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Kristina Kühnbaum-Schmidt: Streitsache Assistierter Suizid (Leseprobe)

Assistierter Suizid als Akt autonomer menschlicher Selbstbestimmung? Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 verstößt das Verbot einer geschäftsmäßigen Förderung des Suizids gegen das Grundgesetz. Soll darum künftig assistierte Sterbehilfe auch in kirchlichen Einrichtungen möglich sein? Der von der Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland herausgegebene Band ist hochspannend. Angesehene Theologen und Theologinnen debattieren die sehr kontroversen Positionen nicht nur im deutschen und evangelischen, sondern auch im ökumenischen und europäischen Kontext. Sie beleuchten das umstrittene Thema aus juristischer, theologischer und diakonischer Perspektive. In welcher Beziehung stehen Freiheit und Selbstbestimmung zur Konstitution des Menschen als Gemeinschaftswesen, als Geschöpf unter Geschöpfen? Wo genau kommt die Menschenwürde ins Spiel? Wie zeigt sich christliches Handeln im Horizont der Liebe Gottes? Eines Gottes, der unbedingt für das Leben eintritt – auch am Ende des Lebens und darüber hinaus! Mit Beiträgen von Michael Germann, Dietrich Korsch, Annette Noller, Ulrich H. J. Körtner und Kristina Kühnbaum-Schmidt.

Assistierter Suizid als Akt autonomer menschlicher Selbstbestimmung? Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 verstößt das Verbot einer geschäftsmäßigen Förderung des Suizids gegen das Grundgesetz. Soll darum künftig assistierte Sterbehilfe auch in kirchlichen Einrichtungen möglich sein? Der von der Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland herausgegebene Band ist hochspannend. Angesehene Theologen und Theologinnen debattieren die sehr kontroversen Positionen nicht nur im deutschen und evangelischen, sondern auch im ökumenischen und europäischen Kontext. Sie beleuchten das umstrittene Thema aus juristischer, theologischer und diakonischer Perspektive.

In welcher Beziehung stehen Freiheit und Selbstbestimmung zur Konstitution des Menschen als Gemeinschaftswesen, als Geschöpf unter Geschöpfen? Wo genau kommt die Menschenwürde ins Spiel? Wie zeigt sich christliches Handeln im Horizont der Liebe Gottes? Eines Gottes, der unbedingt für das Leben eintritt – auch am Ende des Lebens und darüber hinaus!

Mit Beiträgen von Michael Germann, Dietrich Korsch, Annette Noller, Ulrich H. J. Körtner und Kristina Kühnbaum-Schmidt.

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KRISTINA KÜHNBAUM-SCHMIDT (HRSG.)<br />

<strong>Streitsache</strong><br />

ASSISTIERTER SUIZID<br />

PERSPEKTIVEN CHRISTLICHEN<br />

HANDELNS


Inhalt<br />

<strong>Kristina</strong> <strong>Kühnbaum</strong>-<strong>Schmidt</strong><br />

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />

Michael Germann<br />

Ein Recht auf den eigenen Tod?<br />

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020<br />

zum Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung . . . 15<br />

Dietrich Korsch<br />

Selbstbestimmung und Willensfreiheit<br />

Zur Diskussion um den assistierten <strong>Suizid</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47<br />

Annette Noller<br />

<strong>Assistierter</strong> <strong>Suizid</strong><br />

Perspektiven der Diakonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67<br />

Ulrich H. J. Körtner<br />

<strong>Suizid</strong>hilfe<br />

Professions- und organisationsethische Gesichtspunkte<br />

in ökumenischer und europäischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . 91<br />

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127<br />

5


Einleitung<br />

1 Zur Idee einer digitalen Vortrags- und<br />

Gesprächsreihe zum assistierten <strong>Suizid</strong><br />

Ist <strong>Suizid</strong> ein Menschenrecht? Das Urteil des BVerfG vom<br />

26.02.2020 über die geschäftsmäßige Förderung des <strong>Suizid</strong>s<br />

hat eine öffentliche Kontroverse entfacht über das Recht auf<br />

den eigenen Tod. Darf professionelle <strong>Suizid</strong>hilfe prinzipiell<br />

möglich sein, auch in kirchlichen Einrichtungen? Der vorliegende<br />

Band will dazu beitragen, dieses hochumstrittene<br />

Thema aus juristischer, theologischer, diakonischer und europäischer<br />

Perspektive zu beleuchten.<br />

Als der Zweite Senat des BVerfG entschied, dass das in § 217<br />

StGB normierte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der<br />

Selbsttötung gegen die Grundrechte der Beschwerdeführenden<br />

verstoße und daher nichtig sei, begründete er nicht nur<br />

neue Entscheidungsmöglichkeiten für Sterbewillige, Pflegende,<br />

Ärztinnen und Ärzte sowie Bewohnerinnen und Bewohnern<br />

von Pflegeeinrichtungen, sondern auch Entscheidungsnotwendigkeiten<br />

für die Träger dieser Einrichtungen.<br />

Nicht nur erklärte das BVerfG die <strong>Suizid</strong>hilfe für zulässig,<br />

sondern konstatierte zugleich ein Recht auf selbstbestimmtes<br />

Sterben unabhängig von irreversiblen Krankheitsverläufen.<br />

Aus welchen Gründen eine Person die Entscheidung<br />

treffe, ihr Leben zu beenden, entziehe sich religiösen oder gesellschaftlichen<br />

