kohren-<br />

Sahlis 2021.<br />

24


Eva Gotthold<br />

<strong>Was</strong> <strong>braucht</strong> <strong>die</strong> <strong>Gemeinde</strong>?<br />

Subjektive Wahrnehmungen und Antworten<br />

von der Basis<br />

Ich freue mich über <strong>die</strong> Möglichkeit, im Rahmen <strong>die</strong>ses kurzen<br />

Impulsreferates meine ersten Jahre im Pfarramt anhand<br />

der Frage: <strong>Was</strong> <strong>braucht</strong> <strong>die</strong> <strong>Gemeinde</strong>? zu reflektieren.<br />

Ich bin Eva Gotthold, seit Juni 2017 Pastorin der Kirchengemeinde<br />

St. Marien in Buxtehude-Neukloster. Vergangenen<br />

Sommer ist meine Zeit im Probe<strong>die</strong>nst der Hannoverschen<br />

Landeskirche zu Ende gegangen. Die Schwerpunkte meiner<br />

Arbeit liegen im Aufbau der Singschule WunderWerk, im<br />

Spiel mit den Möglichkeiten von Worten und Sprache und im<br />

Vernetzen des gemeindlichen Handelns im öffentlichen Leben<br />

der Dörfer.<br />

<strong>Was</strong> <strong>braucht</strong> <strong>die</strong> <strong>Gemeinde</strong>? ist eine schöne und zugleich<br />

zentrale Frage. Schön ist sie, weil sie beim Blick in <strong>die</strong> Weiten<br />

des Kommenden intrinsische Motivation weckt. Zentral ist<br />

sie, weil in der Kirche auf dem Dorf und in der Kirche im<br />

Quartier nach wie vor enormes und zum Teil noch gar nicht<br />

wachgeküsstes Potential steckt.<br />

Die Frage „<strong>Was</strong> <strong>braucht</strong> <strong>die</strong> <strong>Gemeinde</strong>?” lässt sich auf zwei<br />

Ebenen beantworten.<br />

Sie lässt sich fassen als Frage: <strong>Was</strong> <strong>braucht</strong> <strong>die</strong> <strong>Gemeinde</strong>,<br />

damit <strong>die</strong> Menschen in ihr und um sie herum ein möglichst<br />

lebendiges, freies und fröhliches Leben und Glaubensleben<br />

entfalten? Sie lässt sich aber auch fassen als <strong>die</strong> Frage: Welche<br />

25


Eva Gotthold<br />

Begleitung, Unterstützung und Hilfe <strong>braucht</strong> <strong>Gemeinde</strong>, damit<br />

sie ihren Auftrag, das Leben und Glaubensleben vor Ort<br />

zu befördern, gut und selbständig ausführen kann? Innerhalb<br />

<strong>die</strong>ses Impulsreferates möchte ich beide Ebenen aufeinander<br />

beziehen.<br />

Jede Beobachtung eines Individuums ist subjektiv und<br />

jede Antwort auf eine Frage ist es auch. Trotzdem habe ich <strong>die</strong><br />

Subjektivität im Titel meines Referates betont: <strong>Was</strong> ich heute<br />

beitrage, ist erfahrungsbasiert; <strong>die</strong> Antworten wurzeln in<br />

konkreten Erfahrungen einer bestimmten Person an einem<br />

bestimmten Ort.<br />

Zudem nehme ich in meiner Arbeit <strong>die</strong> Spannungsfelder<br />

stark wahr, in denen sich kirchliches Handeln bewegt. Gewachsene<br />

kirchliche und durchaus auch gemeindliche Strukturen<br />

haben sich verfestigt, sind aber in ihrer Starre zum Teil<br />

nur wenig dazu geeignet, wendiges und spontan-situatives<br />

Agieren zu befördern. Gleichzeitig sind es uralte und gewachsene<br />

Glaubenserfahrungen, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> starren Strukturen<br />

hindurch genau für Hier und Heute verflüssigt werden sollen.<br />

Deswegen sind meine Erfahrungen und Antworten Erfahrungen<br />

und Antworten im Dazwischen.<br />

Ich mache meine Erfahrungen in den ersten Amtsjahren<br />

den äußeren Bedingungen nach auf einer Insel der Seligen. St.<br />

Marien ist eine <strong>Gemeinde</strong> mit ca. 2000 Mitgliedern, <strong>die</strong> sich<br />

auf drei Dörfer verteilen. Die <strong>Gemeinde</strong> gehört zum Kirchenkreis<br />

