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Antje Roggenkamp | Johannes Wischmeyer: Religiöse Bildung im langen 19. Jahrhundert (Leseprobe)

Der Band beleuchtet Wandlungsprozesse der Religionspädagogik im langen 19. Jahrhundert. Die epochalen gesellschaftlichen Umwälzungen in der Zeitspanne zwischen der Französischen Revolution (1789) und dem Ende des Ersten Weltkriegs (1918) betreffen zentrale Aspekte religiöser Bildung in Europa. Argumente, Narrative und Institutionen stehen auf dem intellektuellen wie politischen Prüfstand und werden neu justiert. Die versammelten Fallstudien bündeln diese Prozesse anhand exemplarisch verdichteter (inter-)nationaler Spannungsfelder, sie suchen u.a. schulische Orte auf, an denen die Veränderungen besonders spürbar wurden, sie zeigen diese Veränderungen an Medien wie Katechismen, Missionsheften oder Schulfibeln auf und weisen auf die Ausbildung neuer Berufsprofile hin. Der Band dokumentiert die Tagung des Arbeitskreises für historische Religionspädagogik im Frühjahr 2021, an der sich Historiker, Pädagogen und Religionspädagogen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz beteiligten.

Der Band beleuchtet Wandlungsprozesse der Religionspädagogik im langen 19. Jahrhundert. Die epochalen gesellschaftlichen Umwälzungen in der Zeitspanne zwischen der Französischen Revolution (1789) und dem Ende des Ersten Weltkriegs (1918) betreffen zentrale Aspekte religiöser Bildung in Europa. Argumente, Narrative und Institutionen stehen auf dem intellektuellen wie politischen Prüfstand und werden neu justiert. Die versammelten Fallstudien bündeln diese Prozesse anhand exemplarisch verdichteter (inter-)nationaler Spannungsfelder, sie suchen u.a. schulische Orte auf, an denen die Veränderungen besonders spürbar wurden, sie zeigen diese Veränderungen an Medien wie Katechismen, Missionsheften oder Schulfibeln auf und weisen auf die Ausbildung neuer Berufsprofile hin.

Der Band dokumentiert die Tagung des Arbeitskreises für historische Religionspädagogik im Frühjahr 2021, an der sich Historiker, Pädagogen und Religionspädagogen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz beteiligten.

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<strong>Antje</strong> <strong>Roggenkamp</strong> | <strong>Johannes</strong> <strong>Wischmeyer</strong> (Hrsg.)<br />

<strong>Religiöse</strong> <strong>Bildung</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>langen</strong> <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong><br />

Spannungsfelder, Orte, Medien, Berufsprofile


Inhalt<br />

<strong>Religiöse</strong> <strong>Bildung</strong> <strong>im</strong> Spannungsfeld von Nationen und<br />

Konfessionen<br />

Guido Estermann<br />

Katholische Pädagogik <strong>im</strong> helvetischen Kontext ........................................ 19<br />

Robert Schelander<br />

Konfessionalität und Lehrerbildung in Österreich in der zweiten<br />

Hälfte des 19 <strong>Jahrhundert</strong>s. ........................................................................... 35<br />

<strong>Antje</strong> <strong>Roggenkamp</strong><br />

Staats-, Kultur- oder Willensnation? ............................................................. 45<br />

Geert Franzenburg<br />

Zwischen Glücksgöttin und Segensgott ....................................................... 67<br />

Orte religiöser <strong>Bildung</strong><br />

Alexander Ba<strong>im</strong>ann<br />

Der Religionsunterricht am Archigymnasium in Soest<br />

<strong>im</strong> 18. <strong>Jahrhundert</strong> ......................................................................................... 75<br />

Andreas Kubik<br />

Konfessionsübergreifender Religionsunterricht in der<br />

Aufklärungszeit .............................................................................................. 99<br />

Michael Lapp<br />

Geistliche Schulaufsicht zwischen persönlichem Wohlwollen und<br />

dienstlichem Handeln .................................................................................. 115<br />

Viktoria Gräbe/Michael Wermke<br />

Gegenstand staatlicher Formatierung und Ort öffentlicher<br />

Selbstdarstellung .......................................................................................... 127<br />

Medien und Inhalte religiöser <strong>Bildung</strong><br />

Werner S<strong>im</strong>on<br />

Tradition und Wandel .................................................................................. 157


6<br />

Inhalt<br />

Wendelin Sroka<br />

Deutschsprachige Katechismusfibeln <strong>im</strong> <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong> ...................... 169<br />

Harmjan Dam<br />

Wie die Kirchengeschichte zum ›roten Faden‹<br />

des Religionsunterrichts wurde .................................................................. 197<br />

Stefan Dixius<br />

»Lieber Pastor, grüße die kleinen schwarzen Heidenkinder<br />

von mir […].« ................................................................................................. 209<br />

Berufsprofile <strong>im</strong> Umfeld religiöser <strong>Bildung</strong><br />

Norbert Friedrich<br />

Theodor Fliedner und die Kaiserswerther Lehrdiakonie ......................... 225<br />

<strong>Johannes</strong> <strong>Wischmeyer</strong><br />

Dynamisierung, Konkurrenz und Innovation religiöser <strong>Bildung</strong> ........... 245<br />

David Käbisch<br />

Pädagogische D<strong>im</strong>ensionen des Kantorenamtes<br />

<strong>im</strong> »<strong>langen</strong> <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>« ....................................................................... 257<br />

Jürgen Overhoff<br />

Johann Bernhard Basedows Erziehungslehre und ihre Bedeutung für<br />

die Religionspädagogik ................................................................................ 277<br />

Miszellen<br />

Benjamin Ahme<br />

Paulo Freire in der Einen Welt .................................................................... 295<br />

Ann-Sophie Markert<br />

Ehrenamtliches Engagement <strong>im</strong> Wandel ................................................... 307<br />

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ................................................. 316


Vorwort<br />

Das »lange« <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong> – die Epoche zwischen dem Ausbruch der französischen<br />

Revolution 1789 und dem Beginn des ersten Weltkriegs 1914 – bleibt, über<br />

allen Konjunkturwandel hinweg, ein zentrales Thema der historischen <strong>Bildung</strong>sforschung<br />

ebenso wie der Religions- und Theologiegeschichte. Der britische Universalhistoriker<br />

Eric Hobsbawm, der seit den 1960er Jahren das Konzept des ›<strong>langen</strong>‹<br />

<strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s entwickelte, stellt die Periode als Übergang zwischen der<br />

von absolutistischer und feudalistischer Herrschaft geprägten Frühen Neuzeit und<br />

dem Übergang zu demokratischen und populistischen Mustern von Gesellschaft<br />

und Politik <strong>im</strong> Gefolge des Ersten Weltkriegs dar. 1 Hobsbawms Konzept wurde in<br />

der Folgezeit vielfach aufgegriffen und in den letzten Jahrzehnten vor allem auf<br />

dem Feld der transnationalen und der Globalgeschichte weiterentwickelt. 2<br />

Während des <strong>langen</strong> <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s wurden auf dem Feld der religiösen<br />

<strong>Bildung</strong> und Erziehung Argumente, Narrative und Institutionen geprägt, die bis<br />

heute für die europäischen Gesellschaften handlungsorientierend sind. Dynamiken<br />

wie Säkularisierung und Rationalismus, Nationenbildung und Demokratisierung,<br />

aber auch die Hinwendung zur Historizität von Religion und Kultur kennzeichnen<br />

die Epoche ebenso wie globale gesellschaftliche Transformationsprozesse<br />

infolge von Industrialisierung, demographischer Veränderungen und globaler<br />

Migration. Ziel der Jahrestagung des Arbeitskreises für historische Religionspädagogik<br />

(AKhRP) <strong>im</strong> Jahr 2020 – coronabedingt ins Frühjahr 2021 verschoben<br />

– war, aktuelle Einblicke in die Veränderungen und Modernisierungsschübe auf<br />

dem Feld religiöser <strong>Bildung</strong> und Erziehung während des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s zu bündeln<br />

und bei zentralen Themen zu Vergleichsperspektiven zu ge<strong>langen</strong>.<br />

Für die historische Religionspädagogik ist ein revidierter Blick auf das <strong>19.</strong><br />

<strong>Jahrhundert</strong> und auch auf dessen direkte Vorgeschichte ein besonderes Anliegen.<br />

Zwar ist die Genese der Disziplin insofern ›geklärt‹, als sich in der Forschung<br />

1<br />

Hobsbawm unterscheidet diesbezüglich drei Phasen: The Age of Revolution (1789–1848),<br />

The Age of Capital (1848–1875), The Age of Empire (1875–1914). Vgl. auch Hobsbawm,<br />

Revolutionen.<br />

2<br />

Vgl. dazu nur Osterhammel, Verwandlung, 85.


8<br />

Vorwort<br />

mehrheitlich die Ansicht durchgesetzt hat, dass die Entstehung einer Wahrnehmung<br />

der theoretischen und praxisbezogenen Reflexion christlich-religiöser <strong>Bildung</strong><br />

auf akademischem Niveau als ›Religionspädagogik‹ auf das letzte Drittel des<br />

<strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s zu datieren ist. Dies geschah <strong>im</strong> Rahmen eines mehrstufigen Differenzierungs-<br />

und Absetzungsprozesses aus der traditionellen Universitätsdisziplin<br />

der Katechetik, aber auch aus den Religionslehrerverbänden heraus, die ihrerseits<br />

<strong>im</strong> Verlauf des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s – während der Blütezeit positioneller theologischer<br />

Modelle – bedeutende Modernisierungsschübe erfuhr. 3 Seit längerem<br />

stehen die Entwicklung der Lehrerbildung, die Rekonstruktion von Lehrkonzepten,<br />

Reformansätzen und Ideologiebildungen, historische Institutionalisierungsprozesse<br />

sowie die Untersuchung von religiösen <strong>Bildung</strong>smedien und von medialen<br />

Diskursen der Akteure religiöser <strong>Bildung</strong> <strong>im</strong> Mittelpunkt des Interesses. Im<br />

Rückblick auf die vergangenen zwei Generationen zeichnet sich ein stattlicher Ertrag<br />

an Arbeiten zu Biographien und Einstellungen von Akteuren religiöser <strong>Bildung</strong><br />

sowie zu katechetischen und religionspädagogischen Themen und Diskursen<br />

<strong>im</strong> Verlauf des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s ab. 4<br />

Sowohl mit Blick auf das frühe als auch auf das späte <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong> bleibt<br />

jedoch eine Reihe an ungeklärten Zusammenhängen und blinden Flecken bestehen,<br />

für deren Untersuchung es der verbundenen Bemühung von historisch arbeitenden<br />

Religionspädagogen, Pädagogen sowie Allgemein- und Theologiehistorikern<br />

bedarf. Wir wissen <strong>im</strong>mer noch zu wenig über die Auswirkung, die Charakteristika<br />

des <strong>langen</strong> <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s wie die beginnende gesellschaftliche Modernisierung<br />

und die Ausbildung einer spezifischen Nationalstaatlichkeit, der aufke<strong>im</strong>ende<br />

Kolonialismus, der kontinuierliche Impuls zur Schulreform und die Verbürgerlichung<br />

des <strong>Bildung</strong>ssektors in kirchen- und theologiegeschichtlicher Hinsicht<br />

hatten.<br />

In professionssoziologischer Hinsicht macht die Forschung zunehmend auf die<br />

Unterstützung pädagogischer Innovationen durch kirchliche Verantwortungsträger<br />

aufmerksam. Wurden aufklärerische Gedanken von den verantwortlichen<br />

Theologen, durch einzelne Lehrpersonen oder mit Hilfe neuer Medien praktisch<br />

<strong>im</strong>plementiert? Welche Unterschiede bestehen in der regionalen Verwendung und<br />

Rezeption von Katechismen, biblischen Geschichten, Gesangbüchern und Schulbüchern?<br />

Institutionentheoretisch ungeklärt ist unter anderem die Beziehung zwischen<br />

schulischen Akteuren und kirchlichen Aufsichtspersonen: Wie verliefen<br />

normative Setzungen, Aushandlungsprozesse und Konflikte? Kaum untersucht<br />

sind einzelne innereuropäische Transformationsprozesse in schulgeschichtlicher<br />

und ländervergleichender und transferorientierter Perspektive. Das konfessionell<br />

best<strong>im</strong>mte, in kontinuierlicher »Reform« befindliche Schulwesen dürfte sich als<br />

3<br />

<strong>Roggenkamp</strong>, Religionspädagogik; Käbisch/<strong>Wischmeyer</strong>, Praxis; zuletzt S<strong>im</strong>ojoki/<br />

Schweitzer/Henningsen/Mautz, Professionalisierung, XXI.<br />

4<br />

Vgl. nur <strong>Roggenkamp</strong>, Religionspädagogik; Käbisch/<strong>Wischmeyer</strong>, Praxis; Schröder, Institutionalisierung;<br />

S<strong>im</strong>ojoki/Schweitzer/Henningsen/Mautz, Professionalisierung, XXIII f.


Vorwort 9<br />

Kristallisationspunkt des Ringens um Tradition und/oder Wandel erweisen. Die<br />

Rekonstruktion bildungs-, kirchen- und nationalpolitischer Strategien sowie gegebenenfalls<br />

daraus resultierender Sonderwege in den europäischen Staaten und<br />

außereuropäischen Kolonien sowie Territorien ist ein besonderes Desiderat.<br />

In jüngster Zeit greift die religionspädagogische Forschung verstärkt aktuelle<br />

Methoden der Historiographie auf, unter anderem kulturwissenschaftlich-ethnologische<br />

Ansätzen oder die digital unterstützte historische Netzwerkanalyse. Auch<br />

das ideengeschichtliche Interesse wächst: In Auseinandersetzung mit dem traditionellerweise<br />

gezeichneten Bild von der Herrschaftsabhängigkeit von Schule und<br />

Lehrpersonal geht es um die Rezeption bzw. Entwicklung klassischer politischer<br />

Begriffe wie »Demokratie«, »Menschenwürde« oder »Gehorsam«, die sich zunächst<br />

an den klassisch-antiken und kirchlichen Autoritäten orientierten, <strong>im</strong> Gefolge der<br />

Französischen Revolution eine pädagogische Transformation erfuhren und die<br />

sich schließlich seit 1848 einen festen Platz in der politischen Debatte erkämpften.<br />

Inwiefern spiegeln sich entsprechende Debatten in Lehrplänen, Lehrwerken<br />

sowie Ausbildungsformaten wider? Nach wie vor geht es aber auch um strukturelle<br />

und theoretische Anstöße, die einzelne religionspädagogische Initiativen<br />

oder Bewegungen <strong>im</strong> kirchlichen Kontext ebenso wie innerhalb einer Schulkultur<br />

ausgeübt haben. Dies betrifft für den Zeitraum des <strong>langen</strong> <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s vor<br />

allem Fragen der Umsetzung subjektorientierter anthropologischer Ansätze oder<br />

der Idee einer potentiellen Religionssensibilität in der Pädagogik. Hier ist insbesondere<br />

auch der spezifische Umgang mit Religion in den Kolonien bzw. vice versa<br />

die Rezeption entsprechender kolonialer und missionstheologischer Konzepte in<br />

Europa von Interesse.<br />

Auffällig erscheint auch als Resümee der Tagung, dass die einst virulenten<br />

Debatten um die Lehrerverbände, die um das Jahr 2000 Jahren in der historischen<br />

Religionspädagogik geführt wurden, aktuell keine oder eine nur geringe Rolle<br />

spielen. Dies mag mit einer Verlagerung der historischen Forschung zusammenhängen.<br />

Anstatt der vereins- und verbandsgeschichtlichen Zugänge stehen aktuell<br />

quantitative Studien <strong>im</strong> Vordergrund. Anhand von Dissertationen, Habilitationsschriften<br />

und weiteren Publikationen werden zwar Phänomene der Ausdifferenzierung<br />

und Funktionalisierung erschlossen. Das <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong> gerät aber aus<br />

dem Blick. In der jüngsten Rekonstruktion der Disziplingeschichte wird die Genese<br />

von »Religionspädagogik« mit der institutionellen Ausbildung gleichgesetzt.<br />

Für die Volksschulen wird sie auf das Jahr 1919, für die Gymnasien auf die 1960er<br />

Jahre datiert. 5 Diesen Wahrnehmungsverkürzungen möchte der vorliegende Band<br />

entgegenwirken.<br />

Kein <strong>Jahrhundert</strong> ist so gut erschlossen wie das lange <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>. Viele<br />

Zeitschriften, gedruckte Quellen oder andere Veröffentlichungen sind zugänglich.<br />

Auch Archivquellen sind <strong>im</strong> Zeitalter der Digitalisierung leichter denn je zu erschließen.<br />

Zwar gibt es noch keine zentralen Portale, die das in zum Teil internationalen<br />

Bibliotheken und Archiven lagernde Material unter<br />

5<br />

Käbisch, Genese, 65–75.


10<br />

Vorwort<br />

religionspädagogischem Fokus zur Verfügung stellen. Viele Beiträge <strong>im</strong> vorliegenden<br />

Band fördern aber umfangreiche und originelle Quellen zutage und legen auch<br />

damit ein Zeugnis ab vom anspruchsvollen historiographischen Standard, der in<br />

der historischen Religionspädagogik möglich ist.<br />

Die Mehrzahl der Beiträge ist als Fallstudie angelegt. Neben diesen klassischen<br />

thematischen Tiefbohrungen werden aber auch methodisch neue Zugänge<br />

erprobt. Die Herausgebenden haben, den Diskussionserträgen der Tagung folgend,<br />

die ursprünglichen Tagungsblöcke (Modernisierungsschübe in der Lehrerbildung;<br />

Lehrkonzepte; Reformansätze; Institutionalisierungsprozess; Medien<br />

und Ideologiebildungen) neu angeordnet, um den Synergien gerecht zu werden,<br />

die sich <strong>im</strong> Verlauf der Tagung zwischen den Einzelbeiträgen gezeigt haben. Die<br />

folgenden vier Leitperspektiven – 1. das Spannungsfeld von Nation und Konfession,<br />

2. Orte, 3. Medien und Themen sowie 4. Berufsprofile religiöser <strong>Bildung</strong> und<br />

Erziehung – sind als ein Angebot innovativer Zugänge für aktuelle und künftige<br />

Forschungen zum <strong>langen</strong> <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong> gedacht, die <strong>im</strong> Idealfall dazu führen<br />

können, dass einzelne Projekte und Erkenntnisziele noch deutlicher aufeinander<br />

bezogen sind und wechselseitig voneinander profitieren.<br />

1. <strong>Religiöse</strong> <strong>Bildung</strong> <strong>im</strong> Spannungsfeld von Nation<br />

und Konfession<br />

<strong>Bildung</strong> und Religion avancierten <strong>im</strong> <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong> einerseits zu Kernthemen<br />

nationszentrierter Diskurse. Andererseits profitierten sie wie nie zuvor von der<br />

Intensivierung transnationaler Kommunikation. 6<br />

Guido Estermann reflektiert in<br />

seinem Beitrag den Einfluss einer konfessionell-katholischen Pädagogik auf die<br />

Schulstruktur in der Schweiz. Er zeigt, dass sowohl der helvetische Kulturkampf<br />

als auch die Päpstliche Enzyklika von 1871 sowie Spannungen zwischen ultramontanen<br />

und katholisch-liberalen Kräften innerhalb der katholischen Kirche die<br />

historisch-religiösen Entwicklungen der Pädagogik in der Schweiz prägten. In diesem<br />

Kontext entwickelten Pädagogen und Lehrerbildner wie Henrich Baumgartner<br />

(1846–1904), Fridolin Noser (1849–1908) oder Franz Xaver Kunz (1847–<br />

1910) pädagogische Konzepte, die zwischen ›natürlichen‹ und ›übernatürlichen‹<br />

Erziehungszielen differenzierten und mit ihrem offenbarungstheologischen Ansatz<br />

die Lehrerausbildung ebenso wie das Curriculum der Volksschulen – und dies<br />

nicht nur <strong>im</strong> Religionsunterricht – prägten. Einen biographisch-institutionellen<br />

Ansatz verfolgt Robert Schelander, der am Beispiel des <strong>Bildung</strong>sbürokraten Theodor<br />

Vernaleken (1812–1907) zeigt, wie ein eindeutig protestantisch geprägter Pädagoge<br />

die Entwicklung des Schulwesens <strong>im</strong> zutiefst katholisch geprägten habsburgischen<br />

Kaiserstaat an führender Stelle mitgestalten konnte. Schelander weist<br />

mit seiner exemplarischen Analyse auf die Problematik der zum Teil noch<br />

6<br />

<strong>Wischmeyer</strong>, <strong>Bildung</strong>sräume.