Bewertungen, so das BVerfG. Damit formuliert<br />

es keine neue Norm an sich; im Kontext der Patienten-<br />

7


Einleitung<br />

autonomie war der Begriff der Autonomie bereits etabliert,<br />

etwa in der Auffassung, dass lebenserhaltende Maßnahmen<br />

nicht gegen den Willen von Patientinnen und Patienten<br />

durchgeführt werden dürfen. Neu ist, dass der Zweite Senat<br />

daraus ein Recht auf Selbsttötung ableitet, das einzig durch<br />

den freien Willen bedingt ist.<br />

Dies erfordert eine Positionierung von Kirche und Diakonie,<br />

die, wie Ulrich Körtner 1 dokumentiert, überfällig ist. In<br />

welcher Beziehung stehen Freiheit und Selbstbestimmung<br />

zur Konstitution des Menschen als relationales Wesen und als<br />

Geschöpf Gottes, und was bedeutet christliches Handeln im<br />

Horizont der Liebe Gottes? Eines Gottes, der für das Leben<br />

eintritt, am Ende des Lebens und darüber hinaus. Wichtige<br />

Impulse zu dieser Frage lieferten die Texte von Reiner Anselm,<br />

Isolde Karle und Ulrich Lilie 2 einerseits und Wolfgang<br />

Huber und Peter Dabrock 3 in der Frankfurter Allgemeinen<br />

Zeitung andererseits.<br />

Zu diesem Themenkomplex eine Debatte zu führen, in<br />

der Information und Sachkenntnis und das Gespräch dazu<br />

für möglichst viele Menschen zugänglich sind, war das Motiv<br />

zur Einladung zur digitalen Vortragsreihe »Tiefenschärfe«<br />

der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland.<br />

Jeweils rund 80 Teilnehmende nutzten an vier Abenden im<br />

Februar 2021 die Gelegenheit, mit renommierten Expertinnen<br />

und Experten ins Gespräch zu kommen. Damit Diakonie<br />

1 Ulrich Körtner, Dem Leben dienen – bis zuletzt. Das Karlsruher Urteil zur<br />

<strong>Suizid</strong>beihilfe und seine Folgen, https://zeitzeichen.net/node/8835 (letzter<br />

Zugriff 9.2.2021).<br />

2 Reiner Anselm/Isolde Karle/Ulrich Lilie, Den assistierten professionellen<br />

<strong>Suizid</strong> ermöglichen, in: FAZ vom 11.1.2021, 6.<br />

3 Peter Dabrock/Wolfgang Huber, Selbstbestimmt mit der Gabe des Lebens<br />

umgehen, in: FAZ vom 25.1.2021, 6.<br />

8


Einleitung<br />

und verfasste Kirche zu dieser Thematik in eine gemeinsame<br />

Positionsfindung eintreten können, braucht es – so<br />

unsere Überlegung – das Gespräch, die Möglichkeit zur<br />

direkten Frage und zum tastenden Formulieren von Fragen<br />

und Positionen, auch, weil der sensiblen Thematik ein binärer<br />

Austausch in Pro und Contra kaum gerecht wird. Deshalb<br />

habe ich mich sehr gefreut, dass Michael Germann, Dietrich<br />

Korsch, Annette Noller und Ulrich H. J. Körtner zugesagt<br />

haben, die vielschichtige Thematik aus Ihrer fachlichen Profession<br />

darzulegen und im digitalen Format mit dem Publikum<br />

zu diskutieren. Dafür bedanke ich mich herzlich und<br />

bin froh, dass sie alle ihre luziden Ausführungen nun auch<br />

zum Nachlesen zur Verfügung stellen.<br />

2 Juristische, theologische, diakonische und<br />

ökumenische Perspektiven<br />

Welches Menschenbild liegt dem Urteil des BVerfG zugrunde,<br />

wie hat es seine Argumentation aufgebaut und was fordert es<br />

den Gesetzgeber vorrangig zu schützen auf? Diese und weitere<br />

Aspekte des Urteils und seiner Begründung zu durchdenken,<br />

empfiehlt Michael Germann. Sein Vortrag führt<br />

nicht nur präzise ein in die juristische Materie, sondern beleuchtet<br />

auch die ethischen Fragen, mit denen sich der Zweite<br />

Senat beschäftigen musste und durch den Rekurs auf das Allgemeine<br />

Persönlichkeitsrecht nicht beantwortet hat.<br />

Menschenwürde wurzelt in Selbstbestimmung und Menschenwürde<br />

gründet sich in Selbstbestimmung, so die Urteilsbegründung<br />

des BVerfG. Doch wie frei ist der menschliche<br />

Wille wirklich? Diese Frage ergründet Dietrich Korsch.<br />

Willensfreiheit und Selbstbestimmung führen in die Tiefen<br />

9


Einleitung<br />

reformatorischer Theologie, nachzuverfolgen in Luthers<br />

Schriften Von der Freiheit eines Christenmenschen und De<br />

servo arbitrio – dass der freie Wille nichts sei. Dietrich Korsch<br />

gibt Willensfreiheit als Ausdruck eines bestimmten Selbstbildes<br />

des Menschen zu verstehen. Zugleich regt er zu fragen an,<br />

wann Willensakte enden und ob die doppelte Latinisierung<br />

»assistierter <strong>Suizid</strong>« nicht auch verschleiere, um was es eigentlich<br />

geht. Eine Frage, die das Urteil des Bundesverfassungsgerichts<br />

nur am Rande behandelt, greift sein Vortrag umso<br />

bewusster auf, nämlich, was das Gefühl der Abwesenheit von<br />

Sinn für Sterbewillige bedeute und wie sich eine christliche<br />

Lebensbegleitung dazu verhält.<br />

Was das Urteil des BVerfG für die diakonische Einrichtungen<br />

bedeutet, erörtert Annette Noller in ihrem Vortrag «<strong>Assistierter</strong><br />