Buxtehude und ist noch dem Großraum Hamburg zuzurechnen.<br />

Die S3 Hamburg-Stade fährt nahezu am Pfarrhaus<br />

vorbei und macht Halt nur wenige Meter entfernt. Ich<br />

arbeite in einem gut funktionierenden Team aus Haupt- und<br />

Ehrenamtlichen, das inklusive aller lebens- und zeitbedingten<br />

Schwankungen Freude am Tun und der Zusammenarbeit<br />

hat und sich bisher von den zum Teil beunruhigend großen<br />

26


<strong>Was</strong> <strong>braucht</strong> <strong>die</strong> <strong>Gemeinde</strong>?<br />

strukturellen Fragen der Zukunft von <strong>Gemeinde</strong> und Kirche<br />

nicht <strong>die</strong> Laune hat verderben lassen.<br />

Auf <strong>die</strong> Frage: <strong>Was</strong> <strong>braucht</strong> <strong>die</strong> <strong>Gemeinde</strong>, damit <strong>die</strong> Menschen<br />

in ihr und um sie herum ein möglichst lebendiges,<br />

freies und fröhliches Leben und Glaubensleben entfalten?<br />

Darauf antworte ich nach drei Jahren an <strong>die</strong>sem Ort:<br />

<strong>Gemeinde</strong> <strong>braucht</strong> Neugier. Neugier möchte mehr erfahren.<br />

Wer sind <strong>die</strong> Menschen, <strong>die</strong> hier leben? Wie sieht ihr Alltag<br />

aus, was tun sie gerne? Welche Kuriositäten hält <strong>die</strong>ses<br />

Fleckchen Erde bereit? <strong>Was</strong> macht <strong>die</strong>sen Ort und <strong>die</strong>se Menschen<br />

einzigartig und unverwechselbar? <strong>Was</strong> ist vorhanden<br />

an gemeinschaftlichem Leben? Wie sieht es aus mit Kindergärten,<br />

Schulen, Vereinen? Wo spielt sich das öffentliche Leben<br />

eigentlich ab?<br />

Gibt es Lücken? Wo fehlt etwas? Wo gibt es Probleme und<br />

wo schlummern Ressourcen? Mit wem kann man Dinge zusammen<br />

machen?<br />

<strong>Gemeinde</strong> <strong>braucht</strong> Aufmerksamkeit. Der Schlüssel für gelingende<br />

und erfüllte Gemeinschaft ist Beziehung. Beziehungspflege<br />

geschieht oft im Kleinen, im Detail. Gelegenheit<br />

dazu bietet sich eigentlich reichlich: bei jedem Gottes<strong>die</strong>nst,<br />

bei jeder Kasualie, bei jeder Konferstunde, jeder Sitzung, jeder<br />

Probe, jeder Begegnung. Aufmerksamkeit kann sich sowohl<br />

in der Form als auch im Inhalt zeigen. Inhaltliche Aufmerksamkeit<br />

ist für mich <strong>die</strong> Qualität, <strong>die</strong> sorgfältige, durchdachte<br />

und zugewandte Vorbereitung und Ausführung eines Gottes<strong>die</strong>nstes,<br />

einer Probe, einer Konferstunde. Sie zeigt, dass ich<br />

mein Gegenüber ernst nehme.<br />

Formale Aufmerksamkeit kann sich schon darin zeigen,<br />

dass ich rechtzeitig vor Ort und dort ansprechbar bin. Präsent<br />

bin an dem Ort, an dem ich arbeite. In der aufmerksamen<br />

Pflege von Beziehungen realisiert sich ein Grundzug unseres<br />

27


Eva Gotthold<br />

Auftrags: den Mitmenschen wahrzunehmen und anzusehen.<br />

Sie ist <strong>die</strong> Basis für gelingende Kommunikation, vertrauensvolle<br />