Vorwort 11<br />

unzureichend erschlossenen Quellen zur Modernisierung des österreichischen<br />

Schulwesens hin. Anstelle der Vorstellung eines homogen katholischen Österreich<br />

setzt er eine differenzierte Betrachtung konfessioneller Differenzen und Ambiguitäten<br />

in der Schulbildung. Die Bedeutung des staatlichen Einflusses auf das<br />

Schulwesen und die Konstituierung der Nation <strong>im</strong> Rahmen von <strong>Bildung</strong>sprozessen<br />

zeigt <strong>Antje</strong> <strong>Roggenkamp</strong> in ihrem Beitrag zur Bedeutung von Religion in Nationalisierungspraktiken<br />

in transnationaler Perspektive auf. Sie vergleicht Stellung<br />

und Funktion des religiösen Selbstverständnisses in der Schweiz, in Frankreich<br />

und in Deutschland. Sowohl mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen<br />

als auch die schulische Stellung von Religion werden in diachroner<br />

Perspektive Gemeinsamkeiten, aber auch synchrone Unterschiede sichtbar. Im<br />

Umgang mit Religion treten identitätsstiftende Merkmale des jeweiligen nationalen<br />

Selbstverständnisses deutlich hervor. <strong>Roggenkamp</strong> bekräftigt angesichts der<br />

Befunde die Bedeutung der transnationalen <strong>Bildung</strong>sforschung auch für die Rekonstruktion<br />

von Prozessen des Nation-Building. Gert Franzenburg diskutiert am<br />

Beispiel des livländischen Katechismus von Johann Heinrich Kurtz (1809–1890)<br />

das Zusammenspiel kultureller, biographischer und kirchenpolitischer Einflüsse<br />

auf den katechetisch-religions-pädagogischen Diskurs in den russischen Ostseeprovinzen<br />

um die Mitte des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s. Franzenburg rekonstruiert, wie die<br />

durch eine Konkurrenz von russischem, lettischem und deutschem Nationalismus<br />

geprägte politische Lage, die durch Choleraepidemien bedingte gesellschaftliche<br />

Situation sowie eine durch öffentlich-rechtliche Schranken best<strong>im</strong>mte Kirchenpolitik<br />

das Lehrwerk von Kurtz beeinflussten. Kurtz’ heilsgeschichtliche Forschungs-<br />

und Lehrinteressen, die eine enge Verbindung von biblischer, kosmologischer<br />

und Menschheitsgeschichte auszeichnet, stehen beispielhaft für den Niederschlag<br />

des zeitgenössischen Geschichtsinteresses in der Theorie und Praxis<br />

religiöser <strong>Bildung</strong>.<br />

2. Orte<br />

In einem zweiten Schwerpunkt fokussiert der Band auf Orte religiöser <strong>Bildung</strong><br />

und Erziehung. Die topologische Metapher des Ortes, kulturwissenschaftlich<br />

grundiert, findet sowohl in der Religionspädagogik als auch in der <strong>Bildung</strong>sgeschichtsforschung<br />

zunehmend Beachtung. 7 <strong>Bildung</strong>sorte wie die Schule in ihren<br />

mannigfaltigen Formaten, das Lehrerseminar oder auch die kirchliche Sonntagsschule<br />

wurden <strong>im</strong> <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong> als Fluchtpunkte der Institutionalisierung neu<br />

gedacht, zeigten aber gleichzeitig Grenzen einer politischen Nivellierung, da sie<br />

sich nie vollständig in staatliche oder kirchliche Verwaltungsstrukturen eingliedern<br />

ließen. Dazu trugen auch die föderale Struktur Deutschlands sowie die hohe<br />

Attraktivität privatrechtlicher Organisationsformen bei. Alexander Ba<strong>im</strong>ann zeigt<br />

7<br />

Vgl. Caruso/Kemnitz/Link (Hrsg.), Orte.


12<br />

Vorwort<br />

anhand einer Mikroanalyse des Soester Archigymnasiums, wie Inhalte, Methoden<br />

und Ziele des Religionsunterrichts <strong>im</strong> <strong>langen</strong> <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong> auch regional und<br />

›bottom up‹ kritisch reflektiert und erneuert wurden, indem einzelne Akteure<br />

Spielräume nutzten. Ausgehend von einer Auswertung lokaler Schulschriften der<br />

von Ideen des Philanthropismus und der Neologie geprägten Soester Rektoren<br />

bzw. Konrektoren und Lehrer Leopold Ernst Sachse, Johann Christian August Nöbling<br />

sowie Albert Christian Meineke, zeichnet er vielfältige Veränderungen in der<br />

dortigen Diskussion um den Religionsunterricht von 1750 bis 1809 nach. Mit der<br />

Frage nach einem interkonfessionellen Religionsunterricht <strong>im</strong> Geist der Aufklärung<br />

setzt sich Andreas Kubik auseinander. Er erörtert ein Konzept des Aufklärungsphilosophen<br />

und -pädagogen Johann Georg Heinrich Feder sowie die Lehrpraxis<br />

des ›Halberstädter Pestalozzi‹ und Schulleiters Joseph Theodosius Abs.<br />

Praktizierte Toleranz – <strong>im</strong> schulischen Kontext etwa in Form religiöser Rundgespräche,<br />

gemeinsamer Feste und moralischer Selbstkontrolle – und der Verzicht<br />

auf Kontroverstheologie sollen nach Ansicht dieser <strong>Bildung</strong>sreformer konfessionelle<br />

Spaltungen wirkten sich auf die Praxis des von ihm betreuten Internats aus,<br />

die durch geprägt war. Schulleitern und Lehrern kommt hier als exemplarischen<br />

religiösen Subjekten eine bedeutsame Rolle zu. Die produktive Konkurrenz zwischen<br />

unterschiedlichen Konzepten religiöser <strong>Bildung</strong>, auch mit Blick auf das<br />

Spannungsfeld ›indigene‹ versus ›ausländische‹ Traditionen, stellt <strong>Johannes</strong><br />

<strong>Wischmeyer</strong> anhand des Gegenübers von kirchlichem Kindergottesdienst und<br />

Sonntagsschule in Württemberg dar. Im historischen Längsschnitt zeichnet sich<br />

ein Wandel von Aufgabenzuordnungen zwischen ›Schule‹ und ›Kirche‹ ebenso wie<br />

zwischen pädagogischen und theologischen Zielstellungen ab. Bei näherem Hinsehen<br />

verlieren so die antagonistischen Narrative der zeitgenössischen Akteure<br />

ihre Eindeutigkeit. In seinem Beitrag über Rahmenbedingungen der Geistlichen<br />

Schulaufsicht stellt Michael Lapp die ambivalente Beziehung zwischen Pfarrerund<br />

lokaler Volksschullehrerschaft in Kurhessen vor. Die in der Schulaufsichtsfrage<br />

erkennbar werdende Kooperation zwischen Kirche und Staat war stets von<br />

individuellen Akteuren, ihren pädagogischen Fähigkeiten und deren Einschätzung<br />

durch Vorgesetzte abhängig. Lapp verdeutlicht, dass evangelische Pfarrer in<br />

Kurhessen bis 1918 auch die Schulvisitationen der jüdischen Volksschulen durchführten.<br />

Hier arbeitet er exemplarisch eine vertrauensvolle und auf inhaltlichen<br />

Austausch zielende Zusammenarbeit heraus. Das höhere jüdische Schulwesen in<br />

Deutschland steht auch bei Michael Wermke und Viktoria Gräbe <strong>im</strong> Fokus: Anhand<br />

der bislang unbeachteten Jahresberichte höherer jüdischer Schulen arbeiten<br />

die Autoren heraus, dass Programmschriften nicht nur von der preußischen Schulverwaltung<br />

zur Aufsicht und Reglementierung des Schulwesens genutzt wurden,<br />

sondern auch der Schulleitung die Möglichkeit eröffneten, sich selbst der Öffentlichkeit<br />

zu präsentieren.


Vorwort 13<br />

3. Medien<br />

Nachdem die historische Religionspädagogik seit jeher ergiebig Methoden der<br />

Schulbuchforschung anwendet, hat sich <strong>im</strong> Zeichen der neuen Mediengeschichte<br />

der Umfang der untersuchenswerten medialen Quellen deutlich erweitert. Die folgenden<br />

Beiträge tragen diesem Ansatz noch nicht dergestalt Rechnung, dass sie<br />

das ganze Spektrum potentiell auswertbarer Quellen und deren spezifische Materialität<br />

in den Blick nehmen. Lebhaft wird jedoch die Logik medialer Produktion<br />

und Rezeption verfolgt, was ein verstärktes Interesse an der medial vermittelten<br />

Dynamik religiöser <strong>Bildung</strong>sprozesse belegt. Werner S<strong>im</strong>on arbeitet in der longue<br />

durée anhand der katholischen Katechismen in der (Erz-)Diözese Mainz während<br />

des <strong>langen</strong> <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s das Wechselspiel zwischen der restaurativen Kontinuität<br />

von Traditionen und kirchen- und theologiepolitischem Aufbruch samt der<br />

Formung neuer Traditionen heraus. Der Katechismus als ein die katechetische<br />

Unterweisung maßgeblich normierendes Medium erweist sich auch in der anbrechenden<br />

Moderne, in einer Zeit der Umbrüche zwischen katholischer Aufklärung<br />

und ultramontaner Uniformierung, als unverzichtbar für die Kommunikation der<br />

kirchlichen Glaubenslehre. Wendelin Sroka rekonstruiert in seinem Beitrag zu<br />

deutschsprachigen Katechismusfibeln eine <strong>im</strong> 18. <strong>Jahrhundert</strong> einsetzende Loslösung<br />

des Erstleseunterrichts von der Kinderkatechese, die das Aufkommen von<br />

eigenen Lesefibeln bedingte und die herkömmlichen Katechismusfibeln als Erstlesebücher<br />

abzulösen begann. Diese Ablösung erweist sich als ein langwieriger<br />

und von Ungleichzeitigkeit geprägter Prozess, die Erstlesebücher des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s<br />

behielten vielfältige religiöse Stoffe, wobei ältere Traditionen auch konfessionsübergreifend<br />

rezipiert wurden. Anhand von Schulbuchanalysen erläutert<br />

Harmjan Dam die sich wandelnde Bedeutung der Kirchengeschichte <strong>im</strong> Religionsunterricht.<br />

Die bleibende Verknüpfung von Kirchengeschichte und biblischer Geschichte<br />

führte <strong>im</strong> <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong> zu konzeptionellen Innovationen, die als ein<br />

spezifischer Ausdruck des Historismus deutbar sind: Die Kirchengeschichte enthielt<br />

weiterhin Aspekte der Verkündigung, die pädagogische Präsentation der biblischen<br />

Historie ging nun mit dem Anspruch geschichtlicher Wahrheit einher. Bereits<br />

um 1900 wurde von einem »geschichtlichen Religionsunterricht« (Ernst<br />

Thrändorf) gesprochen, dessen Inhalte seit den 1920er Jahren zunehmend heroisiert<br />

wurden. Erst <strong>im</strong> Verlauf des 20. <strong>Jahrhundert</strong>s, als man zunehmend eine Diskrepanz<br />

zwischen der neuen konzeptionellen Basis einer verkündigenden Unterweisung<br />

und den noch vorhandenen historisch ausgerichteten Religionslehrbüchern<br />

bemerkte, wurde der Kirchengeschichte die Rolle eines ›Stiefkinds‹ der Religionspädagogik<br />

zugewiesen. Stefan Dixius analysiert Kindermissionszeitschriften,<br />

die aufgrund ihrer hohen Auflagen, ihres Einsatzes in Sonntagsschulen sowie<br />

ihrer Popularität – durch die Befriedigung des »Durstes nach Exotischem« – eine<br />

wichtige Quelle der historischen Religionspädagogik darstellen. Anhand mehrerer<br />

Titel zeigte er, wie pädagogische Strategien persönlicher Ansprache und eines interaktiven<br />

Zugangs zur Leserschaft funktionierten. Dabei geht es der Interpretation<br />

auch darum, kulturalistische und rassistische Ideologeme zu dekonstruieren


14<br />

Vorwort<br />

und auch eine zentrale Funktionalität des untersuchten Mediums zu erklären,<br />

nämlich die Steigerung der Spendenbereitschaft der europäischen Christen für die<br />

Mission.<br />

4. Berufsprofile<br />

Im Bestreben, das lange <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong> als ein Zeitalter der Innovationen <strong>im</strong> Bereich<br />

religiöser <strong>Bildung</strong> und Erziehung zu charakterisieren, lag ein weiterer Fokus<br />

der Tagung auf dem institutionellen Zusammenspiel von kirchlichen, politischen<br />

und gesellschaftlichen Autoritäten <strong>im</strong> Kontext der Professionalisierung kirchlichpädagogischer<br />

Berufsprofile. Norbert Friedrich zeigt anhand des Konzepts der »Kaiserswerther<br />

Lehrdiakonie«, wie die Innere Mission <strong>im</strong> Spannungsfeld von Disziplinierung,<br />

neuhumanistischer Modernisierung und Verstaatlichung des Schulwesens<br />

eigenständige Akzente setzte. Am Beispiel der pädagogischen Arbeit Theodor<br />

Fliedners in der Kaiserswerther Diakonissenanstalt untersucht er, inwiefern die<br />

Auseinandersetzung der Inneren Mission mit pädagogischen und religionspädagogischen<br />

Fragen zu einer doppelten Ausbildungsstrategie führte, die die Ausbildung<br />

der Diakonissen sowohl für die Arbeit in der Krankenpflege als auch für die<br />

Erziehungsarbeit sowie zugleich die Ausbildung von Kleinkinder- und Volksschullehrerinnen<br />

für eine selbstständige Berufstätigkeit in den später so genannten<br />

»Lehrstationen« beinhaltete. Anhand einer Initiative des Leipziger Pfarrers <strong>Johannes</strong><br />

Heber zur Erneuerung des evangelischen Kantorenamtes aus dem Jahr 1940<br />

lenkt David Käbisch das Augenmerk darauf, wie langandauernd auf dem Feld der<br />

religiösen <strong>Bildung</strong> und Erziehung Formationen des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s nachwirken<br />

konnten. Auch nach der Entkopplung von Lehr- und Kantorenamt <strong>im</strong> Gefolge der<br />

Umbrüche von 1918 beschäftigte die staatlichen wie kirchlichen Nachfolgeinstanzen<br />

die Frage, ob und wie trotz seit dem <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong> gegenläufiger Professionalisierungstendenzen<br />

das Kantorenamt mit seiner pädagogisch-kirchenmusikalischen<br />

Zwitterstellung eine Zukunft <strong>im</strong> Rahmen kirchlicher Berufsprofile haben<br />

könne.<br />

Der Beitrag von Jürgen Overhoff befragt das Wirken Johann Bernhard Basedows<br />

als dasjenige eines Religionspädagogen avant la lettre. Er skizziert anhand<br />

einer detaillierten Werkanalyse, inwiefern die Aufklärungspädagogik in vielen inhaltlichen<br />

und formalen Aspekten als ein Sprungbrett für das Ringen um die Sache<br />

der Religionspädagogik zu betrachten ist, das bereits die Jahrzehnte vor 1889<br />

geprägt hat. Der Aufsatz dient damit zugleich als eine Art Synthese dieses Bandes:<br />

In zahlreichen seiner Beiträge führen ideengeschichtliche Entwicklungslinien zu<br />

Basedow, zu Pestalozzi, zu Salzmann und auch zu Diesterwegs Programm eines<br />

Unterrichts in der freien Religion zurück.<br />

Mit der Herausgabe des Bandes verbindet sich die Hoffnung, dass er zu einer<br />

weiteren Belebung der historisch-religionspädagogischen Erkundung des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s<br />

beitragen kann und die hier versammelten Ideen für weitergehende


Vorwort 15<br />

Forschungsperspektiven und neue thematische Fragestellungen von einem möglichst<br />

weiten Kreis Interessierter aufgegriffen werden. Wie bei den Jahrestagungen<br />

des AKHRP üblich, wurde auch dem Forschungsnachwuchs die Gelegenheit<br />

eröffnet, aktuelle Dissertationsprojekte vorzustellen. Erfreulicherweise können<br />

hier die aus diesen Präsentationen hervorgegangenen Beiträge von Benjamin<br />

Ahme zu Paolo Freire sowie von Anne-Sophie Markert zum Wandel des Ehrenamtskonzepts<br />

abgedruckt werden.<br />

Die Herausgeber haben abschließend einer Reihe von Personen zu danken:<br />

Frau Ira Weber und Herrn Lukas Hintz für die Erstellung der Druckvorlage, Frau<br />

Sarah Emrich, Frau Johanna S. Waubke und Frau Luisa Wellems für Unterstützung<br />

bei der Fertigstellung und Korrektur der Manuskripte. Die Kollegen Michael<br />

Wermke und Thomas Heller nahmen unser Buch in ihre bewährte Reihe, die Studien<br />

zur religiösen <strong>Bildung</strong>, auf. Ihnen und dem Verlag danken wir für ihre Geduld<br />

– und letzterem in der Person von Christina Wollesky auch für die Unterstützung<br />

bei der Manuskripterstellung. Ein besonderer Dank geht für einen namhaften<br />

Druckkostenzuschuss an das Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen, insbesondere<br />

an Wolfgang Günther, sowie an den Arbeitskreis für historische Religionspädagogik.<br />

Im Dezember 2021<br />

<strong>Antje</strong> <strong>Roggenkamp</strong>, Münster; <strong>Johannes</strong> <strong>Wischmeyer</strong>, Hannover


16<br />

Vorwort<br />

5. Quellen- und Literaturverzeichnis<br />

Caruso, Marcelo/Kemnitz, Heidemarie/Link, Jörg-W. (Hrsg.), Orte der <strong>Bildung</strong>sgeschichte.<br />

Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2009.<br />

Hobsbawm, Eric J., Europäische Revolutionen, Zürich: Kindler Verlag 1962.<br />

Käbisch, David, Genese der ›Religionspädagogik‹ als Disziplin. Historische Aspekte eines<br />

enzyklopädischen Problems, in: Schlag, Thomas/Schröder, Bernd (Hrsg.), Praktische<br />

Theologie und Religionspädagogik. Systematische, empirische und thematische Verhältnisbest<strong>im</strong>mungen,<br />

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020 (Veröffentlichungen<br />

der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 60), 57–94.<br />

Käbisch, David/<strong>Wischmeyer</strong>, <strong>Johannes</strong>, Praxis akademischer Religionslehrerbildung. Katechetik<br />

und Pädagogik an der Universität Jena, Tübingen: Siebeck-Mohr 2008 (Praktische<br />

Theologie in Geschichte und Gegenwart 5).<br />

Osterhammel, Jürgen, Die Verwandlung der Welt, München: Beck Verlag 6 2020.<br />

<strong>Roggenkamp</strong>, <strong>Antje</strong>, Religionspädagogik als »Praktische Theologie«. Zur Entstehung der<br />

Religionspädagogik in Kaiserreich und We<strong>im</strong>arer Republik, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt<br />

2001 (Arbeiten zur Praktischen Theologie 20).<br />

Schröder, Bernd (Hrsg.), Institutionalisierung und Profil der Religionspädagogik. Historisch-systematische<br />

Studien zu ihrer Genese als Wissenschaft, Tübingen: Siebeck-<br />

Mohr 2009 (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 8).<br />

S<strong>im</strong>ojoki, Henrik/Schweitzer, Friedrich/Henningsen, Julia/Mautz, Jana-Raissa, Professionalisierung<br />

des Religionslehrerberufs. Analysen <strong>im</strong> Schnittfeld von Lehrerbildung,<br />

Professionswissen und Professionspolitik, Paderborn: Schöningh 2021 (Religionspädagogik<br />

in pluraler Gesellschaft 21).<br />

<strong>Wischmeyer</strong>, <strong>Johannes</strong>, »Transnationale <strong>Bildung</strong>sräume« – methodische und thematische<br />

Anregungen für die historische Religionspädagogik, in: <strong>Roggenkamp</strong>, <strong>Antje</strong>/Wermke,<br />

Michael (Hrsg.), <strong>Religiöse</strong> Sozialisation, Erziehung und <strong>Bildung</strong> in historischer Perspektive.<br />

Arbeitsfelder historischer Religionspädagogik, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt<br />

2014 (Studien zur religiösen <strong>Bildung</strong> 4), 317–329.