<strong>Suizid</strong> – Perspektiven der Diakonie«. Wie positioniert<br />

sich die Diakonie in dieser Diskussion in einer sich pluralisierenden<br />

Gesellschaft, in der sowohl bei Menschen, die Unterstützung<br />

suchen, als auch bei Mitarbeitenden nicht einfach<br />

vorausgesetzt werden kann, dass sie im Glauben zu Hause<br />

sind? Einer Gesellschaft aber auch, die von Religionsgemeinschaften<br />

erwarten kann, ihre Rolle als Interpretationsgemeinschaften<br />

wahrzunehmen, indem sie, wie es Jürgen<br />

Habermas beschreibt, mit ihren Erzählungen, Deutungen,<br />

Interpretationen, mit »relevanten, ob nun überzeugenden<br />

oder anstößigen Beiträgen zu einschlägigen Themen [Einfluss<br />

nehmen] auf die öffentliche Meinungs- und Willensbildung«.<br />

4 Einen solchen Impuls offeriert Annette Noller in ih-<br />

4 Jürgen Habermas, Religion in der Öffentlichkeit der »postsäkularen« Ge -<br />

sellschaft, in: Ders., Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken,<br />

Berlin 2012, 308-326, 313.<br />

10


Einleitung<br />

rer empirisch fundierten Betrachtung christlicher Nächstenliebe<br />

und Lebenspraxis von »Protestleuten gegen den Tod«.<br />

Macht es moralisch einen Unterschied, ob jemand mit der<br />

Intention handelt, einen todkranken Menschen sterben zu<br />

lassen oder ihn vom Leben zum Tod zu befördern? Nur eine<br />

von vielen feinsinnigen Fragen, mit denen Ulrich H. J. Körtner<br />

christliche Aspekte des Beistands im Sterben einordnet in<br />

eine Ethik am Lebensende. Sein Vortrag regt an, die Hilfe<br />

beim Sterben und Hilfe zum Sterben theologisch, anthropologisch,<br />

medizinisch, ethisch und in der Perspektive europäischen<br />

Rechts zu durchdenken. So trägt der ökumenische Horizont<br />

seiner Thesen dazu bei, innerprotestantische Selbstbezüglichkeiten<br />

zu vermeiden und die menschliche Dimension<br />

christlichen Handelns wiederzuentdecken, nämlich, so der<br />

Autor, dem Leben zu dienen bis zuletzt.<br />

3 Entscheiden und handeln im Horizont<br />

der Liebe Gottes<br />

Die Debatte über das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben<br />

gewinnt an Dynamik zu einer Zeit, in der vielen Menschen<br />

durch die Covid-19-Pandemie neu bewusst geworden ist, wie<br />

verletzlich das Leben ist. Deutlich wird auch, dass mit der<br />

Frage nach dem Sterben zugleich die Frage nach dem Menschenbild<br />

verbunden ist. Beide rufen weitere Fragen auf:<br />

Woran orientiert sich das Entscheiden und Handeln in unserer<br />

Gesellschaft und wie soll die Gesellschaft aussehen, in der<br />

wir leben wollen?<br />

Im Laufe der sich den Vorträgen jeweils anschließenden<br />

Gespräche wurde immer wieder deutlich: Christinnen und<br />

Christen verstehen das Leben als von Gott geschenkte Gabe.<br />

11


Einleitung<br />

Diese Gabe kann nicht losgelöst verstanden werden von der<br />

Beziehung zum Schöpfer allen Lebens und auch nicht von der<br />

Beziehung zu seiner Schöpfung und unseren Mitgeschöpfen.<br />

Die mit der Gabe des Lebens geschenkte menschliche Freiheit<br />

beinhaltet deshalb auch die Verantwortung für einen seinem<br />

Gabe- und Geschenkcharakter entsprechenden Umgang mit<br />

dem Leben – dem eigenen wie dem allen Lebens.<br />

An erster Stelle setzen sich verfasste Kirche wie Diakonie<br />

deshalb dafür ein, dass Menschen sich in unterschiedlichen<br />

Situationen für das Leben entscheiden können. Konkret wird<br />

das durch eine Vielzahl von Angeboten, von alltagspraktischer<br />

Unterstützung über seelsorgerische und psychologische<br />

Beratung bis hin zur palliativmedizinischen Begleitung.<br />

Dass menschliches Leben Brüche hat und begrenzt ist, soll<br />

durch diese Angebote im öffentlichen Diskurs ebenso präsent<br />

bleiben wie das Gespräch zum individuellen und gesellschaftlichen<br />

Umgang mit der Sterblichkeit des Menschen.<br />

Den Teilnehmenden der Veranstaltungsreihe war wichtig<br />

und zentral: In Kirche und Diakonie finden Menschen geschützte<br />

Orte und Räume, an denen ihre Bedürfnisse und<br />

ihre Lebenssituation besonders im Blick sind. <strong>Assistierter</strong><br />