Zusammenarbeit und den Aufbau tragfähiger Netzwerke.<br />

<strong>Gemeinde</strong> <strong>braucht</strong> Abenteuerlust. Als Christenmenschen<br />

verwalten wir einen Schatz an geistlicher Tradition, praktischem<br />

Lebenswissen und vielen, vielen Jahren Geistes- und<br />

Kulturgeschichte. Der Inhalt unserer Schatzkiste hilft zum<br />

guten Leben auch in unguten Zeiten, ist Grundlage des Lebensglücks,<br />

schenkt Autonomie und Freiheit, legt uns nicht<br />

auf unser Scheitern fest und fördert Lebensmut.<br />

Unter Abenteuerlust verstehe ich <strong>die</strong> Aufgabe, <strong>die</strong> Schatzkiste<br />

so im Dorf zu platzieren, dass man nicht umhinkommt,<br />

sie zu öffnen, wenn man dran vorbeigeht.<br />

Zur Abenteuerlust gehören für mich Experimentierfreude,<br />

Freude an kreativem Denken und ein explorativer, aus<br />

sich herausgehender Grundzug. Mit welchen Mitteln und<br />

Me<strong>die</strong>n <strong>die</strong> Kiste dann in Szene gesetzt wird, ist dabei meines<br />

Erachtens zweitrangig, und abhängig von den Gaben und<br />

Ressourcen vor Ort.<br />

Diese Vorstellung von <strong>Gemeinde</strong> setzt ein hohes Maß von<br />

Engagement bei den Mitarbeitenden, bei Haupt- und Ehrenamtlichen<br />

vor Ort voraus. Neugier, Aufmerksamkeit und<br />

Abenteuerlust sind Bestandteile einer Haltung: einer Grundhaltung,<br />

<strong>die</strong> dazu bereit ist, eigene Begabungen und Kompetenzen<br />

einzubringen, <strong>die</strong> offen ist für konzeptionelles Arbeiten,<br />

das über <strong>die</strong> Wahrung des Bestandes hinausgeht und sich<br />

am Erkunden von Neuland erfreut; einer Haltung, <strong>die</strong> riskiert,<br />

sich Wagnissen auszusetzen und damit nicht nur dem<br />

Gelingen, sondern auch dem Misslingen.<br />

Solche Haltung impliziert <strong>die</strong> Bereitschaft, konkret Verantwortung<br />

für eine soziale Größe zu übernehmen, und <strong>die</strong><br />

28


<strong>Was</strong> <strong>braucht</strong> <strong>die</strong> <strong>Gemeinde</strong>?<br />

Bereitschaft, den eigenen Lebensradius zu verlassen und Expeditionen<br />

ins Leben des Sozialraumes zu wagen. Wo immer<br />

ich solches Engagement wahrnehme, empfinde ich es als bereichernd<br />

und beglückend gleichermaßen. Aber Neugier,<br />

Aufmerksamkeit und Abenteuerlust sind keine Eigenschaften,<br />

<strong>die</strong> von außen unmittelbar in eine <strong>Gemeinde</strong> implementiert<br />

werden könnten.<br />

<strong>Was</strong> bedeutet das für <strong>die</strong> zweite Fragerichtung, also für <strong>die</strong><br />

Frage, welche Begleitung und Unterstützung <strong>Gemeinde</strong>n<br />

von kirchenleitender Ebene zukommen kann? <strong>Was</strong> hilft <strong>Gemeinde</strong>n<br />

dabei, neugierig, aufmerksam und abenteuerlustig<br />

zu sein?<br />

Eine kleine Problemanzeige vorweg:<br />

Diese Frage ist für mich wesentlich schwerer zu beantworten.<br />

Nach drei Jahren im Pfarramt kann ich einigermaßen<br />

konkret fassen, was eine <strong>Gemeinde</strong> <strong>braucht</strong>. Es fällt mir aber<br />

schwer, ebenso konkret zu fassen, wie Kirchenleitung funktioniert.<br />

Die Ebene des Kirchenkreises ist für mich im Alltag<br />

präsent und greifbar. Aber schon ab der darüberliegenden<br />

Sprengelebene wird es zunehmend abstrakt. Ich kann nicht<br />

genau beschreiben, in welcher Relation sich ein Regionalbischof<br />

zu einer <strong>Gemeinde</strong> befindet oder welche Kapazitäten er<br />

hat, um vom Leben in einzelnen <strong>Gemeinde</strong>n Kenntnis zu haben.<br />