<strong>Religiöse</strong> <strong>Bildung</strong> <strong>im</strong><br />

Spannungsfeld von<br />

Nationen und<br />

Konfessionen


Guido Estermann<br />

Katholische Pädagogik <strong>im</strong><br />

helvetischen Kontext<br />

Die offenbarungstheologisch begründete »katholische Pädagogik« konnte <strong>im</strong> Kontext<br />

der katholischen Lehrpersonenbildung spätestens seit dem Kulturkampf der<br />

Schweiz ab dem letzten Drittel des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s ihre Wirkung nachhaltig zeigen.<br />

In ihrer Weiterführung <strong>im</strong> Sinne der konfessionellen Staatsschulidee wurde<br />

sie auch bildungspolitisch konkretisiert.<br />

1. Einführung: Die katholische Pädagogik<br />

Im Rahmen der Tagung des Verbands der Vereine Katholischer Akademiker in<br />

Recklinghausen trafen sich 1926 katholische akademisch Gebildete, um sich zu<br />

Fragen des katholischen <strong>Bildung</strong>sideals auszutauschen und sich ihres eigenen <strong>Bildung</strong>sideals<br />

bewusst zu werden. Geprägt war diese Zeit von einem Gefühl der<br />

Krise aufgrund der Erfahrungen des vergangenen Weltkriegs. Es kann angenommen<br />

werden, dass es eine Wendung vom Mechanismus hin zum Vitalismus, vom<br />

Rationalismus hin auch zum Irrationalen gab. 1 Selbst die exakten Wissenschaften<br />

stießen an ihre Grenzen und mit ihren Entdeckungen – beispielsweise in der<br />

Quantenphysik – wurden bisherige kausale Erklärungsmodelle infrage gestellt.<br />

Das Irrationale, Schöpferische, Unbewusste wurde wichtig und entdeckt. Jugendbewegungen,<br />

Wanderbewegungen, das Erlebnis in der Natur – all dies wurde<br />

spürbar und hatte seinen Widerhall in der gesellschaftlichen Atmosphäre. Die<br />

Krise der Philosophie versuchte man zu überwinden, indem ein »Wiener Kreis«<br />

die Synthese von Naturwissenschaft und Philosophie zu konstruieren versuchte.<br />

Die Zwanzigerjahre des 20. <strong>Jahrhundert</strong>s in Deutschland waren geprägt von<br />

vielen gesellschaftlichen Umbrüchen und Neuorientierungen, deren Ziele nicht<br />

mehr einfach klar waren. In dieser »Transformationsatmosphäre« waren es auch<br />

die katholischen Pädagoginnen und Pädagogen, die ein gesamtheitliches<br />

1<br />

Reble, Geschichte, 93.


20<br />

Guido Estermann<br />

Menschenbild ihrer Couleur einmal mehr manifestierten und – <strong>im</strong> Gegensatz zu<br />

der von ihnen genannten profanen Pädagogik – mit einem Transzendenzbezug<br />

versahen. Bei der 1926 organisierten »Recklinger Sondertagung des Verbandes<br />

der Vereine katholischer Akademiker« fasst Bernhard Rosenmöller als Herausgeber<br />

des Tagungsbandes die Situation für die Katholikinnen und Katholiken treffend<br />

zusammen: »Noch tiefer aber wird der <strong>Bildung</strong>sprozess dadurch umgestaltet,<br />

dass naturwissenschaftliches und geisteswissenschaftliches Denken mit ehrfürchtigem<br />

Gottesbekennen sich verbindet und alle Erkenntnis sich dem übernatürlichen<br />

Weltbilde eingliedert« 2 . Damit wird die Theologie zum Referenzpunkt<br />

pädagogischer Überlegungen und Konstrukte, die sich in einem offenbarungstheologischen<br />

pädagogischen System beschreiben lässt.<br />

Ausgehend von der Erbsündenlehre zeichnet sich das katholische <strong>Bildung</strong>sideal<br />

– so beschreibt es treffend Abt Horwegen O.S.B. in seinem Tagungsbeitrag –<br />

von seiner »formalen Seite« hin geordnet auf Gott, Christus und die Kirche als<br />

Gegebenheit der göttlichen Offenbarung und der göttlichen Heilsordnung aus. Von<br />

seiner »materialen Seite« her ist es auf die Kulturgüter hin geordnet. 3 Das Ideal<br />

des Heils, das für jeden gläubigen Menschen durch die Gnadengaben der Kirche<br />

zu er<strong>langen</strong> möglich ist, zeigt sich in der »Heiligen Kirche«.<br />

Die Zwanzigerjahre des 20. <strong>Jahrhundert</strong>s können wohl als ein Höhepunkt in<br />

der Gestaltung des katholischen <strong>Bildung</strong>sideals gesehen werden –nach einem längeren<br />

Entwicklungsprozess, der ab dem <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong> in Gang gekommen war.<br />

Und obwohl dieses katholische <strong>Bildung</strong>sideal bzw. das mit ihr entwickelte System<br />

der katholischen Pädagogik zwar – so in der Wertung von Klaus Peter Horn – als<br />

Minderheitskonzept zu verstehen ist (Horn 2003), zeigte es eine nachhaltige Wirkung,<br />

wie am Beispiel des helvetischen Kontexts zu zeigen sein wird.<br />

Zwar darf die jesuitische <strong>Bildung</strong>sreform des 17. und 18. <strong>Jahrhundert</strong>s nicht<br />

vergessen werden, wobei jedoch <strong>im</strong> entscheidenden Werk »Ratio Studiorum« der<br />

Gesellschaft Jesu von 1599 kaum eine Reflexion über Menschenbild, Leitbild oder<br />

<strong>Bildung</strong>sideal zu finden ist. Man steht in der Sicherheit einer – zwar gefährdeten,<br />

aber doch gültigen – christlich-katholisch geprägten Lebensordnung.<br />

Eine der wichtigen Wurzeln des katholischen <strong>Bildung</strong>sideals – das sich später<br />

auch <strong>im</strong> System der katholischen Pädagogik wiederfinden lässt – ist beispielsweise<br />

bei Johann Michael Sailer (1751–1832) in seinem pädagogischen Werk<br />

»Über die Erziehung für Erzieher« von 1807 zu erkennen: Sailer sieht das <strong>Bildung</strong>sideal<br />

u. a. in der Harmonie der Seinsphären, gemeint sind damit die an<strong>im</strong>alische<br />

und die geistige Seinsphäre. Die geistige Seinsphäre unterteilt er weiter in<br />

die Erkenntnis, die Sittlichkeit und die Religion. In der Religion – Sailer nennt sie<br />

nicht die katholische oder christliche, wohl meint er aber diese – erblickt Sailer<br />

die höchste Würde des Menschen. Der Anspruch, diese allumfassende Religion<br />

tief durchdrungen in der menschlichen Existenz zu verwirklichen, bildet das eigentliche<br />

<strong>Bildung</strong>sideal. Die für die <strong>im</strong> letzten Drittel des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s so<br />

2<br />

Rosenmöller, Einleitung.<br />

3<br />

Herwegen, <strong>Bildung</strong>sideal, 9.


Katholische Pädagogik <strong>im</strong> helvetischen Kontext 21<br />

entscheidende »übernatürliche« Offenbarungsstruktur innerhalb der katholischen<br />

Pädagogik wird bei Sailer noch nicht erläutert, so wie sie Karl Erlinghauser, der<br />

wohl letzte große Vertreter der katholischen Pädagogik, treffend in seiner entsprechenden<br />

Darstellung beschreibt. 4 Die Entwicklung des katholischen <strong>Bildung</strong>sideals<br />

und der entsprechenden pädagogischen Systematik war dabei von der Grundthese<br />

der Gottesebenbildlichkeit des Menschen sowie der Nachfolge Christi geprägt.<br />

2. Der Kulturkampf und seine Erlahmung <strong>im</strong><br />

politischen Kontext<br />

Ein weiterer wichtiger Entwicklungsmotor zur Darstellung einer systematischen<br />

katholischen Pädagogik und deren späterer Einbindung in den schweizerischen<br />

Bundesstaat darf <strong>im</strong> Zusammenhang mit den Prozessen <strong>im</strong> Kulturkampf ab Mitte<br />

des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s gesehen werden.<br />

Damit diese Einbindung in ihren Grundlinien erfasst werden kann, lohnt es<br />

sich, einen kurzen Blick auf die Entwicklungen <strong>im</strong> Rahmen des Kulturkampfes ab<br />

der Mitte des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s zu werfen.<br />

Der Kulturkampf darf durchaus als europäisches Phänomen betrachtet werden,<br />

dessen Konfliktlinien sich zwischen der katholischen Kirche und dem Staat<br />

abzeichneten, wobei die gemischtkonfessionell geprägten Staaten besonders betroffen<br />

waren. Die Frage nach der Eingliederung und Einbindung der katholischen<br />

Bevölkerung in neu entstehende Staatsgebilde war nicht nur für Deutschland –<br />

wie beispielsweise in Preußen – von Bedeutung, 5 sondern auch für die schweizerische<br />

Entwicklungsgeschichte <strong>im</strong> Zusammenhang mit dem neuen Bundesstaat<br />

von grösster Relevanz. 6 Für den deutschen Kontext beschreibt Klaus-Peter Horn<br />

in seinem Artikel »Katholische Pädagogik vor der Moderne. Pädagogische Auseinandersetzungen<br />

<strong>im</strong> Umfeld des Kulturkampfes in der zweiten Hälfte des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s«<br />

sehr anschaulich, wie die deutsche Gesetzgebung, beispielsweise jene<br />

von 1871/72, die politisch-weltanschauliche Basis für die Auseinandersetzung <strong>im</strong><br />

Kulturkampf mit sich brachte und Einfluss auf die Entwicklung einer »katholischen<br />

Pädagogik« nahm.<br />

Und wie sieht es für die Schweiz aus? Die Wurzeln reichen für die Schweiz<br />

bis in die Aufklärung und die Helvetische Republik (1778–1803) zurück. Die entscheidende<br />

Polarisierung beginnt jedoch mit der Zeit der Regeneration (1830–<br />

1848), in welcher der aufkommende politische und wirtschaftliche Liberalismus<br />

vonseiten der katholischen Kirche am Beispiel der Enzyklika »Mirari vos« von<br />

1832 scharf verurteilt wurde. Der Gegensatz zwischen den konservativ-<br />

4<br />

Erlinghagen, <strong>Bildung</strong>sideal, 35–38.<br />

5<br />

Horn, Pädagogik.<br />

6<br />

Stadler, Kulturkampf.


22<br />

Guido Estermann<br />

bewahrenden Strömungen innerhalb des Katholizismus und den mehrheitlich liberal-fortschrittlichen<br />

reformierten Kräften spitzte sich zu: Die erste Phase des<br />

»Kulturkampfes« zwischen den katholisch und den reformiert geprägten Kantonen<br />

erlebte zum einen mit der Aufhebung der Klöster <strong>im</strong> Kanton Aargau in den<br />

1840er Jahren und zum anderen mit der Jesuitenberufung nach Luzern <strong>im</strong> Jahr<br />

1844 sowie mit dem von den katholischen Kantonen angeführten Sonderbund am<br />

Vorabend der neuen Verfassung von 1848 seine einzelnen Höhepunkte. Der neue<br />

Bundesstaat von 1848 führte einerseits zu einer Spaltung der Katholiken, deren<br />

konservativ-katholische Mehrheit sich mit einem politisch verstandenen Katholizismus<br />

auf bundesstaatlicher Ebene marginalisiert sahen, während liberale Katholiken<br />

<strong>im</strong> Bundesstaat zu führenden Positionen aufstiegen. Andererseits bedingte<br />

und verstärkte der neue Bundesstaat die Rekonfessionalisierung der katholisch-konservativen<br />

und der reformiert-pietistischen Seite und verstärkte damit<br />

die Ausrichtung der katholischen Kirche und des Katholizismus auf Rom hin, wie<br />

diese sich dann <strong>im</strong> Ultramontanismus manifestierte. Mit dem Rückzug zur eigenen<br />

Innerlichkeit verloren die pietistisch-reformierten Kräfte ihren politischen<br />

Einfluss vollständig und waren damit von der politischen Bühne abgetreten. Die<br />

liberalen Kräfte bemühten sich, den Einfluss konservativ-religiöser Kräfte zu verhindern<br />

oder zu min<strong>im</strong>ieren – zum Beispiel versuchte die liberale Regierung des<br />

Kantons St. Gallen (1855–1857), den Einfluss der Kirche auf das Schulwesen zu<br />

beschränken, etwa durch die Aufhebung der konfessionellen Mittelschule 1855<br />

und die Gründung einer paritätischen Kantonsschule.<br />

3. Offene Auseinandersetzung und neue<br />

Bundesverfassung von 1874<br />

Zur offenen Auseinandersetzung kam es in den Jahren 1871 bis 1874. Sie best<strong>im</strong>mte<br />

die Revision der neuen Bundesverfassung von 1874 nachhaltig mit. Im<br />

Zuge der Definition des Dogmas über die päpstliche Unfehlbarkeit und den päpstlichen<br />

Pr<strong>im</strong>at auf dem 1. Vatikanischen Konzil entbrannte ein heftiger innerkatholischer<br />

und nationaler Konflikt. Teile des liberal-radikalen Lagers innerhalb der<br />

Katholiken spalteten sich fortan als Christkatholische Kirche ab. Die Exkommunikation<br />

von Pfarrer Paulin Geschwend von Starrkirch-Dulliken, der das päpstliche<br />

Unfehlbarkeitsdogma öffentlich ablehnte, durch seinen Basler Bischof Eugène<br />

Lachat 1872 sowie die Erhebung des Weihbischofs Gaspard Mermillod zum apostolischen<br />

Vikar von Genf 1873 durch die liberale Genfer Regierung und ohne Wissen<br />

des Papstes führten zu offenen Konflikten zwischen den ultramontanistischen<br />

und liberalen katholischen und reformierten Kräften. Munitioniert wurde dabei<br />

der Konflikt mit der Absetzung von Bischof Lachat durch die Diözesanstände, also<br />

den entsprechenden Kantonen des Bistums Basel, wobei Luzern und Zug dabei<br />

nicht mitmachten. Als schließlich Papst Pius IX. in der Enzyklika »Etsi multa luctuosa«<br />

vom 21. November 1873 neben Deutschland und Italien auch die Schweiz


Katholische Pädagogik <strong>im</strong> helvetischen Kontext 23<br />

scharf kritisierte, brach der Bundesrat die diplomatischen Beziehungen zum Heiligen<br />

Stuhl ab und wies den päpstlichen Nuntius aus Luzern noch <strong>im</strong> gleichen Jahr<br />

aus.<br />

Mit der nach einem ersten Scheitern erfolgten Annahme der neuen Bundesverfassung<br />

von 1874 beruhigte sich die Situation zusehends und die liberal-katholischen<br />

Kräfte gewannen an Einfluss. Der Pontifikatswechsel 1878 brachte<br />

schließlich die Wende. Zwar flackerten kulturkämpferische Gefechte vorab mit<br />

der 1882 geplanten und dann gescheiterten Einführung eines eidgenössischen<br />

Schulsekretärs nochmals auf, aber mit der Wahl des katholisch-konservativen<br />

Bundesrates Josef Zemp aus dem luzernischen Entlebuch begann der Prozess der<br />

politischen Integration der katholisch-konservativen Kräfte in den Bundesrat. Allerdings<br />

blieb der Vorwurf der »vaterlandslosen Gesellen« von liberal-reformierter<br />

Seite noch lange <strong>im</strong> Raum stehen und wechselte erst mit der aufkommenden Sozialdemokratie<br />

nach dem Ersten Weltkrieg seinen Adressaten. 7<br />

Diese Phase des beginnenden und sich verstärkenden Integrationsprozesses<br />

der katholisch-konservativen Kräfte in den Bundesstaat muss so als politischer<br />

Kontext <strong>im</strong> Zusammenhang mit der Entwicklung einer katholischen Pädagogik ab<br />

dem letzten Drittel des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s durch Schweizer Pädagogen der katholischen<br />

Kirche mitbedacht werden. Die katholische Pädagogik grenzte sich einerseits<br />

mit der Idee einer konfessionellen Staatsschule gegenüber einer liberalen<br />

Staatsidee ab, andererseits suchte sie die Integration in die Staatsidee durch das<br />

Postulat der Vaterlandserziehung.<br />

4. Doppeltes Offenbarungsprinzip – Enzyklika »Dei<br />

Filius« von 1870<br />

Ein weiterer Motor zur Entwicklung der Systematik der katholischen Pädagogik<br />

darf in der Enzyklika »Dei Filius« vom 24. April 1870, in der das eigentlich bis<br />

heute geltende Offenbarungsverständnis der »natürlichen« und »übernatürlichen«<br />

Offenbarung dogmatisiert worden ist, gesehen werden. Sie war das zweite Konzilsdokument<br />

nebst der Enzyklika »Pastor Aeternus«, welche die Unfehlbarkeit<br />

des Papstes dogmatisierte. Die Enzyklika steht eng in der Tradition des »Syllabus<br />

errorum« und der Enzyklika »Quanta cura« von Pius IX. von 1864.<br />

Die Auseinandersetzung <strong>im</strong> Kontext der Entwicklung der verschiedenen Enzykliken<br />

ist dabei in zwei Richtungen zu beschreiben: Erstens musste der Kirchenstaat<br />

um sein politisches Überleben kämpfen, was mit der Einverleibung des<br />

Kirchenstaats in den italienischen Nationalstaat <strong>im</strong> Jahr 1870 scheiterte. Zweitens<br />

musste die katholische Kirche sich mit verschiedenen philosophischen Richtungen<br />

auseinandersetzen, die aus ihrer Sicht das Glaubensleben gefährdeten. So<br />

wird nicht nur <strong>im</strong> »Syllabus errorum«, der eigentlichen Speerspitze, sondern auch<br />

7<br />

Altermatt, Konfession.