<strong>Suizid</strong> soll dabei kein regelhaftes Angebot evangelischer Einrichtungen<br />

sein. Zugleich sollen Einzelne, die sich trotz<br />

aller Begleitung, Fürsorge und medizinischer Maßnahmen<br />

nicht für das Leben entscheiden können, nicht allein gelassen<br />

werden.<br />

Die vorliegenden Vorträge wollen in der weiter intensiv<br />

geführten gesellschaftlichen Debatte zum assistierten <strong>Suizid</strong><br />

zu einer christlich profilierten Meinungsbildung beitragen.<br />

Sie fördern ein differenziertes Verständnis dessen, was christliches<br />

Handeln im Horizont der Liebe des dreieinigen Gottes<br />

bedeutet. Sie verhelfen zu einer Haltung christlicher Freiheit<br />

12


und eröffnen Hoffnungshorizonte für ein Leben in der Gegenwart<br />

Gottes, der für das Leben eintritt und immer noch<br />

Perspektiven für unser menschliches Leben und seine ganze<br />

Schöpfung hat – auch am Ende des Lebens und darüber hinaus.<br />

So sagt es der Apostel Paulus im Römerbrief: »Ich bin gewiss,<br />

dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte<br />

noch Gewalten, weder gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder<br />

Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden<br />

kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem<br />

Herrn.« (Röm 8, 38 f.)<br />

Landesbischöfin <strong>Kristina</strong> <strong>Kühnbaum</strong>-<strong>Schmidt</strong><br />

Schwerin, im Advent 2021<br />

Einleitung<br />

13


Michael Germann<br />

Ein Recht auf den eigenen Tod?<br />

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts<br />

vom 26. Februar 2020 zum Verbot der geschäftsmäßigen<br />

Förderung der Selbsttötung<br />

Aufgabe dieses Beitrags ist es, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts<br />

vorzustellen, das die Diskussion über den Umgang<br />

von Diakonie und Kirche mit geschäftsmäßiger <strong>Suizid</strong>hilfe<br />

ausgelöst hat. Der Schwerpunkt liegt auf dem Überblick<br />

über die Urteilsbegründung, der die juristische Struktur der<br />

Grundrechtsprüfung nachzeichnet (1.) und die Prämissen in<br />

der Auslegung des Grundgesetzes sichtbar macht, die das Bundesverfassungsgericht<br />

seinem Urteil zugrundelegt (2.). Für sie<br />

lässt sich dann nach Ansätzen zur juristischen Kritik am Urteil<br />

fragen (3.). Der abschließende Ausblick beschränkt sich auf<br />

ein Aperçu zu den rechtspolitischen Folgen des Urteils (4.).<br />

Diese Schriftfassung ist ein nachbearbeitetes, zur besseren<br />

Lesbarkeit korrigiertes und ergänztes Transkript des am<br />

9.2.2021 in freier Form am Bildschirm gehaltenen Vortrags<br />

und spiegelt daher noch die Rhapsodik der mündlichen Rede.<br />

1 Überblick und Erläuterung<br />

zur Urteilsbegründung<br />

Das Urteil ist im vollen Wortlaut auf der Internet-Seite des<br />

Bundesverfassungsgerichts veröffentlicht (http://www.bver<br />

15


Michael Germann<br />

fg.de/e/rs20200226_2bvr234715.html) und dort auch in einer<br />

pdf-Datei mit über 90 Seiten verfügbar. Um leicht zitiert<br />

werden zu können, sind Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts<br />

– wie die der meisten Gerichte – heute mit<br />

Randnummern versehen; im folgenden bezeichnen »Rn.«-<br />

Angaben die entsprechenden Absätze in dem hier zu besprechenden<br />

Urteil. Es ist für Nichtjuristen schwer zu lesen, weil<br />

es eben eine nach fachlichen Gesichtspunkten begründete<br />

Rechtsprechungsentscheidung ist. Es ist aber durchaus so<br />

geschrieben, dass seine entscheidenden Überlegungen auch<br />

dem nichtjuristischen Leser zugänglich sind. Ich versuche<br />

einen Weg hindurch zu legen, um die juristische Begründung<br />

dieses Urteils deutlich zu machen.<br />

Das Urteil ist eine Entscheidung über eine Reihe von<br />

Verfassungsbeschwerden. Gegenstand dieser Verfassungsbeschwerden<br />

war § 217 des Strafgesetzbuches (StGB), der vor<br />

kurzem erst eingefügt worden war (Gesetz zur Strafbarkeit<br />

der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung vom 3. Dezember<br />