Wie das Gegenüber oder Miteinander eines geistlichen<br />

Vizepräsidenten im Landeskirchenamt und einer <strong>Gemeinde</strong><br />

aussieht, kann ich noch weniger fassen. Wenn ich also formulieren<br />

möchte, was für <strong>Gemeinde</strong> hilfreich wäre, habe ich<br />

keinen klaren Adressaten vor Augen.<br />

So erläutere ich an <strong>die</strong>ser Stelle anhand konkreter Situationen<br />

drei Aspekte kirchenleitenden Handelns, das ich für<br />

meine Arbeit und das Leben der <strong>Gemeinde</strong> als konstruktive<br />

Unterstützung erfahren habe.<br />

29


Eva Gotthold<br />

Bei der Entscheidung, ob ich mich nach dem Probe<strong>die</strong>nst<br />

auf <strong>die</strong> Stelle an St. Marien bewerbe oder mich bei freien Pfarrstellen<br />

umsehe, war für mich der Hinweis des Superintendenten<br />

ausschlaggebend, dass meine Stelle nicht, was zur Debatte<br />

stand, umstrukturiert oder gekürzt wird. Das gibt mir<br />

weiterhin <strong>die</strong> Möglichkeit, als Pfarrperson selbst mit Leben<br />

zu füllen, was ich für <strong>Gemeinde</strong> als wichtig erkannt habe.<br />

Neugierde, Aufmerksamkeit und Abenteuerlust in all ihren<br />

Facetten brauchen nämlich – Zeit.<br />

Hilfreich für eine <strong>Gemeinde</strong> sind aus meiner Sicht transparente<br />

Stellenzuschnitte, in denen <strong>die</strong> Pfarrperson ihren<br />

Auftrag realisieren und ihrem Begabungsprofil Gestalt verleihen<br />

kann.<br />

Aus der Abenteuerlust und Neugierde der St. Marien-<strong>Gemeinde</strong><br />

ist in den letzten Jahren eine kleine Singschule, das<br />

WunderWerk, entstanden. Wir haben uns mit unserem Projekt<br />

beim Fonds Missionarische Chancen beworben. Durch<br />

<strong>die</strong> Formulierung eines Projektantrags waren wir gezwungen,<br />

unsere Träume zu verschriftlichen, Chancen und Risiken<br />

des Projekts zu durchdenken und Ziele zu benennen.<br />

Diese formale Schwelle habe ich als sinnvolles Instrument<br />

zur Selbstreflexion verstanden, und über <strong>die</strong> fachlichen und<br />

ehrlich interessierten Rückfragen zum Antrag habe ich mich<br />

gefreut. Der positive Bescheid hat dann bei allen Beteiligten<br />

einen Motivationsschub freigesetzt, den bisher auch das Virus<br />

nicht verschlingen konnte.<br />

Zwei weitere Aspekte kirchenleitenden Handelns, das <strong>Gemeinde</strong><br />

unterstützt, kann ich an <strong>die</strong>ser Erfahrung fest machen:<br />

<strong>Gemeinde</strong>n hilft es, wenn sie nicht als kostenverschlingende<br />

Auslaufmodelle, sondern als Orte mit Potential wahrgenommen<br />

werden. Wenn ihnen zugetraut wird, innovative<br />

30


<strong>Was</strong> <strong>braucht</strong> <strong>die</strong> <strong>Gemeinde</strong>?<br />

Konzepte für ihren Kontext und alternative Darstellungsformen<br />

kirchlichen Lebens aus sich selbst heraus zu entwickeln.<br />

Wenn ihnen zugetraut wird, erfahrbare und attraktive Form<br />

von Kirche vor Ort zu sein. Und <strong>Gemeinde</strong>n hilft es, wenn<br />

man ihren Vorhaben Interesse entgegenbringt, mit ihnen auf<br />

Augenhöhe ihre Projekte reflektiert und fachlich begleitet.<br />

Alle drei Aspekte: klare Stellenzuschnitte, <strong>die</strong> einem Begabungsprofil<br />

Raum geben, Vertrauen in das Potential der<br />

Ge meinde und <strong>die</strong>nende Begleitung auf Augenhöhe fordern<br />

<strong>Gemeinde</strong> im positiven Sinn heraus. Indem sie Lust machen,<br />

<strong>die</strong> Verantwortung für den eigenen Ort oder <strong>die</strong> eigenen Orte<br />

beim Schopf zu packen und Motivation freisetzen.<br />

31


Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet <strong>die</strong>se Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

© 2022 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig<br />

Printed in Germany<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist<br />

ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere<br />

für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und<br />

<strong>die</strong> Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: Thomas Puschmann – fruehbeetgrafik.de – Leipzig<br />

Satz: ARW-Satz, Leipzig<br />

Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen<br />

ISBN 978-3-374-07087-9// eISBN (PDF) 978-3-374-07088-6<br />

www.eva-leipzig.de

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