24<br />

Guido Estermann<br />

in den anderen Dokumenten eine ablehnende Haltung gegenüber den philosophischen<br />

Positionen des Rationalismus, Materialismus oder Indifferentismus oder<br />

theologischen Positionen wie dem Pantheismus, Fideismus oder Traditionalismus<br />

bezogen.<br />

Für die Entwicklung einer systematisch formulierten katholischen Pädagogik<br />

ist nun die Auseinandersetzung <strong>im</strong> Zusammenhang mit der philosophischen Aufklärung<br />

und der damit verbundenen Frage des Rationalismus von besonderer Bedeutung.<br />

Letztlich geht es um die theologische Frage der Gotteserkenntnis und<br />

der Gnade Gottes für den Menschen, die für den Menschen Ziel seines Daseins<br />

bedeutet. In der Enzyklika wird daher der Weg in der Struktur eines doppelten<br />

Offenbarungsprinzips formuliert – der natürlichen und der übernatürlichen Offenbarungsstruktur.<br />

»Dieselbe heilige Mutter Kirche hält fest und lehrt, dass Gott, der Ursprung<br />

und das Ziel aller Dinge, mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft<br />

aus den geschaffenen Dingen gewiss erkannt werden kann […]. Jedoch hat es seiner<br />

Weisheit und Güte gefallen, auf einem anderen, und zwar übernatürlichen<br />

Wege sich selbst und die ewigen Ratschlüsse seines Willens dem Menschengeschlecht<br />

zu offenbaren« (DH 3004). Und weiter: »Auch dies hielt und hält das fortwährende<br />

Einverständnis der katholischen Kirche fest, dass es eine zweifache<br />

Ordnung der Erkenntnis gibt, die nicht nur <strong>im</strong> Prinzip, sondern auch <strong>im</strong> Gegenstand<br />

verschieden ist; und zwar <strong>im</strong> Prinzip, weil wir in der einen (Ordnung) mit<br />

der natürlichen Vernunft, in der anderen mit dem göttlichen Glauben erkennen;<br />

<strong>im</strong> Gegenstand aber, weil uns außer dem, wozu die natürliche Vernunft ge<strong>langen</strong><br />

kann, in Gott verborgene Gehe<strong>im</strong>nisse zu glauben vorgelegt werden, die, wenn sie<br />

nicht von Gott geoffenbart wären, nicht bekannt werden könnten« (DH 3015).<br />

Damit sind »Glauben« und »Vernunft« nicht als Gegensätze, sondern quasi als<br />

zwei Seiten derselben Medaille zu betrachten. »Auch können Glaube und Vernunft<br />

nicht nur niemals untereinander unst<strong>im</strong>mig sein, sondern sie leisten sich auch<br />

wechselseitig Hilfe; denn die rechte Vernunft beweist die Grundlagen des Glaubens<br />

und bildet, von seinem Licht erleuchtet, die Wissenschaft von den göttlichen<br />

Dingen aus; der Glaube aber befreit und schützt die Vernunft vor Irrtümern und<br />

stattet sie mit vielfacher Erkenntnis aus« (DH 3019). Und mit Bezug auf die Wissenschaften<br />

dogmatisiert die Kirche schließlich: »Deswegen ist es weit gefehlt,<br />

dass die Kirche der Pflege der menschlichen Künste und Wissenschaft Widerstand<br />

leiste; vielmehr unterstützt und fördert sie diese auf vielfache Weise« (DH 3019).<br />

Das Kernproblem liegt aber darin – und das wäre nun an dieser Stelle auszuführen,<br />

ist jedoch aufgrund des Umfangs nicht zu leisten –, welches Wissenschaftsverständnis<br />

man in Bezug auf die Enzyklika ausmacht: Während die Wissenschaften<br />

mit einem forschungswissenschaftlichen Ansatz arbeiten, in dem die<br />

empirische Denkstruktur gilt, setzt die Enzyklika einen systemwissenschaftlichen<br />

– ganz in der Tradition des Neuthomismus und Aristotelismus – Ansatz als Basis<br />

des Wissenschaftsverständnisses.


Katholische Pädagogik <strong>im</strong> helvetischen Kontext 25<br />

5. Die Schweizer Pädagogen und Lehrerbildner<br />

Fridolin Noser, Heinrich Baumgartner und Franz-<br />

Xaver Kunz<br />

und das System der katholischen Pädagogik<br />

Im Kontext der Erfahrung des Kulturkampfes schweizerischer Couleur und der<br />

folgenden, damit zusammenhängenden Integration katholischer Kräfte in den<br />

neuen Bundesstaat seit dem letzten Drittel des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s, aber auch der<br />

weltanschaulichen und theologischen Positionierung der katholischen Kirche in<br />

derselben Zeit, ist die konkrete Entwicklung der »Erziehungslehren« <strong>im</strong> Geiste der<br />

katholischen Pädagogik zu sehen. Im schweizerischen Umfeld sind <strong>im</strong> letzten<br />

Drittel des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s einige Protagonisten zu nennen, die selbst Lehrerbildner<br />

waren und eine »katholische Pädagogik« in entsprechenden Publikationen<br />

veröffentlichten. Aber nicht nur die Publikationstätigkeit war es, welche die Entwicklung<br />

der katholischen Pädagogik stark manifestierte, die Protagonisten waren<br />

<strong>im</strong>mer – in durchaus verschiedenen Rollen – in der Lehrerbildung oder auch<br />

Ausbildung von Theologen, in der damaligen Zeit natürlich nur von Priestern, tätig.<br />

Die Entwicklung einer Pädagogik war damit stets gekoppelt an eine entsprechende<br />

Lehrerbildung sowie die Ausbildung von Priestern, boten diese doch die<br />

Plattform für das Nachhaltigkeitsbestreben pädagogischer Konzepte. Für die deutsche<br />

Schweiz, vorab für die katholischen Zentralschweizer Kantone, sind dabei<br />

drei Namen von besonderer Bedeutung. Sie wurden <strong>im</strong> deutschen Sprachraum allerdings<br />

nur schwach wahrgenommen, schaut man in den entsprechenden pädagogischen<br />

Lexika der Zeit unter dem Stichwort »katholische Pädagogik« nach. Einzig<br />

<strong>im</strong> »Lexikon für Pädagogik«, 1913 herausgegeben von Ernst Roloff, sind unter<br />

diesem Stichwort zwei Schweizer Vertreter der katholischen Pädagogik erwähnt:<br />

Franz Xaver Kunz (1847–1910) und Heinrich Baumgartner (1846–1904). In der<br />

»Katholischen Lehrerzeitung«, dem »Organ zur Förderung des katholischen<br />

Lehrerverbandes«, wies Otto Willmann (1839–1920), einer der wichtigsten Vertreter<br />

der katholischen Pädagogik, in einem Artikel <strong>im</strong> Jahr 1898 darauf hin, dass<br />

<strong>im</strong> Herder Verlag eine Sammlung von relevanten Schriften in der »Bibliothek der<br />

katholischen Pädagogik« erschienen sei (Katholische Lehrerzeitung 1898), wobei<br />

er den Herausgeber Franz Xaver Kunz nicht namentlich nannte.<br />

Franz Xaver Kunz war 31 Jahre lang (von 1876 bis 1907) Direktor des Lehrerseminars<br />

in Hitzkirch <strong>im</strong> Kanton Luzern. Er war vom bereits erwähnten abgesetzten<br />

Bischof Lachat 1873 <strong>im</strong> luzernischen Altishofen zum Priester geweiht worden<br />

und Herausgeber der 24-bändigen »Bibliothek der katholischen Pädagogik«. Unter<br />

seiner Führung erlebte das Lehrerseminar Hitzkirch – nach der Aufbauphase zwischen<br />

1868 und 1876 unter der Leitung von Kaspar Josef Stutz – eine eigentliche<br />

innere Erneuerung ganz <strong>im</strong> Geiste der »katholischen Pädagogik«. Nicht widerspruchslos<br />

führte Franz Xaver Kunz seine Direktion, gab es doch einige heftige<br />

politische Auseinandersetzungen <strong>im</strong> Zuge seiner Direktionstätigkeit. Er wurde


26<br />

Guido Estermann<br />

jedoch von den entsprechenden kantonalen Entscheidungsträgern in der <strong>Bildung</strong>sdirektion<br />

des Kantons stets gestützt.<br />

Im benachbarten Kanton Schwyz, wo die Entwicklung der Lehrerbildung aufgrund<br />

der schwierigen Finanzlage des Kantons stark gefordert war, war es Fridolin<br />

Noser (1849–1908), der ab 1885 am staatlichen Lehrerseminar Schwyz – zuerst<br />

in Seewen, später dann in Rickenbach – wirkte und aufgrund gesundheitlicher<br />

Schwierigkeiten seinen Direktionsposten 1894 aufgeben musste. Danach war<br />

er zwischen 1894 und 1898 bischöflicher Archivar in Chur, bevor er Professor für<br />

Katechetik und Pädagogik am Priesterseminar St. Luzi in Chur wurde. Diese Tätigkeit<br />

übte er von 1894 bis 1903 aus. Zudem war er ab 1898 bis zu seinem Tod<br />

1908 bischöflicher Kanzler des Bistums Chur.<br />

Schließlich ist Heinrich Baumgartner zu erwähnen, der sich zusammen mit<br />

Heinrich Alois Keiser (1844–1930) und Alphons Meienberger (1847–1929) für<br />

eine katholische »<strong>Bildung</strong>soffensive« stark machte. Mithilfe einer Aktiengesellschaft<br />

gründeten sie, um finanziell unabhängig zu sein, <strong>im</strong> Kanton Zug 1872 ein<br />

»Konvikt« als Internat für Kantonsschüler. Nach Bezug eines entsprechenden Neubaus<br />

in der Nähe der Stadtkirche St. Michael führten sie später eine Sekundarschule<br />

mit Lateinunterricht und Vorbereitungskursen für Französisch-, Italienisch-<br />

und Deutschunterricht. Ein Meilenstein war die Gründung des Lehrerseminars<br />

St. Michael <strong>im</strong> Jahr 1880, das bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Lehrpersonen<br />

ausbildete und dann 1958 unter politisch nicht ganz einfachen Bedingungen<br />

als Privatschule wiedereröffnet wurde. Der Kanton Zug, damals finanziell<br />

selbst ein schwacher Kanton – heute sieht die Sache anders aus –, war es auch,<br />

der <strong>im</strong> Kontext der Aargauer Klosteraufhebungen jenen, in den 1840er Jahren<br />

emigrierten Klosterfrauen quasi »Asyl« bot. Diese machten sich unter der Ägide<br />

von Theodosius Florentini (1808–1865) für die Lehrerinnenbildung stark und ermöglichten<br />

die lange bedeutsamen Lehrerbildungsstätten Menzingen, Heiligkreuz<br />

in Cham und in Verwandtschaft dazu die Lehrerinnenbildung in Ingenbohl<br />

(Schwyz).<br />

Die Konzepte sind einander zu dieser Zeit sehr ähnlich. Fridolin Noser verfasste<br />

1907 in Zusammenarbeit mit seinem Nachfolger als Direktor Jakob Grüninger,<br />

Direktor zwischen 1903 und 1909, seine »Allgemeine Erziehungslehre«, die<br />

als zweite Auflage jene aus dem Jahr 1891 nochmals inhaltlich strukturiert fasst.<br />

Fast identisch <strong>im</strong> Aufbau veröffentlichte Franz Xaver Kunz ein Jahr zuvor, 1906,<br />

seine »Allgemeine Erziehungslehre«. Von den Zuger Protagonisten war es Heinrich<br />

Baumgartner, der verschiedene Werke verfasste, unter anderem seine »Psychologie<br />

oder Seelenlehre«, die in einer – nach meinem Wissen – ersten Auflage<br />

1899 erschien.<br />

»Der Zweck der Erziehung besteht darin, den ganzen Menschen tauglich und<br />

reif zu machen, zuerst für sein nächstes, irdisches Ziel oder für den Stand und die<br />

Stellung, die er hienieden in Familie, Kirche und Staat einnehmen soll; dann aber<br />

auch für sein großes und letztes Ziel, sein Heil und seine Seligkeit <strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel« 8 –<br />

8<br />

Noser/Grüninger, Erziehungslehre, 13 f.


Katholische Pädagogik <strong>im</strong> helvetischen Kontext 27<br />

so beschreibt Fridolin Noser den Sinn jeder Erziehung. Dieses letzte Ziel ist die<br />

»Glückseligkeit in Gott«. Ausgehend vom Grundparadigma der anthropologischen<br />

Verfasstheit des Menschen durch die Erbsünde und der damit zusammenhängenden<br />

anthropologischen Verfasstheit des Menschen und somit der Erlösungsbedürftigkeit<br />

des Menschen durch die Gnade Gottes und der damit in Verbindung<br />

stehenden offenbarungstheologischen Prämisse des doppelten Offenbarungsprinzips<br />

ergibt sich für die pädagogische D<strong>im</strong>ension, dass übernatürliche und natürliche<br />

Erziehungsziele existieren. Diese Erziehungsziele sind jedoch darauf ausgerichtet,<br />

dass der Mensch <strong>im</strong> Diesseits seine Vorbereitung auf das Jenseits vollbringen<br />

kann: Das Ziel ist letztlich die erwähnte »Glückseligkeit in Gott«. Abgeleitet<br />

von den Erziehungszielen sind entsprechende Erziehungsmittel anzuwenden. Für<br />

die übernatürlichen Erziehungsmittel bedeutet dies die religiöse Praxis in Gebet,<br />

Sakramenten und Gottesdienstbesuch; die natürlichen Erziehungsmittel sind mit<br />

dem Ansatz der aristotelisch-thomistischen Tugendlehre die für das <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s<br />

wohl durchaus bekannten und gelebten Tugenden des Gehorsams, der Wahrhaftigkeit,<br />

der Schamhaftigkeit, der Arbeitsamkeit und der Ordnungsliebe.<br />

Die Güter des Lebens – wie Ruhm, Reichtum, Gesundheit, Schönheit, Vernunft,<br />

Wille, Kunst und Tugenden – sind dabei keine emanzipatorischen Selbstzwecke,<br />

sondern ganz <strong>im</strong> teleologischen Sinn als Vorbereitung für das Jenseits<br />

gedacht.<br />

In Bezug auf schulorganisatorische Fragen ist nun klar, dass innerhalb der<br />

Schule sowohl die religiöse Praxis als auch der Religionsunterricht als die beiden<br />

Konkretionen der übernatürlichen und natürlichen Erziehungsd<strong>im</strong>ensionen praktiziert<br />

werden müssen, will man doch keinem Kind das Heil verwehren. Die<br />

»Heilsermöglichung« der Kinder scheint damit gesichert.<br />

Die Familie, die Kirche und der Staat sind dabei die drei Erziehungsinstanzen,<br />

wobei die Familie den Kern ausmacht. Die Kirche durch ihre Unmittelbarkeit Gottes<br />

und entsprechend ihrem universalen Wahrheitsanspruch für die Heilsnotwendigkeit<br />

stehend, wehrt sich selbstverständlich gegen jedwelchen staatlichen Absolutheitsanspruch.<br />

Der Staat hat eine dienende Funktion und wird als gesellschaftsbildende,<br />

die Freiheit zu respektierende und damit in ihrer Begrenzung<br />

auch gesellschaftsnotwendige Institution betrachtet, die nicht nur aufgrund der<br />

Macht, sondern durchaus auch als mit monetären Aufgaben und Pflichten ausgestattet,<br />

zu verstehen ist. »Der Staat hat die Pflicht: 1. Die Erziehungsrechte der<br />

Familie und der Kirche nicht zu verletzen, sondern sie gesetzlich anzuerkennen<br />

und gegen Verletzung zu schützen; 2. die Familie und die Kirche in der Ausübung<br />

ihrer erziehlichen Rechte und Pflichten zu unterstützen, teils durch ihre Macht,<br />

teils durch finanzielle Beihilfe; und 3. keine Schulen zu dulden, welche offenkundig<br />

gemeinschaftsschädlich Irrtümer verbreitet oder nachgewiesenermaßen<br />

Herde der Unsittlichkeit sind oder sonst wie den Verstand der Gesellschaft in Gefahr<br />

bringen«. 9 Der Lehrer steht in einem Verhältnis zu Familie, Kirche und Staat,<br />

in dem er »Gehilfe der Familie« ist und das »Erziehungswerk derselben fortsetzen«<br />

9<br />

Kunz, Erziehungslehre, 72.


28<br />

Guido Estermann<br />

soll. 10 Gegenüber der Kirche geht es um die »[g]etreue Erfüllung seiner eigenen<br />

religiösen Pflichten […], gewissenhafte Sorge für das Seelenheil der ihm anvertrauten<br />

Kindern […], getreue Mitarbeit und Gehorsam in geistlichen Dingen«. Außerordentlich<br />

wichtig für eine gedeihliche Erziehung ist das Verhältnis des Lehrers<br />

zum Seelsorger: Sie sei »wie das des Sohnes zum Vater« 11 . Und gegenüber<br />

dem Staat ist er sich seiner Stellung bewusst, »zeigt Einfachheit, Klugheit und<br />

Anstand. […] Der Lehrer sei höflich gegen jedermann, zuvorkommend gegen seine<br />

Feinde, ehrerbietig und bescheiden gegen die Vorgesetzten« 12 . Frömmigkeit, Sittenreinheit,<br />

Standesgefühl und Bescheidenheit, Berufsliebe und Zufriedenheit machen<br />

den Lebenswandel des Lehrers aus, den Fridolin Noser in seiner Erziehungslehre<br />

von 1907 beschreibt.<br />

Diese Verhältnisbest<strong>im</strong>mung zwischen Familie, Kirche und Staat n<strong>im</strong>mt die<br />

Mentalität des konservativen Katholizismus auf. Diese zeigt sich darin, dass sie<br />

die Balance sucht zwischen dem notwendigen Anspruch zur Integration in den<br />

sich konsolidierenden Schweizer Nationalstaat nach Annahme der Revision der<br />

Bundesverfassung von 1874 und dem Überwinden des Kulturkampfes und der<br />

ultramontanistischen Ausrichtung der katholischen Kirche, wie sie sich definitiv<br />

nach dem Vatikanum I nach 1870 bis weit in die Mitte des 20. <strong>Jahrhundert</strong>s aufbaut.<br />

6. Die Rolle der Lehrperson und die Strafe<br />

»Das Christentum, welches das diesseitige und jenseitige Leben in die engste Verbindung<br />

bringt, fasst die irdische Strafe als Sühne für das Vergehen, als Ersatz<br />

und Abwehr der göttlichen Strafe und als Antrieb zur Besserung auf und die strafende<br />

Obrigkeit als die Vertreterin des göttlichen Willens. Damit stellt es die Strafe auf ihr<br />

letztes und tiefstes Fundament«. 13 Die so begründete Strafe scheint heute befremdlich<br />

und schwer nachvollziehbar. Aber <strong>im</strong> Geiste der offenbarungstheologisch begründeten<br />

katholischen Pädagogik ist diese Argumentation insofern nachvollziehbar,<br />

als die Strafe Gottes <strong>im</strong> schl<strong>im</strong>msten Fall zur höllischen Existenz hätte führen<br />

können. Darf man also hinter einem solchen Verständnis gar von einer »Humanisierung«<br />

der Strafe sprechen? Das Konzept der Vorwegnahme der endgültigen<br />

Strafe Gottes wurde gar als Humanisierung der Strafe durch die Autorität des Lehrers<br />

gedeutet, indem dieser nie in der potenziellen Konsequenz strafen konnte,<br />

wie es von Gott selbst aber möglich gewesen wäre. Und daraus folgend bestand<br />

für die Autorität gar eine Pflicht zur Strafe. Denn dem Kind die Strafe zu entziehen,<br />

hätte bedeutet, es seiner innersten Anlage des Bösen zu überlassen und<br />

10<br />

Noser/Grüninger, Erziehungslehre, 99.<br />

11<br />

Noser/Grüninger, Erziehungslehre, 101.<br />

12<br />

Noser/Grüninger, Erziehungslehre, 104.<br />

13<br />

Kunz, Erziehungslehre, 46.