2015, siehe im Urteil Rn. 8–15) und der die »geschäftsmäßige<br />

Förderung der Selbsttötung« unter bestimmten Voraussetzungen<br />

unter Strafe stellte.<br />

Dieser Paragraph war von den Beschwerdeführern angegriffen<br />

worden, mit dem einzigen Argument, das man in einer<br />

Verfassungsbeschwerde vorbringen kann: dass nämlich<br />

das Gesetz gegen die Grundrechte der Beschwerdeführer verstoße.<br />

Und dies hat das Bundesverfassungsgericht insgesamt<br />

bejaht. Im Mittelpunkt der Verfassungsbeschwerden und<br />

auch der Begründung des Bundesverfassungsgerichts stand<br />

weniger die Vereinbarkeit mit den Grundrechten der Beschwerdeführer,<br />

die geschäftsmäßig Hilfe zur Selbsttötung<br />

leisten wollten und unmittelbar von der Strafdrohung betroffen<br />

waren, als die Vereinbarkeit mit den Grundrechten<br />

16


der Beschwerdeführer, die für sich selbst die Hilfe zur Selbsttötung<br />

in Anspruch nehmen wollten und sich durch das Verbot<br />

der Hilfe zur Selbsttötung in geschäftsmäßiger Form<br />

mittelbar in ihren Grundrechten verletzt sahen.<br />

1.1 Die Struktur der Grundrechtsprüfung<br />

Ein Recht auf den eigenen Tod?<br />

Das Prüfungsprogramm, das das Bundesverfassungsgericht<br />

dabei zu absolvieren hat, ist schulmäßig festgelegt. Es hat<br />

sich im Laufe der Zeit etabliert, und das Bundesverfassungsgericht<br />

folgt ihm meistens deutlich, so auch hier. An entsprechender<br />

Stelle am Beginn der Begründung lässt sich gut zeigen,<br />

welche Schritte das Bundesverfassungsgericht geht, ganz<br />

im Sinne eines juristischen Standards. Es sind drei Schritte,<br />

die es in der Begründung gehen muss. Sie sind zu Beginn der<br />

Urteilsbegründung in Ergebnissätzen zusammengefasst:<br />

»Art. 2 Abs.1 in Verbindung mit Art.1 Abs. 1 GG gewährleistet das<br />

Recht, selbstbestimmt die Entscheidung zu treffen, sein Leben eigenhändig<br />

bewusst und gewollt zu beenden und bei der Umsetzung der<br />

Selbsttötung auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen (1.). In dieses Recht<br />

greift § 217 StGB ein (2.). Der Grundrechtseingriff ist nicht gerechtfertigt<br />

(3.). [...]« (Rn. 203; mit den Ordnungszahlen verweist das Gericht<br />

voraus auf die Gliederungspunkte, unter denen diese Ergebnisse im<br />

weiteren Text begründet werden.)<br />

Der erste Schritt beschreibt den Schutzbereich des Grundrechts,<br />

unter den das Interesse der Beschwerdeführer subsumiert<br />

werden kann. Der zitierte Satz formuliert dazu eine<br />

Inhaltsangabe des Schutzbereichs aus. Der zweite Schritt ist<br />

die Feststellung, dass der Gegenstand der Verfassungsbeschwerde,<br />

also die damit angegriffene Strafrechtsnorm, in<br />

dieses Grundrecht eingreift. Der dritte Schritt ist die Prüfung,<br />

ob dieser Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden<br />

kann.<br />

17


Michael Germann<br />

Die der Begründung vorangestellte Zusammenfassung<br />

gibt schon die Struktur der Grundrechtsprüfung und auch<br />

die Funktionsweise von Grundrechten wieder. Grundrechte<br />

schützen einen bestimmten Ausschnitt aus den Interessen der<br />

Grundrechtsträger in bestimmter Form, und zwar in einem<br />

sehr abstrakten Tatbestand, dessen Inhalt und Grenzen zu<br />

bestimmen sind. Jedes Interesse, das unter diesen Tatbestand<br />

subsumiert werden kann, genießt Grundrechtsschutz. Eine<br />

Grundrechtsverletzung setzt voraus, dass eine Wirkung auf<br />

dieses grundrechtlich geschützte Interesse geschieht und<br />

diese Wirkung dem Staat zuzurechnen ist. Das ist die Eingriffsprüfung.<br />

Ob der Eingriff das Grundrecht verletzt, hängt<br />

davon ab, ob diese Eingriffswirkung, die dem Staat zuzurechnen<br />

ist, an den Maßstäben der Verfassung gerechtfertigt werden<br />

kann. Mit dieser Rechtfertigungslast für Grundrechtseingriffe<br />

gilt die Vermutung, dass Eingriffe unzulässig sind,<br />

dass sie verfassungswidrig sind. Immer wenn der Staat in<br />

Grundrechte eingreift, muss er Gründe nennen können und<br />

Anforderungen erfüllen, um mit diesem Eingriff verfassungsrechtlich<br />

zu bestehen.<br />

Diese Anforderungen müssen in der Verfassung selbst<br />

angelegt sein. Deswegen sprechen wir von der »verfassungsrechtlichen«<br />

Rechtfertigung. Sie meint das Bundesverfassungsgericht,<br />

wenn es den Eingriff »nicht gerechtfertigt«<br />

nennt, und es darf das auch weniger deutlich ausdrücken<br />

als die Studenten, wenn sie Grundrechte zu prüfen haben.<br />

Klar genug ist aber, dass hier verfassungsrechtliche Maßstäbe<br />

anzulegen sind für die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs.<br />

Das Grundgesetz unterstellt alle Grundrechte<br />

entweder ausdrücklich oder implizit einer Schranke, die einen<br />

Grundrechtseingriff unter bestimmten verfassungsrechtlichen<br />

Bedingungen erlaubt. Zu diesen Bedingungen<br />

18


Ein Recht auf den eigenen Tod?<br />

für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen<br />

gehört stets, dass ein Parlamentsgesetz den<br />

Eingriff vorsieht.<br />

1.2 Die Ableitung eines »Rechts auf selbstbestimmtes<br />

Sterben« aus dem Schutzbereich des Allgemeinen<br />

Persönlichkeitsrechts<br />

Der grundrechtliche Schutzbereich, den die Urteilsbegründung<br />

heranzieht, ist das Allgemeine Persönlichkeitsrecht.<br />

Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ist eine Ableitung aus<br />

dem Wortlaut des Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit der<br />

Menschenwürdegarantie in Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz.<br />

Der Wortlaut des Artikels 2 Absatz 1 Grundgesetz ist etwas<br />

enger als das, was daraus im Laufe der Zeit abgeleitet worden<br />

ist: »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner<br />

Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt<br />

und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das<br />

Sittengesetz verstößt«.<br />

Wenn wir hier also nach dem Schutzbereich fragen, dann<br />

müssen wir den ersten Teil des Artikels 2 Absatz 1 Grundgesetz<br />

lesen: »das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit«.<br />

Das »Recht auf selbstbestimmtes Sterben«, das das<br />

Bundesverfassungsgericht jetzt herausgestellt hat, ist eine<br />

Ableitung daraus. Man kann sagen, dass seine Entscheidung<br />

zur Selbsttötungshilfe gerade in dieser Hinsicht eine Innovation<br />

ist: Neu ist, dass das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit<br />

in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie<br />

ausgelegt wird als das Recht, sein Leben eigenhändig zu beenden<br />

– als ein Recht zur Selbsttötung.<br />

Das war vorher alles andere als selbstverständlich. Die<br />

These war immer schon im Raum und ist diskutiert worden.<br />

19


Michael Germann<br />

Das Bundesverfassungsgericht hatte sich in dieser Weise<br />

noch nicht dazu geäußert.<br />

Die Umschreibung eines Rechts auf Selbsttötung ist eine<br />

Auslegung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.<br />

Die für diese Auslegung herangezogene Verbindung mit der<br />

Menschenwürdegarantie erhöht die Anforderungen an die<br />

Rechtfertigung von Eingriffen. Denn die Menschenwürdegarantie<br />

ist unantastbar. Es müssen – salopp ausgedrückt – gute<br />

Gründe genannt werden können, um Eingriffe in dieses<br />

Recht zu rechtfertigen.<br />

An dieser Umschreibung des Schutzbereichs fällt zunächst<br />

auf – vielleicht besonders denen, die sich zum ersten<br />

Mal mit dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht in seiner juristischen<br />

Form befassen – dass dort etwas abgeleitet wird,<br />

was im Text so gar nicht zu finden ist und daher überrascht.<br />

Aber dieses Vorgehen ist durchaus gewöhnlich und schon<br />

lange etabliert. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit<br />

ist eine Kiste mit einem reichen Schatz an Schutzbereichen,<br />

die mehr oder weniger differenziert eine sehr umfassende<br />

Gewährleistung enthalten. Darauf wird zum Beispiel<br />

auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung<br />

gestützt, das Recht auf den Schutz der Intimsphäre und das<br />

Recht auf einen Namen, ein Recht auf die »Integrität und<br />

Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme« und so<br />

weiter – es sind also sehr viele verschiedene Ableitungen, die<br />

aus dem »Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit« gewonnen<br />

worden sind. Ihnen fügt das Bundesverfassungsgericht<br />

nun die Ableitung eines Rechts zur Selbsttötung neu<br />

hinzu.<br />

Der Schlüssel für diese Ableitung ist die Selbstbestimmung,<br />

wie sie im Adverb »selbstbestimmt« im zitierten Satz<br />

über »das Recht, selbstbestimmt die Entscheidung zu treffen,<br />

20


Ein Recht auf den eigenen Tod?<br />

sein Leben eigenhändig bewusst und gewollt zu beenden«,<br />

hervorgehoben wird. Das aus der Konzentration auf die Selbstbestimmung<br />

abgeleitete »Recht auf selbstbestimmtes Sterben«<br />

ist eine Kurzzusammenfassung dieses Satzes, eine Zusammenfassung,<br />

die in die Kommentarliteratur, in die Vorlesungen,<br />

in alles weitere Bemühen um die Auslegung von<br />

Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz eingehen wird.<br />

In der Randnummer 209 ist dieser Ergebnissatz ausgeführt,<br />

hier folgt seine Konkretion nach. Hier bemüht sich das<br />

Bundesverfassungsgericht um die Ableitung und lässt erkennen,<br />

dass die Selbstbestimmung der Schlüssel ist.<br />

»Die Entscheidung, das eigene Leben zu beenden, ist von existentieller<br />

Bedeutung für die Persönlichkeit eines Menschen. Sie ist Ausfluss des<br />

eigenen Selbstverständnisses und grundlegender Ausdruck der zu<br />

Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähigen Person. Welchen<br />