Katholische Pädagogik <strong>im</strong> helvetischen Kontext 29<br />

Schande und Unglück über seine Familie oder Umwelt zu bringen. Kam hinzu,<br />

dass sich der Erzieher selbst schuldig machte, sollte er die notwendige Strafe oder<br />

Zucht nicht umsetzen. In der ersten und einzigen Nummer der «Pädagogischen<br />

Monatszeitschrift» von 1893 erläuterte Franz Xaver Kunz mit Rückbezug auf die<br />

alttestamentlichen Sprüche diesen Gedanken der Humanisierung der Strafe durch<br />

die strafende Autorität sowie auch das mögliche Schuldigwerden des Erziehers<br />

selbst in einem Artikel zu den Schriften von den Gebrüdern Brant und Seiler von<br />

Kaiserberg, in dem es um Grundfehler elterlicher Erziehung geht, folgendermaßen:<br />

»Die zweite Schelte: Den Kindern die Züchtigung zu entziehen. Da heißt es aber: ›das<br />

arme Kind hat keinen Vater, keine Mutter mehr; es ist hart genug getroffen, wie kann<br />

ich es züchtigen? Nein, ich lasse ihm seinen Willen.‹ Du Thörin triffst damit das Kind<br />

noch härter, als es schon getroffen ist: den Vater hat es verloren, nun willst du, dass<br />

es auch Gott und seine Seele und Ehre und Ruf durch deine unzeitige Schonung verlieren<br />

soll. Was wird aus ihm werden, wenn du ihm seinen Willen lässt? Weißt du das<br />

nicht, so höre, was Salomon (Spr 29,15) dich lehrt: ›der Knabe, dem sein Wille gelassen<br />

wird, macht der Mutter Schande.‹ und, darfst du hinzufügen, er macht dem Vater und<br />

der ganzen Familie und sich selbst Schande. Denn was wird wohl aus ihm werden! Ein<br />

Gotteslästerer, ein Wüstling, ein Spieler, ein Zecher. Da siehst du, wie wohl du es mit<br />

ihm gemeint hast. Glaube doch nicht, dass dieses Erdreich aus sich irgendeine gute<br />

Frucht der Tugend hervorbringen werde, nein, nur die Dornen und Disteln des Lasters.<br />

Infolge der Erbsünde neigt dieses Erdreich von Jugend auf zu allem Bösen hin; aus sich<br />

bringt es nur Sünde hervor. Soll es also gute Früchte tragen, so müssen sie eingepflanzt<br />

und sorgfältig gepflegt werden. Aus sich wissen die Kinder zu fluchen, zu schwören,<br />

zu streiten, zu naschen und zu lügen, nicht aber zu beten, die Wahrheit zu sagen,<br />

Sanftmut und Demut zu üben. Lasse also ja nicht dem Kinde seinen Willen. Und nun<br />

schweige ich davon, welche Schande solch ein Kind durch sein böses Leben über Vater<br />

und Mutter und über die ganze Familie bringt; aber es zieht auch deine Seele, o Vater,<br />

o Mutter, ins Verderben; denn wisse, dass du aller Sünde, die dein Kind infolge deiner<br />

Nachlässigkeit begeht, teilhaftig wirst; denn die solches thun, sagt der Apostel (Röm<br />

1,32) ›sind des Todes würdig, aber nicht sie allein, sondern auch die, welche ihnen<br />

zust<strong>im</strong>men‹. Hättest du auch keine andere als diese Unterlassungssünde auf deinem<br />

Gewissen, dass du dem Kinde die Züchtigung entzogen hast, und wärst du noch so<br />

fromm, mildtätig, barmherzig, so wirst du gleichwohl der Verdammnis nicht entrinnen.<br />

So höre denn auf die ernste Mahnung Salomons (Spr 23,13): ›Wolle nicht dem<br />

Kinde die Züchtigung entziehen. Schlägst du es mit der Rute, so wird es davon nicht<br />

sterben, du aber wirst seine Seele von der Hölle bewahren.‹« 14<br />

Natürlich ist mit einer solchen Argumentationskette auch für sadistisches Tun Tür<br />

und Tor geöffnet, wie wir es übrigens <strong>im</strong> Kontext der Unterbringung von<br />

14<br />

Kunz, Blumenlese, 27 f.


30<br />

Guido Estermann<br />

He<strong>im</strong>kindern in kirchlichen (und auch staatlichen) Institutionen forschungsbasiert<br />

belegen können.<br />

7. Der Schweizer Pädagoge Lorenz Rogger und die<br />

konfessionelle Staatsschulidee<br />

Eine (schul-)politische Weiterführung erfährt die katholische Pädagogik mit der<br />

Idee der konfessionellen Staatsschule. Einer der wichtigsten Vertreter der Schweizer<br />

<strong>Bildung</strong>slandschaft während der rund vier Jahrzehnte zwischen den 1910er<br />

und 1940er Jahren ist Lorenz Rogger (1878–1954), Seminardirektor von Hitzkirch<br />

von 1911 bis 1946. In seiner Schrift »Der große Unbekannte« (1921) sowie in weiteren<br />

Zeitschriftenartikeln ab 1919 löste er eine schulpolitische Diskussion <strong>im</strong><br />

Zusammenhang mit dem Bundesverfassungsartikel 27 über die Glaubens- und Gewissensfreiheit<br />

von 1874 aus. Heute steht diese unverändert in Artikel 15:<br />

»Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet. Jede Person hat das Recht, ihre<br />

Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in<br />

Gemeinschaft mit anderen zu bekennen. Jede Person hat das Recht, einer Religionsgemeinschaft<br />

beizutreten oder anzugehören und religiösem Unterricht zu folgen. Niemand<br />

darf gezwungen werden, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören,<br />

eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen.«<br />

Rogger erläuterte in seiner Publikation die für ihn inakzeptable negative Auslegung<br />

des Artikels (kein Zwang), welche für ihn zur eigentlichen Schulfrage wurde.<br />

Der Forderung nach einer generell religiös-neutralen Schule konnte er vor dem<br />

Hintergrund der katholischen Pädagogik nicht zust<strong>im</strong>men. Vielmehr forderte er<br />

eine positive Auslegung (das Recht) des Artikels – und dies <strong>im</strong> Gegensatz zu freisinnig-liberalen<br />

oder sozialistischen Positionen, die mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit<br />

den Schutz vor religiöser Einflussnahme forderten. Mit dem Verständnis<br />

der Schule als Erziehungsinstanz und damit verbunden der Ablehnung des<br />

Neutralitätsanspruchs der Schule sowie mit seinen pädagogischen Argumentationen<br />

gab es für ihn nur die logische Konsequenz, dass der Artikel in der Bundesverfassung<br />

zugunsten des Rechts auf religiöse <strong>Bildung</strong> mit Blick auf die katholische<br />

Pädagogik für katholische Schüler und Schülerinnen zu gelten hatte. Denn<br />

letztlich durfte keinem Kind das Seelenheil verwehrt sein. Als strukturelle Konsequenz<br />

<strong>im</strong> Umfeld der konfessionellen Mehrheit der Katholiken mussten daher<br />

auch die staatlichen Schulen in einem katholischen Geist geführt und in der<br />

Diaspora getrennt konfessionelle Schulen eingerichtet werden. Diese konfessionellen<br />

Staatsschulen oder zumindest konfessionell getrennten Schulen würden<br />

die Grundlage zur Erziehung echter Staatsdiener bilden. Die katholischen Schülerinnen<br />

und Schüler hätten Anrecht auf eine katholische Lehrperson, so Rogger<br />

weiter, denn nur diese könne <strong>im</strong> Sinne des katholischen Weltbildes unterrichten.


Katholische Pädagogik <strong>im</strong> helvetischen Kontext 31<br />

Die Leitung der Schule gestand er zwar dem Staat zu, jedoch sollten die kirchlichen<br />

Aufsichtsbehörden zumindest be<strong>im</strong> Religionsunterricht das absolute Verfügungsrecht<br />

über Inhalt und Form haben. Ganz <strong>im</strong> Sinne der Relativierung der Bedeutung<br />

staatlicher Schulen bezüglich der Erziehung der Kinder und Jugendlichen<br />

und dem Schutz staatlicher Eingriffe auf die eigene Persönlichkeit, sah er die Priorität<br />

in der sowohl naturrechtlich begründeten wie auch juristisch gesicherten<br />

elterlichen und damit verbunden auch religiösen Erziehung, wobei er die Bedeutung<br />

der Mütter als Erzieherinnen besonders hoch wertete.<br />

Die religiöse Erziehung bildete den Kern der gesamten Erziehung und Schulkultur<br />

und der obligatorische Religionsunterricht war innerhalb des Fächercurriculums<br />

Zentrum und Mittelpunkt, von dem auch die anderen Fächer mitbeeinflusst<br />

werden mussten. Dabei konnte dies nie ein interkonfessioneller oder gar<br />

neutraler Unterricht – und schon gar nicht ein vom Staate verantworteter – sein.<br />

8. Fazit<br />

Die Ausrichtung der katholischen Pädagogik und die damit verbundene Idee der<br />

konfessionellen Staatsschulidee zeigte in der Zentralschweiz nicht nur in der<br />

Lehrerbildung eine nachhaltige Wirkung (Estermann 2016), auch die entsprechenden<br />

Schulgesetze und Schulorganisationen waren stark davon beeinflusst.<br />

Noch weit bis in die 1990er-Jahre zeigte sich dies daran, dass beispielsweise in<br />

den Leitideen zur Volksschule von 1984 – die übrigens bis heute offiziell nicht<br />

außer Kraft gesetzt sind – die Ermöglichung und Förderung der religiösen D<strong>im</strong>ension<br />

des Menschen und damit verbunden der Bezug zu Gott enthalten waren:<br />

»Ausgerichtet auf ein christliches Menschenbild, macht sie den Schüler mit den Grundaussagen<br />

des christlichen Glaubens vertraut und hilft ihm, eine persönliche Beziehung<br />

zu Gott aufzubauen. Sie erzieht den Schüler, die Glaubensfreiheit des Einzelnen zu<br />

respektieren, benützt aber die Gelegenheit, das gemeinsame Glaubensgut in den Unterricht<br />

einzubeziehen« (Leitideen für die Volksschule 1984).<br />

Aufgrund der zunehmenden Säkularisierung und Entkonfessionalisierung der Gesellschaft<br />

stellte sich die Frage nach der religiösen Erziehung ab den 1990er Jahren<br />

neu. Aus diesen Fragestellungen wurden dann Fächer wie »Ethik und Religion«,<br />

die von schulischer Seite verantwortet und durchgeführt werden, sowie weiterhin<br />

der kirchliche Religionsunterricht entwickelt. 15 Nicht nur der neue Lehrplan<br />

21, auch neue Lehrpläne für die Kirchen nahmen diese Entwicklung <strong>im</strong> deutschen<br />

Teil der Schweiz auf, und so wird heute ein staatlicher und kirchlicher<br />

15<br />

Estermann, Religionsunterricht.


32<br />

Guido Estermann<br />

Religionsunterricht als Form der religiösen Grundbildung – zumindest an den<br />

Grundschulen in der Zentralschweiz – angeboten. 16<br />

9. Quellen- und Literaturverzeichnis<br />

Altermatt, Urs, Konfession, Nation und Rom. Metamorphosen <strong>im</strong> schweizerischen und europäischen<br />

Katholizismus des <strong>19.</strong> und 20. <strong>Jahrhundert</strong>s. Frauenfeld, Stuttgart, Wien:<br />

Huber-Verlag 2009.<br />

Baumgartner, Heinrich, Über die katholische Pädagogik. In: Pädagogische Monatsschrift.<br />

Organ des Vereins katholischer Lehrer und Schulmänner der Schweiz, Jg. 1, Nr. 1 Januar<br />

1893; Nr. 2 Februar 1893; Nr. 5 Mai 1893, 3–10; 17–24; 94–98.<br />

Baumgartner, Heinrich, Pädagogik oder Erziehungslehre, mit besonderer Berücksichtigung<br />

der psychologischen Grundlagen für Lehrer und Erzieher. Freiburg i. Br. ³1895.<br />

Dogmatische Konstitution »Dei Filius« über den katholischen Glauben. 24. April 1870. In:<br />

Denzinger, Heinrich, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen.<br />

Freiburg, Basel, Wien: 43 2010, 756–767.<br />

Erlinghagen, Karl, Vom <strong>Bildung</strong>sideal zur Lebensordnung. Das Erziehungsziel in der katholischen<br />

Pädagogik. Freiburg, Basel, Wien: Herder-Verlag 1960.<br />

Estermann, Guido, Religionsunterricht in der staatlichen Lehrerbildung <strong>im</strong> <strong>19.</strong> und 20. <strong>Jahrhundert</strong>.<br />

Exemplarische Beispiele <strong>im</strong> Kanton Bern und Luzern. ZfRK (3). Fribourg<br />

2016, 8–16. http://www.religionskunde.ch.<br />

Estermann, Guido, Neue Lehrpläne für den Religionsunterricht in der Schweiz. ÖRF Nr.<br />

2/2018, 155–168. http://unipub.uni-graz.at/oerf.<br />

Horn, Klaus-Peter, Katholische Pädagogik vor der Moderne. Pädagogische Auseinandersetzungen<br />

<strong>im</strong> Umfeld des Kulturkampfes in der zweiten Hälfte des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s. DGfE<br />

25/2003, 161–185. http://www.dgfe.de.<br />

Herwegen, Ildefons, Das katholische <strong>Bildung</strong>sideal und die <strong>Bildung</strong>skrise. In: Rosenmöller,<br />

Bernhard (Hrsg.), Vorträge des Verbandes der Vereine katholischer Akademiker in<br />

Recklinghausen. München: Verlag Josef Kösel & Friedrich Pustet K.-G. 1926, S. 7–28.<br />

Kunz, Franz Xaver, Pädagogische Blumenlese aus den Schriften Geb. Brants und Seilers<br />

von Kaiserberg. In: Pädagogische Monatsschrift. Organ des Vereins katholischer Lehrer<br />

und Schulmänner der Schweiz. Jg. 1, Nr. 11. Zug 1893, 271 f.<br />

Kunz, Franz Xaver, Grundriss der allgemeinen Erziehungslehre, vorzugsweise für Lehrerseminare<br />

und Lehrer. Freiburg i. Br.: Herdersches Verlagshaus 1906.<br />

Horn, Klaus-Peter, Katholische Pädagogik vor der Moderne. DGFE Bd. 25/2003, 161–1985.<br />

Reble, Albert, Geschichte der Pädagogik. Stuttgart: Klett-Cotta 17 1993.<br />

Rogger, Lorenz, Katholische Schulpolitik. In: Schweizer Schule. Wochenblatt der katholischen<br />

Schulvereinigung der Schweiz. Jg. 5, Nr. 39. Einsiedeln 1919, 305 f.<br />

16<br />

Estermann, Lehrpläne.


Katholische Pädagogik <strong>im</strong> helvetischen Kontext 33<br />

Rogger, Lorenz, Die Schulfrage. In: Schweizer Schule. Wochenblatt der katholischen Schulvereinigung<br />

der Schweiz. Jg. 6, Nr. 17; 20; 21; 30; 45; 46; 52. Einsiedeln 1920, 153–<br />

157; 185–188; 193–195; 281–284; 433–436; 441–444; 497–500.<br />

Rogger, Lorenz, Von einem grossen Unbekannten. Eine schulpolitische Gewissenserforschung<br />

mit dem Schweizervolk. Im Auftrag des kathol. Lehrervereins der Schweiz,<br />

Einsiedeln 1921.<br />

Rogger, Lorenz, Lehrerbildung und Lehrerfortbildung. In: Schweizer Schule. Wochenblatt<br />

der katholischen Schulvereinigung der Schweiz. Jg. 9, Nr. 3; 4; 5. Olten 1923, 21–23;<br />

33–35; 45–48.<br />

Sägmüller, J. B., Katholische Pädagogik. In: Roloff, Ernst (Hrsg.). Lexikon der Pädagogik.<br />

Freiburg. i.Br.: Herdersche Verlagshandlung 1913, 1142.<br />

Rosenmöller, Bernhard (1926). Einleitung. In: Ders. (Hrsg.). Das katholische <strong>Bildung</strong>sideal<br />

und die <strong>Bildung</strong>skrise. Vorträge des Verbandes der Vereine katholischer Akademiker<br />

in Recklinghausen. München: Verlag Josef Kösel & Friedrich Pustet K.-G. 1–6.<br />

Noser, Fridolin/Grüninger, Jakob, Allgemeine Erziehungslehre. Einsiedeln, Waldshut,<br />

Köln: Verlagshaus Benziger & Co 1907.<br />

Schnädelbach, Herbert, Was ist Philosophie. In: Ders./Hastedt, Heiner/ Keil, Geert (Hrsg.).<br />

Was können wir wissen, was sollen wir tun? Zwölf philosophische Antworten. Reinbek<br />

bei Hamburg 2009, 9–29.<br />

Stadler, Peter, Der Kulturkampf in der Schweiz. Eidgenossenschaft und Katholische Kirche<br />

<strong>im</strong> europäischen Umkreis. 1848–1888. Frauenfeld/Stuttgart: Huber-Verlag 1894.<br />

Willmann, Otto, Katholische Pädagogik. In: Katholische Lehrerzeitung. Organ zur Förderung<br />

des katholischen Lehrerverbandes (28) 1898. http://goobiweb. bbf.dipf.de/viewer/<strong>im</strong>age/100291745X_09/437/LOG_0335/[Zugriff:<br />

15.01.2021].


Robert Schelander<br />

Konfessionalität und Lehrerbildung<br />

in Österreich in der zweiten Hälfte<br />

des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s<br />

Am Beispiel Theodor Vernalekens<br />

1. Einleitung<br />

Obwohl Vernaleken in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Rolle für die Geschichte<br />

des österreichischen <strong>Bildung</strong>swesens spielt, gibt es nur wenig Literatur zu seinem<br />

Wirken als Lehrer, Lehrerbildner, pädagogischem Autor, Sprachwissenschaftler<br />

und Sammler von österreichischen Sagen und Märchen. In jüngerer Zeit hat die<br />

Kinder- und Jugendliteraturforschung an seine epochemachende Leistung durch<br />

die Herausgabe österreichischer Märchen erinnert. 1 Zu seinem pädagogischen<br />

Wirken hat, soweit ich sehe, einzig Renate Seebauer 2 publiziert.<br />

Religion ist dabei ein kaum bearbeitetes Thema. Gelegentlich wird seine Konversion<br />

zum Protestantismus <strong>im</strong> vorgerückten Alter erwähnt. Welche Motive dabei<br />

eine Rolle gespielt haben, ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Es gibt<br />

in der Literatur über ihn kaum Aussagen über seine persönlichen religiösen Einstellungen.<br />

In seinen eigenen Schriften greift er erst <strong>im</strong> Alter das Thema Religion<br />

auf. Religion ist jedenfalls kein Thema, welches <strong>im</strong> Zentrum seines literarischen<br />

Schaffens und seiner öffentlichen Äußerungen steht. Seine persönliche konfessionelle<br />

Zugehörigkeit ist, wenn wir die Sekundärliteratur zu ihm überblicken, unklar.<br />

An manchen Stellen wird eine doppelte Konversion erwähnt. Er sei als Protestant,<br />

als er um die <strong>Jahrhundert</strong>mitte nach Wien gekommen sei, zum Katholizismus,<br />

und später als er nach Graz übersiedelt sei wieder zum Calvinismus konvertiert.<br />

Es sei aber befremdlich, so die Bemerkung, dass diese erste Konversion in<br />

den biographischen Notizen zu seiner Person zumeist unerwähnt geblieben sei. 3<br />

Dieser Befund ist erstaunlich, befinden wir uns mit Vernaleken doch in einer<br />

Zeit, in welcher die Entwicklung des Schulwesens und der Pädagogik zentral mit<br />

der Frage der Religion verbunden waren. Vernaleken kommt 1850 in einer entscheidenden<br />

Phase des österreichischen Schulwesens nach Österreich. Katholische<br />

Kirche und <strong>Bildung</strong>swesen sind eng miteinander verbunden. Das Verhältnis<br />

1<br />

Vernaleken, Kinder- und Hausmärchen. Vgl. Seibert (Hrsg.), Vernaleken.<br />

2<br />

Seebauer, Lehrerbildung.<br />

3<br />

Fuchs, Vernaleken, 17.