Sinn der Einzelne in seinem Leben sieht und ob und aus welchen<br />

Gründen sich eine Person vorstellen kann, ihr Leben selbst zu beenden,<br />

unterliegt höchstpersönlichen Vorstellungen und Überzeugungen.<br />

Der Entschluss betrifft Grundfragen menschlichen Daseins und<br />

berührt wie keine andere Entscheidung Identität und Individualität<br />

des Menschen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung<br />

als Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst deshalb nicht<br />

nur das Recht, nach freiem Willen lebenserhaltende Maßnahmen<br />

abzulehnen und auf diese Weise einem zum Tode führenden Krankheitsgeschehen<br />

seinen Lauf zu lassen [...]. Das Recht auf selbstbestimmtes<br />

Sterben erstreckt sich auch auf die Entscheidung des Einzelnen,<br />

sein Leben eigenhändig zu beenden. Das Recht, sich selbst das<br />

Leben zu nehmen, stellt sicher, dass der Einzelne über sich entsprechend<br />

dem eigenen Selbstbild autonom bestimmen und damit seine<br />

Persönlichkeit wahren kann [...].«<br />

Das Bundesverfassungsgericht knüpft hier an eine schon etablierte<br />

Autonomie des Menschen im Verhältnis zu lebenserhaltenden<br />

Maßnahmen an. Es greift das »Recht auf selbstbestimmtes<br />

Sterben« als ein Recht auf, um das es in dieser Entscheidung<br />

nicht geht, aber das bereits anerkannt ist; nämlich<br />

21


Michael Germann<br />

»das Recht, aus freiem Willen lebenserhaltende Maßnahmen<br />

abzulehnen«. Das ist die Patientenautonomie, die ja jedes<br />

Handeln am Patienten decken muss und die schon lange dahin<br />

verstanden worden ist, dass auch lebenserhaltende Maßnahmen<br />

gegen den Willen des Patienten nicht durchgeführt<br />

werden dürfen.<br />

Diese bekannte Ableitung erstreckt das Bundesverfassungsgericht<br />

nun »auf die Entscheidung des Einzelnen, sein<br />

Leben eigenhändig zu beenden«. Das ist die Innovation. Sie<br />

kommt nicht aus heiterem Himmel. Sie war in der Diskussion<br />

vorher wohl schon gut vorbereitet, so dass viele erwartet<br />

haben, dass so eine Ableitung kommen kann. Sie ist Ergebnis<br />

einer Auslegung des Grundgesetzes. Sie ist keine Innovation<br />

in dem Sinne, dass das Bundesverfassungsgericht eine neue<br />

Norm setzt. Sie versucht, die sehr abstrakte Gewährleistung<br />

des Grundgesetzes zu konkretisieren – für ihre Funktion, die<br />

grundrechtlich geschützte Freiheit insgesamt in jeder Hinsicht<br />

zu schützen, die sich sinngemäß aus der verfassungsrechtlichen<br />

Gewährleistung ergeben soll.<br />

Das »Recht auf selbstbestimmtes Sterben« wird vom Bundesverfassungsgericht<br />

unter keinerlei Vorgaben gestellt, es<br />

duldet keine Bedingungen. Es ist nicht etwa auf bestimmte<br />

Gründe festgelegt, »inbesondere nicht auf schwere oder unheilbare<br />

Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und<br />

Krankheitsphasen beschränkt« (Rn. 210). Solche Ideen, die in<br />

diesem Zusammenhang häufig leitend waren, lehnt das<br />

Bundesverfassungsgericht hier ausdrücklich ab. Das Recht<br />

auf Selbsttötung ist durch nichts weiteres bedingt als durch<br />

den freien Willen, den das Bundesverfassungsgericht hier unabhängig<br />

von seinen Motiven voraussetzt.<br />

Es umfasst ferner »die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe<br />

zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch<br />

22


Ein Recht auf den eigenen Tod?<br />

zu nehmen« (Rn. 212). Interessant ist hier, dass insoweit doch<br />

ein Vorbehalt gemacht werden muss: Das Recht, fremde Hilfe<br />

zur Selbsttötung in Anspruch zu nehmen, ist seinerseits nicht<br />

nur durch den freien Willen bedingt, sondern auch durch die<br />

Bereitschaft des anderen, die Hilfe zur Selbsttötung zu leis -<br />

ten. In der Konsequenz müsste das Bundesverfassungsgericht<br />

damit rechnen, dass das Interesse, Hilfe zur Selbsttötung zu<br />

bekommen, eben auch unerfüllt bleiben muss, wenn sich<br />

nämlich niemand finden sollte, der hier hilft. Das ist ein Vorbehalt,<br />

den das Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle<br />

macht und der vorbereitet, was Sie alle kennen, dass es nämlich<br />

betont: Niemand kann verpflichtet werden, zur Selbsttötung<br />

Hilfe zu leisten (Rn. 342).<br />

Zum Eingriff ist nicht viel zu sagen. Es handelt sich hier<br />

zwar rechtsdogmatisch und rechtstechnisch um eine interessante<br />

Konstruktion, dass das Verbot an die Adresse eines anderen<br />

mittelbar in die Rechte derjenigen, die Hilfe suchen,<br />

eingreifen kann. Sie dürfte aber ohne tiefere Betrachtung einleuchten,<br />

daher muss ich hier nicht weiter darauf eingehen.<br />

1.3 Ablehnung einer verfassungsrechtlichen<br />

Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs<br />

Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung ist dann die Stufe<br />