36<br />

Robert Schelander<br />

von Kirche und Schule ist eines der zentralen bildungspolitischen Themen jener<br />

Zeit. Am Ende dieser Umbruchszeit beendet eine liberale Schulgesetzgebung den<br />

direkten Einfluss der Kirche auf die Schule. Vernalekens Wirken fällt genau in<br />

diese Zeit: Er hat wichtige Schulbücher geschrieben und an der Weiterentwicklung<br />

des Schulwesens mitgearbeitet. Seine persönliche konfessionelle Zugehörigkeit<br />

und seine religiöse Haltung haben, so darf man vermuten, in diesen in Schulfragen<br />

religiös aufgeladenen Zeiten keine unwichtige Rolle gespielt.<br />

Vernaleken hatte maßgeblichen Anteil am Aufbau der neuen Lehrerausbildung<br />

und er war erster Direktor der einflussreichen Lehrerbildungsanstalt St.<br />

Anna in Wien. Er war eine Person, die unter verschiedenen schulpolitischen Vorzeichen<br />

maßgeblich am österreichischen Schulwesen mitwirkte. Dies macht die<br />

Frage nach seiner Konfession und religiösen Einstellung auch in historischer Hinsicht<br />

spannend und interessant.<br />

2. Vernalekens konfessionelle Zugehörigkeit<br />

wirft Fragen auf<br />

Es gibt nur wenige Beiträge zu Theodor Vernaleken, für die aktuelle wissenschaftliche<br />

Forschung ist er kein Thema. Eine Ausnahme bilden Untersuchungen zu<br />

Adalbert Stifter. Im Zusammenhang mit der Ablehnung des Lesebuches, das Stifter<br />

1854 mit der Bitte um Genehmigung be<strong>im</strong> österreichischen Unterrichtsministerium<br />

einreichte, wird an Vernaleken erinnert. Er erscheint in diesem Zusammenhang<br />

als Konkurrent und Gegner, der in Gehe<strong>im</strong>gutachten Stifters Lesebuch<br />

zu Fall brachte. 4 Vernaleken wird als Unterstützer der katholischen Reaktion beschrieben,<br />

zugleich aber als Protestant bezeichnet. 5<br />

Ein Studium der evangelischen<br />

Theologie wird erwähnt. Dies verwundert, da zugleich berufliche Funktionen<br />

erwähnt werden, welche damals nur schwer mit einer nichtkatholischen Konfession<br />

vereinbar gewesen wären: Direktor der Oberrealschule Wien-Schottenfeld,<br />

6 Privatlehrer der habsburgischen Erzherzogin Henriette und Autor des zugelassenen<br />

Lesebuchs für (katholische) Volksschulen.<br />

Die spätere Berufung des Protestanten Friedrich Dittes zum Direktor des Wiener<br />

Pädagogiums hatte zu heftigen Auseinandersetzungen geführt, bei Vernaleken<br />

hören wir davon nichts. Dies lässt an seiner evangelischen Konfession zweifeln.<br />

Die Lösung für dieses Problem wird von manchen in einer doppelten Konversion<br />

gefunden: Er sei »vor der Berufung nach Wien vom Calvinismus zum<br />

4<br />

Vgl. Seifert, Stifter, 175.<br />

5<br />

Domandl, Stifters Lesebuch, 20.<br />

6<br />

Hier irrt Domandl. Vernaleken war fast zwei Jahrzehnte hindurch Lehrer für die deutsche<br />

Sprache an dieser Schule, aber nicht dessen Direktor. Vgl. Jahres-Bericht der k. k. Ober-<br />

Realschule am Schottenfelde.


Konfessionalität und Lehrerbildung in Österreich 37<br />

katholischen Glauben übergetreten, aber nach seiner Pensionierung wieder zum<br />

Calvinismus zurückgekehrt« 7 .<br />

3. Vernaleken und die <strong>Bildung</strong>srevolution<br />

Das österreichische <strong>Bildung</strong>swesen um die Mitte des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s hatte Reformbedarf.<br />

Die Revolution von 1848/49 forderte massive Veränderungen des Unterrichtswesens.<br />

In den folgenden Jahren wurde das österreichische <strong>Bildung</strong>swesen<br />

grundlegend erneuert. Diese <strong>Bildung</strong>srevolution machte die österreichische<br />

Monarchie zu den »führenden Staaten Europas« 8 auf diesem Gebiet.<br />

Ein zentrales Thema in diesen Auseinandersetzungen war die Frage nach dem<br />

Verhältnis von Kirche und Schule, dem Einfluss der Kirche in <strong>Bildung</strong>sfragen und<br />

der (geistlichen) Schulaufsicht. Wie hat Vernaleken sich zu diesen Fragen geäußert<br />

und positioniert?<br />

Ein detaillierter Blick in die Geschichte des <strong>Bildung</strong>swesens jener Zeit zeigt,<br />

dass Vernaleken an zentralen Reformprozessen beteiligt war. Er war als Lehrer an<br />

der k.k. Oberrealschule am Schottenfeld in dieser Umbruchzeit angestellt worden,<br />

um an Reformen für das Volksschulwesen mitzuwirken. Er hat trotz wechselnder<br />

bildungspolitischer Vorzeichen als wichtiger Pädagoge <strong>im</strong> Zentrum der Habsburger<br />

Monarchie gewirkt. Er selbst berichtet <strong>im</strong> Rückblick durch die Bestrebungen<br />

der Konkordatszeit in seiner Arbeit behindert worden zu sein, bzw. wie der Biograph<br />

Wurzbach schreibt: er wurde »<strong>im</strong> Hinblick auf das officielle (sic!) Volksschulwesen<br />

kalt gestellt« 9 . Historisch greifbar ist diese Aussage aber nicht. Er erscheint<br />

in den überlieferten Dokumenten loyal gegenüber den jeweiligen Strömungen<br />

und Rahmenbedingungen – Konflikte und Auseinandersetzungen um<br />

seine Person oder seine Tätigkeit werden nicht berichtet.<br />

Wie sieht die pädagogische Geschichtsschreibung seine Rolle? Im biographischen<br />

Lexikon zu den Schulmännern des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s in Wort und Bild 10 wird<br />

er mit einem ausführlichen Beitrag gewürdigt. In jüngeren Beiträgen zur Geschichte<br />

des österreichischen Schulwesens fehlt er hingegen. Dies mag daran liegen,<br />

dass seine Bedeutung eher in den unmittelbaren praktisch-organisatorischen<br />

Tätigkeiten liegt als in der Entwicklung nachhaltiger pädagogischer Theorien. Es<br />

ist jedoch überraschend, dass auch in historischer Perspektive sein Wirken selten<br />

erwähnt wird. Dazu kommt, dass Angaben zu seiner Person oft ungenau oder<br />

falsch sind.<br />

7<br />

Vgl. Jungmair, Stifter und die Schulreform, 288.<br />

8<br />

Friedrich/Mazohl/Schlacht, <strong>Bildung</strong>srevolution, 68.<br />

9<br />

Wurzbach, Vernaleken, 132.<br />

10<br />

Beyer, Deutsche Schulwelt, 331 f.


38<br />

Robert Schelander<br />

In der häufig zitierten kleinen Geschichte der Lehrerbildung von Theodor<br />

Neumann 11 von 1936 fehlt jeder Hinweis auf Vernaleken. Neumann ist recht selektiv<br />

<strong>im</strong> Umgang mit den geschichtlichen Quellen. So widmet der Autor dem Wiener<br />

Pädagogium, einer Institution der Lehrerfortbildung, einen ausführlichen Abschnitt,<br />

die Errichtung der (staatlichen) Lehrerbildungsanstalten wird aber – und<br />

dies verwundert bei diesem Titel – nicht erwähnt. Auch in der Dissertation zur<br />

Pflichtschullehrerbildung von Günter Strauch (1966) 12 und der Dissertation von<br />

Christine Donnermair zum Pr<strong>im</strong>arschulwesen <strong>im</strong> <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong> (2010) 13 wird er<br />

nicht erwähnt. Wenn wir dem gegenüberstellen, dass Vernaleken 1870 zum ersten<br />

Direktor der »führenden k. k. Lehrerbildungsanstalt zu St. Anna in Wien« 14<br />

ernannt wurde und dass er an der Erstellung des Organisationsstatutes für Lehrerund<br />

Lehrerinnenbildungsanstalten (1874) beteiligt war, so ist die Nichterwähnung<br />

auffällig. Als 1873 auf der Weltausstellung in Wien die Habsburgermonarchie<br />

stolz die Errungenschaften <strong>im</strong> <strong>Bildung</strong>swesen zeigen wollte, hat man ihn gewählt,<br />

um über die Pädagogik der Lehrerbildungsanstalten 15 zu schreiben. Auch<br />

in einem zeitgenössischen Lexikon erscheint Vernaleken als zentrale Person zum<br />

Thema Reform der Lehrerbildung in Österreich. 16<br />

In einer der ersten größeren Arbeiten zur österreichischen Schulgeschichte<br />

am Beginn des 20. <strong>Jahrhundert</strong>s von Strakosch-Graßmann wird Vernaleken prominent<br />

am Beginn der Reformen von 1848/49 erwähnt. In ähnlicher Weise wie<br />

Hermann Bonitz, welcher 1849 als Professor nach Wien berufen wurde, um an<br />

einer Reform des Gymnasialwesens und der Universitäten mitzuarbeiten, sollte<br />

Vernaleken Impulse für die Reform der Volksschule beisteuern. 17 In dieser Publikation<br />

finden wir auch den Hinweis auf eine Konversion von Vernaleken <strong>im</strong> Zusammenhang<br />

mit seiner Berufung nach Wien. 18 Die – in gewisser Weise – parallele<br />

Berufung von Hermann Bonitz und Theodor Vernaleken für schulreformerische<br />

Zwecke, mag für manche Betrachter auch ihre konfessionelle Zugehörigkeit angeglichen<br />

haben.<br />

11<br />

Neumann, Lehrerbildung.<br />

12<br />

Strauch, Pflichtschullehrerbildung.<br />

13<br />

Donnermair, Pr<strong>im</strong>arschulwesen.<br />

14<br />

Gönner, Lehrerbildung, 152.<br />

15<br />

Vernaleken, Lehrer-<strong>Bildung</strong>sanstalten: Pädagogik.<br />

16<br />

Vgl. den Artikel zum Volksschullehrerseminar (insbesondere den Abschnitt über die Situation<br />

in Deutschösterreich), in: Schmid (Hrsg.), Encyklopädie, 49–184.<br />

17<br />

Strakosch-Graßmann, Geschichte des Unterrichtswesens, 210 f.<br />

18<br />

A.a.O., 211.


Konfessionalität und Lehrerbildung in Österreich 39<br />

4. Vernaleken und die Religion 19<br />

Es ist auffällig, dass Äußerungen zur Rolle der Religion <strong>im</strong> Schulwesen und dezidierte<br />

Artikel zu diesem Thema sich erst zu einem Moment finden, als der politische<br />

Wind sich wieder gedreht hatte und die liberale Phase Ende der 60er Jahre<br />

des <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s beginnt. In seinen frühen pädagogischen Büchern, die in<br />

Wien erschienen sind, finden sich recht wenige und nur allgemeine Aussagen zur<br />

Religion in der Schule. 20 Vernaleken gibt die aktuelle Gesetzeslage wieder und<br />

entspricht damit den Erwartungen der Schulbehörden. Eine Besonderheit ist die<br />

Verbindung von Sprachunterricht und religiöser Erziehung.<br />

Warum gibt es so wenige Aussagen zur Religion? Man hat den Eindruck, dass<br />

Vernaleken zu dieser Zeit das Thema meidet. Nach seiner Pensionierung publiziert<br />

er in einer liberalen pädagogischen Zeitschrift, dem Pädagogium von Friedrich<br />

Dittes, eine Reihe von grundsätzlichen Aufsätzen zum Thema Religion und<br />

Schule. Warum so spät?<br />

Arnold Winkler hat die Akten <strong>im</strong> Unterrichtsministerium in Wien über die<br />

Berufung Vernalekens in den 1920er Jahren aufgearbeitet. Er hat auf Vernalekens<br />

schlechte Erfahrungen mit dem Thema Religion und Schule in der Schweiz hingewiesen.<br />

21 Aus diesen Gründen mag er in Wien vermieden haben, in religiös strittigen<br />

Fragen Stellung zu beziehen.<br />

<strong>Religiöse</strong> Texte sind ein wichtiger Teil seiner Lesebücher für die Schule. Sehen<br />

wir uns <strong>im</strong> Folgenden ihre Auswahl und Verteilung in ausgewählten Veröffentlichungen<br />

an. Vernaleken wurde 1850 vom neu eingerichteten Unterrichtsministerium<br />

beauftragt, ein neues Sprach- und Lesebuch für die Volksschule zu verfassen.<br />

Seine Vorlage wurde einem intensiven Begutachtungsprozess unterzogen<br />

– die kirchliche Seite verlangte u.a. die Streichung von Märchentexten 22 – und als<br />

Schulbuch zugelassen. 23 Für anderskonfessionelle Schulen wurde der Inhalt angepasst.<br />

Ein Vergleich der Inhaltsverzeichnisse von katholischem und evangelischem<br />

Lesebuch zeigt, dass u.a. Texte zur Lebensgeschichte von Heiligen in der<br />

evangelischen Ausgabe ersetzt wurden. Viele religiöse Texte finden wir aber in<br />

beiden Ausgaben.<br />

19<br />

Der folgende Abschnitt gibt einen groben Überblick zu Vernalekens pädagogischer Position<br />

zu Religion und Schule.<br />

20<br />

In seinem Hilfsbuch (1852) schreibt er: »Die religiöse <strong>Bildung</strong> des Volkes ist der Hauptzweck<br />

der Volksschule, und aller Unterricht in derselben steht <strong>im</strong> Dienste der christlichreligiösen<br />

Erziehung.« Vernaleken, Hilfsbuch, 1.<br />

21<br />

»Zürich, eine Hochburg des Radikalismus, wurde je länger desto mehr ein heißer Boden<br />

für einen Schulmann, der Katholik und außerdem Konservativer war« Winkler, Vernalekens<br />

Übersiedelung, 100.<br />

22<br />

Sehr detailliert wird dieser Prozess von Robert Niedergesäss beschrieben. Vgl. Niedergesäss,<br />

Unterricht 33 f.<br />

23<br />

Vernaleken, Sprach- und Lesebuch.


40<br />

Robert Schelander<br />

In seinem Lesebuch für höhere Schulen, dem dreibändigen Literaturbuch<br />

(sic!) präsentiert er wichtige katholische, aber auch protestantische Texte. So ist<br />

Angelus Silesius und der Liederdichter Friedrich von Spee mit Texten vertreten.<br />

Letzterer wird dem protestantischen Pendant Paul Gerhard gegenübergestellt 24<br />

und Martin Luther als Liederdichter folgt als nächster Text: Mariä Verkündigung.<br />

Wir finden eine konfessionelle Ausgewogenheit. Ein harter Konfessionalismus ist<br />

Vernaleken fremd.<br />

Ganz anders beurteilt Sepp Domandl dessen Lesebücher. Er findet erstaunliche<br />

Zeugnisse des »protestantischen Geistes« und eine »mutige Toleranz« 25 . Da er<br />

Vernaleken – fälschlicherweise – eine protestantische Konfession zuschreibt, beurteilt<br />

er die Aufnahme katholischer Texte als »bloßes Ablenkungsmanöver« 26 .<br />

5. Positionen zum Verhältnis von Kirche und Schule<br />

Vor den Beschlüssen zum liberalen Reichsvolksschulgesetz (1869) schreibt Vernaleken<br />

seine programmatische Schrift zur Volksschule. »Wem gehört eigentlich<br />

die Volksschule?« 27 fragt er und antwortet: Weder Staat noch Klerus, sondern die<br />

örtliche Gemeinde sei es, in der Eltern der schulpflichtigen Kinder unmittelbar<br />

Verantwortung übernehmen. Diese Elterngemeinschaft sei Kirche, weshalb er die<br />

Forderung nach einer Trennung von Schule und Kirche für unsinnig halte. Der<br />

Pfarrer vor Ort könne auch Vorstand des Schulpflegevorstandes sein, 28 aber der<br />

Einfluss des Klerus (die kirchliche Hierarchie) müsse beschränkt werden. Wir sehen,<br />

dass Vernaleken hier eine moderate, vermittelnde Position <strong>im</strong> Streit um die<br />

Schulaufsicht einn<strong>im</strong>mt.<br />

Kurze Zeit später – 1871 – veröffentlicht Vernaleken seine Unterrichtslehre 29 .<br />

Mittlerweile ist das Schule-Kirche-Gesetz (1868) und das Reichsvolksschulgesetz<br />

(1869) veröffentlicht worden. Jetzt formuliert er schärfer, dass es keinen konfessionellen<br />

Einfluss auf die Volksschule geben dürfe. 30 Dies entspricht zu diesem<br />

Zeitpunkt der aktuellen gesetzlichen Regelung. Es setzt darüberhinaus gehende<br />

Signale: so beginnt er seine Ausführungen mit einem <strong>langen</strong> Zitat von <strong>Johannes</strong><br />

Agricola, einem deutschen Reformator und engen Vertrauten von Martin Luther.<br />

In seiner Argumentation zur Frage von Schule und Religion bezieht er sich auf<br />

eine Publikation, welche von der Diesterweg-Gesellschaft mit einem Preis gekrönt<br />

24<br />

»Der katholische Spee und der protestantische Paul Gerhardt sind die bedeutendsten<br />

geistlichen Liederdichter des 17. Jahrh.« Vernaleken, Litteraturbuch, 75.<br />

25<br />

Domandl, Stifters Lesebuch, 21.<br />

26<br />

A.a.O., 28.<br />

27<br />

Vernaleken, Volksunterricht, 9.<br />

28<br />

A.a.O., 17.<br />

29<br />

Vernaleken, Unterrichtslehre.<br />

30<br />

A.a.O., 3 f.


Konfessionalität und Lehrerbildung in Österreich 41<br />

wurde. 31 Ein deutliches Signal für eine liberale Haltung in Schulfragen. Er macht<br />

zugleich deutlich, dass er radikale Positionen (z.B. eine religionslose Schule) ablehnt:<br />

eine überkonfessionelle Religion ist für ihn zentrales <strong>Bildung</strong>smittel. Vernaleken<br />

ist zu dieser Zeit der erste Direktor der soeben gegründeten Lehrebildungsanstalt<br />

in Wien. Seinen Ausführungen kommt bildungspolitisches Gewicht<br />

zu.<br />

Nach dem Ende seiner beruflichen Laufbahn veröffentlicht Vernaleken eine<br />

Reihe grundsätzlicher Aufsätze zum Thema Religion und Schule. Publikationsort<br />

ist die liberale Zeitschrift Pädagogium von Friedrich Dittes. Ich beschränke mich<br />

auf einige Beobachtungen insbesondere zur zentralen Frage der Schulaufsicht.<br />

In einem Beitrag <strong>im</strong> ersten Jahrgang der Zeitschrift spricht er sich für eine<br />

»confessionsfreie Volksschule« 32 aus. Interessant ist, dass er dieses Schulmodell<br />

seiner Idee nach schon bei Maria Theresia und Joseph II zu finden meint. Durch<br />

die sog. politische Schulverfassung von 1805 seien diese ursprünglichen Konzepte<br />

in ihr Gegenteil verkehrt und erst durch die liberale Gesetzgebung der<br />

1860er Jahre in ihrer ursprünglichen Intention wieder verwirklicht worden. 33 In<br />

einem weiteren Beitrag <strong>im</strong> 2. Jahrgang des Pädagogiums plädiert er für einen allgemeinen,<br />

überkonfessionellen Religionsunterricht. Wenn der Unterricht der<br />

Schule eine staatliche Aufgabe sei, so sollte dies auch den Religionsunterricht betreffen.<br />

Dieser sollte durch staatliche Lehrer für alle Schüler gemeinsam erfolgen.<br />

Eine Einführung in spezielle konfessionelle Inhalte könne dann durch die Konfessionen<br />

außerhalb des Schulunterrichts erfolgen.<br />

»Was wir anzustreben haben ist eine völlig selbstständige, von kirchlichen<br />

Gesichtspunkten unabhängige Volkschule, in welcher der Lehrer auch den Unterricht<br />

in Recht und Sitte ertheilt.« 34 An später Stelle nennt er diesen Unterricht:<br />

»interconfessionellen pädagogischen Religionsunterricht« 35 . Religion soll weiterhin<br />

<strong>im</strong> Zentrum des Unterrichts der Volksschule stehen, aber durch den »weltlichen<br />

Classenlehrer« 36 unterrichtet werden.<br />

6. Zusammenschau<br />

Wir konnten zur Klärung einiger falscher bzw. unklarer Angaben zur konfessionellen<br />

Zugehörigkeit Vernalekens beitragen. Aufgrund der vorliegenden<br />

31<br />

A.a.O., 4. Richter, Emanzipation.<br />

32<br />

Vernaleken, Stellung der Volksschule, 305.<br />

33<br />

Vgl. Vernaleken, S<strong>im</strong>ultanschule.<br />

34<br />

A.a.O., 230.<br />

35<br />

A.a.O., 235.<br />

36<br />

A.a.O., 237.


42<br />

Robert Schelander<br />

Unterlagen ist bei ihm von einer einmaligen Konversion vom Katholizismus zur<br />

Evangelischen Kirche, Helvetischen Bekenntnisses, 1893 in Graz, auszugehen. 37<br />

Seine Bewerbung um eine Stelle <strong>im</strong> Schulwesen <strong>im</strong> katholischen Österreich<br />

können wir als Versuch bewerten, seine persönliche Haltung und religiöse Zugehörigkeit<br />

mit seiner beruflichen und pädagogischen Tätigkeit zu verbinden. Das<br />

katholische Österreich erschien ihm <strong>im</strong> Hinblick auf eine berufliche Karriere aussichtsreicher<br />

als der reformierte Kanton Zürich. Ob er sich auch in anderen Kantonen<br />

der Schweiz beworben hat, ist bisher nicht bekannt. Seine Bewerbung in<br />

Wien erfolgte jedenfalls auch auf dem Hintergrund seiner Konfession.<br />

In seinen Schriften enthält er sich lange Zeit direkter Aussagen zum Thema<br />

Religion bzw. Konfession und Schule. Erst mit seiner Pensionierung folgte u.a. in<br />

Dittes Pädagogium eine Reihe von eindeutigen Positionierungen <strong>im</strong> Hinblick auf<br />

das Thema Religion und Schule, welche man vorher in dieser Weise nicht bei ihm<br />

lesen konnte.<br />

Die historischen Darstellungen des pädagogischen Wirkens Vernalekens zeigen<br />

eine deutliche Tendenz, seine loyale Mitarbeit bei konservativen schulischen<br />

Entwicklungen nach 1848, der Position der klerikalen Reaktion, kleinzureden und<br />

seine (persönliche) religiöse Offenheit zu betonen. Seine liberale Haltung in schulischen<br />

Fragen, insbesondere gegenüber der katholischen Kirche, welche wir in<br />

seinen späten Jahren auch literarisch greifen können, wird auf die frühen Wiener<br />

Jahre ausgedehnt. Am Ende dieses wirkungsgeschichtlichen Prozesses steht – so<br />

kann man vermuten – seine konfessionelle Zuschreibung als Protestant.<br />

Ein Lehrstück für die österreichische Schulgeschichtsschreibung, so lautet<br />

der Untertitel unseres Beitrages. Die vorliegende Recherche zeigt, dass Quellen<br />

zur österreichischen Schulgeschichte nur ungenügend aufgearbeitet sind und<br />

vielfach mit Sekundärliteratur gearbeitet wird. Die Studie Arbeit zeigt darüber<br />

hinaus die Problematik von biographischen Quellen, insbesondere von zeitnahen<br />

Lebensbildern, welche die Leistungen einer Person würdigen wollen und kritische<br />

Aspekte und Bezüge zurückstellen. Beides fordert die historische <strong>Bildung</strong>sforschung<br />

auf, bisherige Ergebnisse erneut – auch an verschiedenen – Quellen zu<br />

prüfen.<br />

Der widersprüchliche Befund, dass eine zentrale Person der Lehrerbildung<br />

und der Geschichte der österreichischen Schule 38 in wichtigen Darstellungen zur<br />

Geschichte des <strong>Bildung</strong>swesens nicht erwähnt wird, bekommt durch unsere Untersuchung<br />

eine konfessionelle D<strong>im</strong>ension und wirft die Frage auf, wie konfessionelle<br />

Minderheiten sich in pädagogischen Fragen in jener Zeit positioniert haben.<br />

37<br />

Vernaleken ist am 3. Jänner 1893 aus der katholischen Kirche ausgetreten und am 5.<br />

Jänner 1893 in die evangelische Kirche helvetischer Konfession eingetreten. Übertritts-<br />

Buch, Graz, 144.<br />

38<br />

Aufgrund der bisherigen Ausführungen erscheint das Urteil von Arnold Winkler gut begründet:<br />

»Die Verdienste des Schulmannes Theodor Vernaleken um das Lehrerbildungsund<br />

Erziehungswesen sind aus der Geschichte der österreichischen, namentlich der Wiener<br />

Pädagogik nicht wegdenkbar.« Winkler, Übersiedelung, 6.


Konfessionalität und Lehrerbildung in Österreich 43<br />

7. Quellen- und Literaturverzeichnis<br />

Beyer, Otto Wilhelm, Deutsche Schulwelt des neunzehnten <strong>Jahrhundert</strong>s in Wort und Bild,<br />

Leipzig und Wien: Pichler 1903.<br />

Donnermair, Christine, Die staatliche Übernahme des Pr<strong>im</strong>arschulwesens <strong>im</strong> <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>:<br />

Maßnahmen und Intentionen. Vergleich Frankreich – Österreich, Dissertation<br />

Universität Wien, Wien 2010.<br />

Domandl, Sepp, Adalbert Stifters Lesebuch und die geistigen Strömungen zur <strong>Jahrhundert</strong>mitte,<br />

Linz: Oberösterreichischer Landesverlag 1976.<br />

Friedrich, Margret/Mazohl, Brigitte/Schlacht, Astrid von, Die <strong>Bildung</strong>srevolution, in: Die<br />

Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. IX/1,1 Lebens und Arbeitswelten in der industriellen<br />

Revolution, Wien: Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2010, 67–<br />

107.<br />

Fuchs, Sabine, Theodor Vernaleken – aktiv <strong>im</strong> Ruhestand, in: Seibert, Ernst (Hrsg.), Theodor<br />

Vernaleken und das Erbe der Brüder Gr<strong>im</strong>m in Österreich. Sonderheft libri liberorum<br />

2012, 17.<br />

Gönner, Rudolf, Die österreichische Lehrerbildung. Von der Normalschule bis zur Pädagogischen<br />

Akademie, Wien: Österreichischer Bundesverlag 1967.<br />

Jahres-Bericht der k. k. Ober-Realschule am Schottenfelde in Wien für das Studienjahr<br />

1869–1870, Wien 1870.<br />

Jungmair, Otto, Adalbert Stifter und die Schulreform in Oberösterreich nach 1848, in: Historisches<br />

Jahrbuch der Stadt Linz 1957, Linz 1857, 241–3<strong>19.</strong><br />

Niedergesäss, Robert, Unterricht in der deutschen Sprache (Volks- und Bürgerschulen), in:<br />

Bericht über österreichisches Unterrichtswesen. Aus Anlaß der Weltausstellung 1873<br />

herausgegeben von der Commission für die Collectiv-Ausstellung des österreichischen<br />

Unterrichts-Ministeriums, Wien: Beck 1873, II. Theil., 32–47.<br />

Neumann, Theodor, Kleine Geschichte der österreichischen Lehrerbildung, Wien: Saturn<br />

1936.<br />

Richter, Karl, Die Emanzipation der Schule von der Kirche und die Reform des Religionsunterrichts<br />

in der Schule. Ein Beitrag zur Lösung dieser Fragen. Von der Diesterwegstiftung<br />

gekrönte Preisschrift. Leipzig: Friedrich Brandstetter 1870.<br />

Schmid, Karl Adolf (Hrsg.), Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens,<br />

Bd. 10, Gotha: Rudolf Besser 1875.<br />

Seebauer, Renate, Lehrerbildung in Porträts. Von der Normalschule bis zur Gegenwart,<br />

Wien: LIT 2011.<br />

Seibert, Ernst (Hrsg.), Theodor Vernaleken und das Erbe der Brüder Gr<strong>im</strong>m in Österreich.<br />

Sonderheft libri liberorum 2012.<br />

Seifert, Walter, Literaturidee und Literaturdidaktik bei Adalbert Stifter, in: Laufhütte, Hartmut/Möseneder,<br />

Karl (Hrsg.), Adalbert Stifter. Dichter und Maler, Denkmalpfleger und<br />

Schulmann. Neue Zugänge zu seinem Werk, Tübingen: De Gruyter 1996, 157 – 184.<br />

Strakosch-Graßmann, Gustav, Geschichte des österreichischen Unterrichtswesens, Wien:<br />

Pichler 1905.


44<br />

Robert Schelander<br />

Strauch, Günter, Die Grundlegung der österreichischen Pflichtschullehrerbildung (1774—<br />

1869). Universität Wien Dissertation. Wien 1966.<br />

Uerbertrittsbuch, Graz – Heilandskirche, Graz o.J.<br />

Vernaleken, Theodor, Erstes Sprach- und Lesebuch. Für die erste Klasse der österreichischen<br />

Volkschulen, Wien: Schulbücherverschleiß-Administrazion 1851.<br />

Vernaleken, Theodor, Hilfsbuch zu dem ersten Sprach- und Lesebuche für die katholischen<br />

Volksschulen <strong>im</strong> Kaiserthume Österreich. Für Lehrer und Präparanden bearbeitet,<br />

Wien: Schulbücherverschleiß-Administrazion 1852.<br />

Vernaleken, Theodor, Litteraturbuch. Deutsches Lesebuch nebst den Anfängen der Kunstund<br />

Litteraturgeschichte, Alterthumskunde, Mythologie und Poetik. II. Theil. Aus der<br />

mittleren Zeit, Wien: Braumüller 3.A. 1855.<br />

Vernaleken, Theodor, Österreichische Kinder- und Hausmärchen. Treu nach mündlicher<br />

Überlieferung, Wien: W. Braumüller 1864.<br />

Vernaleken, Theodor, Über den Volksunterricht. Grundlinien zum erneuerten Aufbau der<br />

deutschen Volksschule in Österreich, Wien: Sallmayer 1868.<br />

Vernaleken, Theodor, Hauptgrundsätze aus der allgemeinen Unterrichtslehre. Nebst eingehenden<br />

Erörterungen über den Sprachunterricht in der Volks- und Bürgerschule.<br />

Wien: Beck 1871.<br />

Vernaleken, Theodor, Lehrer-<strong>Bildung</strong>sanstalten: Pädagogik. Bericht von Director Theodor<br />

Vernaleken in Wien, in: Bericht über österreichisches Unterrichtswesen. Aus Anlaß<br />

der Weltausstellung 1873 herausgegeben von der Commission für die Collectiv-Ausstellung<br />

des österreichischen Unterrichts-Ministeriums, Wien: Beck 1873, II. Theil.,<br />

195 f.<br />

Vernaleken, Theodor, Die Stellung der Volksschule zu den Confessionen, in: Paedagogium.<br />

Monatsschrift für Erziehung und Unterricht, 1879, 301–314.<br />

Vernaleken, Theodor, Die S<strong>im</strong>ultanschule und der Religionsunterricht, in: Paedagogium.<br />

Monatsschrift für Erziehung und Unterricht, 1880, 227–238.<br />

Winkler, Arnold, Theodor Vernalekens Übersiedelung nach Österreich (Beiträge zur Geschichte<br />

der österreichischen Volksschule 3), in: Pharus 14(1923) 96–107.<br />

Wurzbach, Constantin von, Theodor Vernaleken, in: Biographisches Lexikon des Kaiserthums<br />

Oesterreich. 50. Theil. Kaiserlich-königliche Hof- und Staatsdruckerei, Wien<br />

1884, 129–134.


<strong>Antje</strong> <strong>Roggenkamp</strong><br />

Staats-, Kultur- oder Willensnation?<br />

Zur Bedeutung von Religion in Nationalisierungspraktiken<br />

Im Verlauf des <strong>langen</strong> <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s drängen auf der politischen Ebene die<br />

liberalen Kräfte auf eine Nationenbildung. 1 Nationale Konstrukte entstehen, sie<br />

werden seit 1859 auch auf den Weltausstellungen in z.T. materialisierter Gestalt<br />

präsentiert. 2 Von einer kontinuierlichen Entwicklung hin zu einer Modernisierung<br />

und Demokratisierung des Staatswesens lässt sich in Kontinentaleuropa <strong>im</strong> Wesentlichen<br />

<strong>im</strong> Falle der Benelux-Länder sowie Skandinavien sprechen. 3<br />

Voraussetzung für die Nationenbildung ist ursprünglich die (Wieder-) Auffindung<br />

mittelalterlicher Gesänge und Geschichten. Im 18. <strong>Jahrhundert</strong> begab man<br />

sich fast überall in Europa auf die Suche nach eigenen Nationalepen. Jede Nation<br />

hat sich ihr eigenes Erbe, nicht selten <strong>im</strong> Sinne einer »invention of tradition«<br />

(Hobsbwam) schaffen müssen: In Frankreich orientiert man sich an den (bretonischen)<br />

Druidengeschichten, um dem Nationbegriff einen entsprechenden Gründungsmythos<br />

an die Seite zu stellen. 4 Die Gallier avancieren zum ältesten Volk<br />

Europas. 5 Während in der Schweiz das Nibelungenlied von Johann Jakob Bodmer<br />

als Freiheitslied entdeckt wird, setzt in Deutschland Justus Möser mit seinem Arminius<br />

(1749) Akzente. 6 <strong>Johannes</strong> Gottfried Herder interessiert sich für Besonderheiten<br />

der urtümlichen Völkerkulturen, Ach<strong>im</strong> von Arn<strong>im</strong> und Clemens Brentano<br />

geben des Knaben Wunderhorn heraus. 7<br />

Über die Begründung von Nation bilden sich in den verschiedenen Ländern<br />

unterschiedliche Vorstellungen aus. In Frankreich entwickelt sich zu Beginn des<br />

<strong>langen</strong> <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s die Vorstellung von zwei verschiedenen Völkern. Sie wird<br />

als Narrativ in den Umgang mit der französischen Revolution eingeflochten. Die<br />

Besiegten drehen ihr Schicksal um. Das Volk knüpft an seine älteren Wurzeln an.<br />

1<br />

Geulen, Nationalismus, 5.<br />

2<br />

Thiesse, Identités, 13.<br />

3<br />

Jarausch, Winkler; Ziethen, Feindbilder, 47.<br />

4<br />

Thiesse, Identités, 53.<br />

5<br />

A.a.O., 54.<br />

6<br />

A.a.O., 31.<br />

7<br />

A.a.O., 63.


46<br />

<strong>Antje</strong> <strong>Roggenkamp</strong><br />

Ähnlich verhält es sich in der Schweiz, aber auch in Deutschland. Der Bezug auf<br />

das Ursprüngliche der vaterländischen Geschichte ermöglicht dem Volk, das<br />

Fremde, Uneigentliche abzuschütteln. Während in der Schweiz das Französische<br />

in der Zivilisation bekämpft wird, ist es in den deutschen Befreiungskriegen das<br />

Vaterländische, das französische Übergriffe kritisieren hilft. 8<br />

Aus dem kulturgeschichtlichen Rückblick stellt sich die Situation anders dar.<br />

Während das Volk eine abstrakte Größe ist, wird der Diskurs über die Nation in<br />

transnationalen Krisen verdichtet. Dies gilt etwa für Johann Gottlieb Fichtes »Reden<br />

an die deutsche Nation« (1807/1808), aber auch für Ernst Renans »Qu’est-ce<br />

qu’une nation?« (1882/1883): 9 Bezeichnet man Gebilde, in denen sich Bürger auf<br />

Grund gemeinsamer politischer Werte – wie etwa der französischen Menschenrechtserklärung<br />

– zusammenschließen, als Staatsnation, geht die Formel von der<br />

Kulturnation auf Bestrebungen deutscher Intellektueller <strong>im</strong> 18. <strong>Jahrhundert</strong> zurück,<br />

staatliche und religiöse Grenzen durchlässig zu machen. 10 Föderalistische<br />

staatliche Organisationen, in denen sich kleinere Verwaltungseinheiten – wie<br />

etwa Kantone in der Schweiz – durch die direkte »Einbeziehung des wahlberechtigten<br />

Volkes« bottom up organisieren, qualifiziert Renan bereits 1882 Willensnation.<br />

11<br />

Am Ende des <strong>langen</strong> <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s verändern sich in den europäischen<br />

Staaten die Selbst- und Fremdbilder erheblich. Dieser Vorgang beeinflusst Ausprägung<br />

und Erscheinungsformen von Nation. Der Begriff wird zunehmend politisch<br />

instrumentalisiert. Es entsteht der Nationalismus, eine pr<strong>im</strong>är funktionale, massenmobilisierende<br />

Integrationsideologie, die in der Nation eine sich über andere<br />

partikulare Identitäten und kollektive Bindungen hinwegsetzende und sie zu einer<br />

homogenen Volksgemeinschaft verschmelzende politische Größe sieht. 12 Ein<br />

politisches Verzwecken ist dem Begriff Nation nicht von vornherein eingezeichnet.<br />

Die Hinwendung zu aufkommenden Stereotypen und Feindbildern hat eine spezifische<br />

Stoßrichtung: »Es sind diese Befunde, aus denen die Nationalismusforschung<br />

seit den 1980er Jahren den Leitsatz ableitet, dass nicht die Nationen den Nationalismus,<br />

sondern der Nationalismus die Nationen hervorbringt – einschließlich ihrer<br />

Herkunftsmythen.« 13<br />

Bislang unbeachtet geblieben ist der Einfluss von Religion auf Prozesse der<br />

Nationenbildung. Wegen der exemplarischen Zuschreibungen von Staats-, Kulturund<br />

Willensnation fokussiert vorliegende Studie auf Frankreich, Deutschland und<br />

die Schweiz. Die Ausführungen untersuchen den Umgang mit Religion in nationalen<br />

Aushandlungsprozessen. Die Analyse von Praktiken und Diskursen setzt<br />

8<br />

A.a.O., 65 f.<br />

9<br />

Ziethen, Feindbilder, 63.<br />

10<br />

Die Gegenüberstellung wird von Friedrich Meinecke am Ende des <strong>langen</strong> <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s<br />

1908 ins Gespräch gebracht. Jurt, Staatsnation, 19–36, bes. 19 ff.<br />

11<br />

Maiolino, Willensnation, 449, 454.<br />

12<br />

Ziethen, Feindbilder, 53 f.<br />

13<br />

So mit Bezug auf Hans-Ulrich Wehler Geulen, Nationalismus, 6.