der Prüfung, auf der die eigentliche Entscheidung fällt. Dass<br />

das strafrechtliche Verbot in § 217 StGB durchaus Grundrechte<br />

beschränkt, ist dem Gesetzgeber bewusst gewesen. Der Gesetzgeber<br />

hat sich aber auf Gründe, auf Zwecke berufen, die<br />

diese Beschränkung des Grundrechts rechtfertigen sollten.<br />

Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung ist, wie ich<br />

schon gesagt habe, abhängig von einer Schranke im Grundgesetz.<br />

Eine Grundrechtsschranke ist ein Vorbehalt, unter<br />

23


Michael Germann<br />

den das Grundgesetz selbst ausdrücklich oder implizit das<br />

Grundrecht stellt. Wenn wir hier allerdings von einem Recht<br />

»aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1<br />

Grundgesetz« sprechen, dann haben wir die unantastbare<br />

Menschenwürde mit im Spiel. Sie gilt als das einzige Grundrecht,<br />

das schrankenlos gewährleistet ist. Die »Verbindung«<br />

bedeutet nicht, dass die Menschenwürde als solche aufgerufen<br />

wäre, was jede Beschränkung als verfassungswidrig erweisen<br />

und sperren würde. Die Menschenwürde lässt sich<br />

nicht verfassungsgemäß einschränken. Aber der Ansatz bei<br />

Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz bringt die Schranke des Rechts<br />

auf freie Entfaltung der Persönlichkeit zur Anwendung. Das<br />

Grundgesetz formuliert sie als einen Vorbehalt der »Rechte<br />

anderer«, der »verfassungsmäßigen Ordnung« und des »Sittengesetzes«.<br />

Diese Schranke findet sich so nicht noch einmal<br />

bei einem anderen Grundrecht im Grundgesetz. Sie bedarf<br />

auch ihrerseits einer Auslegung. Sie könnte jemanden, der sie<br />

zum ersten Mal liest, denken lassen, dass hier doch recht<br />

weitgehende Beschränkungsmöglichkeiten angelegt sind.<br />

»Rechte anderer« stehen hier allerdings nicht in Rede,<br />

solange niemand gezwungen wird, gegen seine eigene Entscheidung<br />

Hilfe zu leisten. Der Vorbehalt der »verfassungsmäßigen<br />

Ordnung« verweist auf die gesamte Rechtsordnung.<br />

Der Vorbehalt des »Sittengesetzes« aber scheint auch für Wertungen,<br />

die jenseits des Rechts angelegt sind, Spielräume zu<br />

geben. Man könnte also denken, der Gesetzgeber habe das,<br />

was das Sittengesetz fordert, zu erkennen und in entsprechende<br />

Beschränkungen des Rechts auf freie Entfaltung der<br />

Persönlichkeit umzusetzen – und damit eben auch in Beschränkungen<br />

des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben. Aber<br />

ein solches Verständnis würde die Funktion des Grundrechtsschutzes<br />

an dieser Stelle aufheben. Es würde den<br />

24


Ein Recht auf den eigenen Tod?<br />

Grundrechtsschutz unter den Vorbehalt von Wertungen stellen,<br />

die ihrerseits keine andere Grundlage haben als das Judiz<br />

desjenigen, der das Recht anwendet. Das wäre zunächst der<br />

Gesetzgeber, der mit Mehrheitsentscheidungen gewissermaßen<br />

nur auslegt, was das Sittengesetz gebietet – das letzte<br />

Wort aber hätte das Bundesverfassungsgericht, hätten also<br />

die Anschauungen der acht Richter über das Sittengesetz.<br />

Schon von Anfang der Auslegung dieses Artikels an ist deutlich<br />

geworden, dass der Vorbehalt des »Sittengesetzes« – ebenso<br />

wie der der »Rechte anderer« und der »verfassungsmäßigen<br />

Ordnung« – nicht anders verstanden werden kann als ein Verweis<br />

auf die normative Konkretisierung von Anschauungen<br />

in einer demokratischen Entscheidung des Parlaments, also<br />

in der Gesetzgebung. Diese Konkretisierung durch den Gesetzgeber<br />

unterliegt wiederum den weiteren Anforderungen<br />

an die Rechtfertigung von Eingriffen in das Recht auf freie<br />

Entfaltung der Persönlichkeit. Im Ergebnis fließt also dieser<br />

Vorbehalt zusammen in einen Vorbehalt zugunsten jedes<br />

verfassungsgemäßen Gesetzes: Die verfassungsmäßige Ordnung<br />

schließt die Konkretisierung des Sittengesetzes mittels<br />

der Transformation von Anschauungen über das Sittengesetz<br />

in verbindliches Recht durch das demokratisch legitimierte<br />

Parlament ein. Jedes verfassungsgemäße Gesetz kann also das<br />

Grundrecht einschränken, unterliegt aber besonderen verfassungsrechtlichen<br />

Anforderungen an die Rechtfertigung von<br />

Grundrechtseingriffen.<br />

Was sind das für Anforderungen? Wesentlich und gerade<br />

in unserem Zusammenhang entscheidend ist eine Prüfung<br />

am Verhältnismäßigkeitsprinzip: Eine gesetzliche Beschränkung<br />

des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ist<br />

verfassungsgemäß, wenn sie die grundrechtlich geschützten<br />

Interessen nicht übermäßig beeinträchtigt.<br />

25


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ISBN 978-3-374-07083-1 // eISBN (PDF) 978-3-374-07084-8<br />

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