Staats-, Kultur- oder Willensnation? 47<br />

weniger diskursanalytisch als vielmehr praxistheoretisch an. 14 Diese werden zudem<br />

in transnationaler Orientierung, d.h. in einem Zwischenraum jenseits nationaler<br />

und diesseits internationaler Perspektiven, betrachtet: Die nationale Geschichte<br />

tritt nicht in einer instrumentellen, regulativen Perspektive in den Fokus,<br />

sondern als eine Ordnung, die Leitideen oder Ordnungsvorstellungen einer Gemeinschaft<br />

in einer religionsbezogenen Orientierung zum Ausdruck bringt. 15 Verfassungen,<br />

Schulordnungen, pädagogische Zeitschriften und Medien werden nicht<br />

als historische Textdokumente betrachtet, sondern in ihrer Vergegenwärtigung<br />

durch konkrete Akteure. 16<br />

Die religionsbezogene D<strong>im</strong>ension ist weder Beiwerk<br />

noch einer instrumentellen Perspektive untergeordnet. Um eine Steuerungsleistung<br />

zu erbringen, muss etwa eine Verfassung »geglaubt werden« 17 . Die Komplexität<br />

und Multipolarität moderner nationaler Gesellschaften lässt nationale Aushandlungsprozesse<br />

nicht nur als »normatives und kulturelles Verbindungsstück<br />

zwischen dem Legit<strong>im</strong>itäts- und Integrationsanspruch von Herrschaftsträgern sowie<br />

dem Legit<strong>im</strong>itätsglauben und Integritätsgefühl von Herrschaftsunterworfenen«<br />

18<br />

erscheinen. Die in den verschiedenen Dokumenten repräsentierten Ordnungsvorstellungen<br />

sind auch <strong>im</strong> transnationalen Zwischenraum zu interpretieren.<br />

19 Die Ausführungen fragen nach der Benutzung von Religion, ihrem Einfluss<br />

sowie Auswirkungen auf das weitere Feld von Verfassungs- und Erziehungswesen<br />

(1). Fokussiert werden mediale Aktivitäten <strong>im</strong> Umgang mit Religion, die dem<br />

(trans-) nationalen Einfluss zentraler pädagogische Akteure entspringen (2). Die<br />

praxistheoretische Analyse von Steuerungsprinzipien <strong>im</strong> Feld von Nation und Religion<br />

ermöglicht deren Konturierung in (trans-) nationalen Kontexten (3).<br />

1. Verfassungs- und schulbezogene Rahmungen von<br />

Religion <strong>im</strong> nationalen Feld<br />

Für die nationale Geschichte <strong>im</strong>pliziert der praxistheoretische Ansatz einen Perspektivenwechsel.<br />

Die Verfassungen wirken Konflikt vermeidend, indem sie politische<br />

Gruppen innerhalb eines Gemeinwesens integrieren. 20<br />

Durch den<br />

14<br />

Zum praxeologischen Verständnis von Feld, Theorie und Praxis der Praxistheorie als Kulturtheorie<br />

vgl. Reckwitz, Theorie, 287 f.<br />

15<br />

Das Konzept der Leitidee entwickelte sich aus der Institutionenanalyse Maurice Haurious.<br />

Nach Deutschland gelangte der Begriff dann über die Rezeption Haurious durch Schmitt<br />

und Gehlen. Vgl. Rausch, Konstitution, <strong>19.</strong><br />

16<br />

Häberle, Gesellschaft, 280.<br />

17<br />

Vorländer, Integration, <strong>19.</strong><br />

18<br />

Schlegelmilch, Verfassungskultur, 139.<br />

19<br />

Rausch, Konstitution, <strong>19.</strong><br />

20<br />

Frankenberg, Autorität, 42.


48<br />

<strong>Antje</strong> <strong>Roggenkamp</strong><br />

gemeinsamen Bezug auf die Verfassung wird es – auch in religionsbezogenen<br />

Konfliktkonstellationen – möglich, den anderen als aus ähnlich Motiven handelnd<br />

zu sehen. Insofern in Deutschland, Frankreich und der Schweiz zu Beginn des <strong>19.</strong><br />

<strong>Jahrhundert</strong>s der Umgang mit Religion in einen nicht <strong>im</strong>mer unumstrittenen Fokus<br />

tritt, 21 werden die Schulordnungen vor dem Hintergrund der jeweils maßgeblichen<br />

Verfassung betrachtet. Dies geschieht mit einer doppelten Absicht. Zu fragen<br />

ist, wie Religion <strong>im</strong> jeweiligen Verfassungskontext genutzt wird und wie sich<br />

der spezifische Umgang mit Religion auf das nationale Erziehungssystem auswirkt.<br />

1.1 Frankreich<br />

In der französischen Revolution vollzieht sich die Abschaffung der (katholischen)<br />

Staatsreligion in verschiedenen Etappen. An die vergleichsweise moderaten Einschränkungen<br />

seitens der verfassungsgebenden Nationalversammlung – u.a.<br />

durch die Erklärung(en) der Menschenrechte 1789/1791 verursacht – schließen<br />

sich seit 1791 Verfolgungen, seit 1793 eine Phase der Entchristianisierung an.<br />

Napoleon I. gestaltet in Konkordat (1801) und Organischen Artikeln (1802) die<br />

Beziehungen zwischen Staat und Kirche(n) neu. Die Volksschulen werden unter<br />

kirchliche Leitung gestellt. 22<br />

Die Restauration der Bourbonen <strong>im</strong> Frühjahr 1814 erweist sich als konfliktträchtig.<br />

Die Wiedereinführung der Monarchie entspricht den politischen Kräfteverhältnissen.<br />

Auch wenn die liberalen Organe den Einfluss klerikaler Kreise auf<br />

die politische Entwicklung inkr<strong>im</strong>inieren. Nach Napoleons Sturz entsteht die<br />

Charte constitutionnelle. Sie stellt keinen vorrevolutionären Zustand wieder her,<br />

sondern fixiert die Grundlagen der französischen Monarchie und führt den Katholizismus<br />

als Staatsreligion (wieder) ein (§ 6). Die restaurierte Monarchie n<strong>im</strong>mt<br />

Erklärungen von 1792 auf und bestätigt die Religionsfreiheit (§ 5). 23<br />

Die revidierte Charte von 1830 ändert die Staatsreligion in die »religion des<br />

majorités des Français« (§ 6), die großen liberalen Zeitungen greifen in der Jul<strong>im</strong>onarchie<br />

auf eine eingeübte Praxis <strong>im</strong> Umgang mit monarchischer Repräsentation<br />

zurück: der König leistet seinen Eid auf die Verfassung, die Stellung des Königtums<br />

wird umgedeutet. 24 Der Protestant Francois Guizot plädiert für die flächendeckende<br />

Einführung von staatlichen (Pflicht-) Schulen (1833), auch wenn diese<br />

verdächtigt werden, sozialistische und antiklerikale Ideen zu verbreiten. Die Zahl<br />

21<br />

Dreier, Säkularisierung, 72 f; Rausch, Konstitution, 16, 366 f; Schoch, Nation, 358 f.<br />

22<br />

Harth, Vorschulerziehung, 18 f.<br />

23<br />

Rausch, Konstitution, 15: »La Republique doit protéger le citoyen dans sa personne, sa<br />

famille, sa religion, sa propriété, son travail, et mettre à la portée de chacun l´instruction<br />

indispensable à tous les hommes«.<br />

24<br />

Rausch, Konstitution, 73 f.


Staats-, Kultur- oder Willensnation? 49<br />

der Lehrkräfte, die religiösen Orden angehören und wie die Priester seit 1830 als<br />

Staatdiener bezahlt werden (§ 6), steigt 1847 auf 2136 frères und 10 371 sœurs. 25<br />

Die Verfassung der Zweiten Republik verabschiedet nach dem Schock der Juni-<br />

Aufstände <strong>im</strong> November 1848 den (traditionellen) Grundrechtekanon des französischen<br />

Konstitutionalismus. 26<br />

Die Ausweitung der Religionsfreiheit trägt nicht<br />

dazu bei, die gespaltene Gesellschaft zu einen: »Les ministres, soit des cultes actuellement<br />

reconnus par la loi, soit de ceux qui seraient reconnus à l’avenir, ont<br />

le droit de recevoir un traitement de l’Etat.« (§ 7) Konkurrierende Deutungen der<br />

Verfassung führen zu einen erdrutschartigen Sieg des von der Landbevölkerung<br />

gestützten Kandidaten der parti de l’ordre. Louis-Napoléon Bonaparte (Napoléon<br />

III) setzt sich am 10.12.1848 mit mehr als 72% der abgegebenen St<strong>im</strong>men gegenüber<br />

den republikanischen Mitstreitern durch. Die erste Präsidentschaftswahl in<br />

der zweiten Französischen Republik gewinnt ein Neffe von Napoléon I. 27 Alfred de<br />

Falloux und seinen Mitstreitern gelingt es 1850, ein den klerikalen Kräften entgegen<br />

kommendes Schulgesetz durchzusetzen. 28 Auch die Zweite Republik scheitert<br />

an der Einführung eines flächendeckenden öffentlichen Schulwesens.<br />

Der Staatsstreich von Napoléon III. am 2. Dezember 1851 erscheint als radikale<br />

Antwort auf die in dessen Wahl zum Ausdruck kommenden Aporien der französischen<br />

Verfassungskultur. Der neue, selbst ernannte Empéreur stützt sich <strong>im</strong><br />

Second Empire (1852–1870) auf den Rückhalt der ländlichen Bevölkerung, großer<br />

Teile des Großbürgertums, vor allem aber auf den katholischen Klerus sowie ultramontan<br />

gesonnene Kreise. 29 Das staatliche Schulwesen wird zunehmend von<br />

Priestern geordnet und überwacht. 30 Gründungen privater Écoles pr<strong>im</strong>aires (catholiques)<br />

dominieren das Erziehungswesen. Im Jahr 1863 zählt man 7161 männliche<br />

und 36397 weibliche Lehrkräfte, die religiösen Orden angehören. Auch die<br />

weltlichen Lehrkräfte werden überwiegend durch Ordenspersonal ausgebildet. 31<br />

In der Dritten Republik (1870–1940) werden die staatlichen Schulprogramme<br />

von klerikalen Einflüssen befreit. Die Umsetzung der Maßnahmen beaufsichtigt<br />

Ferdinand Buisson, zwischen 1879 und 1896 Generalinspektor für das Erziehungswesen.<br />

32 Führendes Regierungspersonal der »République protestante« 33 rekrutiert<br />

sich zwischen 1885 und 1906 aus den protestantischen Fakultäten. Den<br />

25<br />

Price, Empire, 196<br />

26<br />

Rausch, Konstitution, 17.<br />

27<br />

A.a.O., 398 f.<br />

28<br />

Harth, Vorschulerziehung, 20.<br />

29<br />

Rausch, Konstitution, 435.<br />

30<br />

Price, Empire, 194 f.<br />

31<br />

A.a.O., 196.<br />

32<br />

Der Umgang mit Religion gilt noch 1882 als freundlich und inklusiv, 1886 als antiklerikal<br />

und exklusiv vgl. Kahn, Wurzeln, 145; Cabanel, République, 240–243.<br />

33<br />

A.a.O., 126. Die Eröffnungsfeier der von Straßburg nach Paris verlegten protestantischen<br />

Fakultät präsidiert Jules Ferry, der die Zeremonie mit einem Gebet beschließt. Cabanel,<br />

République, 104–106.


50<br />

<strong>Antje</strong> <strong>Roggenkamp</strong><br />

maßgeblichen Akteuren gelingt es, das Ideal einer weiteren Republikanisierung<br />

der französischen Nation nicht nur festzuhalten, sondern auch auf der (religions-<br />

) politischen Ebene fortzuschreiben: 34 Der Schulbesuch in der Französischen Republik<br />

ist seit 1881 gratis, eine Schulpflicht besteht seit 1882. 35 Unter der Ägide<br />

von Jules Ferry wird das Gesetz zur Laizisierung des Unterrichts (1882) vorangebracht.<br />

36 Sein Nachfolger René Goblet erarbeitet ein Gesetz zur Laizisierung des<br />

Lehrpersonals (1886). Die Neutralität der Schule erstreckt sich zunehmend nicht<br />

nur auf Konfessionen, sondern auf jede Weltanschauung. 37 Dies schließt allerdings<br />

nicht aus, dass die Moral religiös grundiert werden kann: In den grundständigen<br />

Schulen Frankreichs ersetzt die instruction morale et civique zwar seit 1882 den<br />

Religionsunterricht, ihre Ausführungsbest<strong>im</strong>mungen schreiben aber ausdrücklich<br />

die Auseinandersetzung mit den »devoirs envers Dieu« 38 fest. Am Ende des<br />

<strong>langen</strong> <strong>19.</strong> <strong>Jahrhundert</strong>s wird mit dem Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat<br />

(1905) eine Entwicklung abgeschlossen, die zwar klerikale Einflussnahmen, nicht<br />

aber den Geist der Religion unterbindet.<br />

1.2 Deutschland<br />

Seit dem 18. <strong>Jahrhundert</strong> etabliert sich in Preußen eine Praxis der Toleranz, die<br />

der Staat gegenüber verschiedenen christlichen Sekten und Konfessionen vorhält.<br />

Eine Trennung von Staat und Kirche kommt nicht in den Blick. Die tolerante Praxis<br />

ist dem Grundsatz paritätischer Gleichbehandlung geschuldet. Die öffentlich<br />

anerkannten Konfessionen – Katholiken, Lutheraner und Reformierte – stehen<br />

ebenso wie die geduldeten Religionsgemeinschaften unter staatlicher Aufsicht.<br />

Die Allgemeinen Best<strong>im</strong>mungen des preußischen Landrechts von 1794 billigen Einzelnen<br />

mit Blick auf die Religion Individualrechte – freie Wahl der Religion, Verbot<br />

eines Gewissenszwangs, nicht jedoch den Kirchenaustritt – zu. 39<br />

Die Paulskirchenversammlung von 1848/49 gewährt volle Religionsfreiheit.<br />

Die Verfassung schreibt sie <strong>im</strong> Sinne der Grund- oder Menschenrechte einer jeden<br />

Person fest. Zur Gewissensfreiheit treten Kultus- und Vereinigungsfreiheit hinzu.<br />

Die staatliche Aufsicht über die Religionsgemeinschaften entfällt. 40 Zwar scheitert<br />

34<br />

Rausch, Konstitution, 437.<br />

35<br />

Buisson, Empire, 7: »La République rendait l’école publique gratuite dès 1881 ; dès 1882<br />

elle proclamait l’instruction pr<strong>im</strong>aire obligatoire.«<br />

36<br />

Kahn, Wurzeln, 139 f.<br />

37<br />

Beigbeder, Citoyen, 163: »La neutralité politique de l´école est cependant différente de la<br />

neutralité religieuse. L´école est neutre non seulement au point de vue confessionnel, mais<br />

au point de vue religieux ; entre christianisme, théisme et athéisme, entre religion et libre<br />

pensée, le législateur a pris soin de ne pas se prononcer.«<br />

38<br />

Kahn, Wurzeln, 141.<br />

39<br />

Dreier, Säkularisierung, 72 f.<br />

40<br />

Kühne, Reichsverfassung, 470.


Staats-, Kultur- oder Willensnation? 51<br />

die Paulskirchenverfassung an den restaurativen Gegenkräften. Zentrale Elemente<br />

finden aber in die Preußische Verfassungsurkunde von 1850 Eingang.<br />

Die revidierte Verfassung gewährleistet die (staats-) bürgerliche Gleichheit<br />

ebenso wie die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften –unabhängig<br />

von der Zugehörigkeit zu einer best<strong>im</strong>mten Religion. Das Christentum wird jedoch<br />

Staatsreligion: Das Staats- und Gesellschaftsleben ist als christlich festgeschrieben<br />

(Durchführung der Sonntagsruhe, christliche Feiertage oder christliche Militärseelsorge).<br />

Die eigentümliche Schwebelage zwischen individueller Glaubensund<br />

Kultusfreiheit sowie einer spezifischen Rahmung des staatlichen und gesellschaftlichen<br />

Selbstverständnisses durch die christliche Religion ist der Orientierung<br />

der Verfassung an der französischen Charte Constitutionnelle von 1814 geschuldet.<br />

41<br />

Die Situation des Vormärzes, insbesondere die gescheiterte Revolution von<br />

1848, führt zu Maßnahmen, die nicht nur das <strong>Bildung</strong>ssystem zentralisieren: Die<br />

drei preußischen Regulative vom 1., 2. und 3. Oktober 1854 wenden sich auch dem<br />

inneren Verhältnis des Volkslebens zu: Die Kirche ist keine den anderen Faktoren<br />

vorgeordnete <strong>Bildung</strong>smacht, sondern tritt in ein Aushandlungsverhältnis mit Familie,<br />

Gemeinde und Staat ein.<br />

Die Interpretation ihrer Reichweite ist allerdings umstritten. 42 Während Peter<br />

C. Bloth in dem den Regulativen vorangestellten Lebensbegriff Einsichten aufgenommen<br />

sieht, die in der Ethik Schleiermachers als Orientierung am Elementaren<br />

vorgebildet sind, 43 weist Herwig Blankertz darauf hin, dass die Regulative jede<br />

Form von wissenschaftlich gegründeter Mündigkeit – insbesondere seitens der<br />

Lehrkräfte – aussetzen. 44 Rudolf Keck arbeitet demgegenüber die zentralisierenden<br />

Elemente einer Lehrerbildung heraus, die eine Vereinheitlichung der Ausbildung<br />

nach sich ziehe. 45 Für Silvia Schütze stellen die Regulative normative Steuerungsinstrumente<br />

dar. 46<br />

41<br />

Dreier, Säkularisierung,72–86, 80.<br />

42<br />

Blankertz, Geschichte, 162 f.<br />

43<br />

Bloth, Religion, 54–57.<br />

44<br />

Bloth macht darauf aufmerksam, dass die Regulative zumeist verkürzt wieder gegeben<br />

werden, was ihrer Rezeption als kirchlich-reaktionärem Dokument Vorschub geleistet<br />

habe. Stiehl habe sich vor allem gegen jede Form eines abstrakten Systems gewandt. A.a.O.,<br />

51.<br />

45<br />

Keck, Lehrerbildung, 206 f.<br />

46<br />

Schütze, Regulativ, 330: »Mit dem Regulativ für den Seminarunterricht verfolgte die <strong>Bildung</strong>spolitik<br />

auf dem Verwaltungswege dezidiert das Ziel, Umfang, Inhalt und Richtung<br />

der Volksschullehrerbildung in Preußen einheitlich festzulegen. Dabei wurde – als allen<br />

Unterricht durchdringende Absicht – eine klare gesinnungsethische Ausrichtung der Zöglinge<br />

angestrebt. Methodisch wurde vor allem auf Vorbild und Nachahmung gesetzt, wobei<br />

als Lehrmittel zum einen die Lese- und Rechenbücher der Volksschulen, zum anderen die<br />

wesentlichen Lehrbücher der evangelischen Kirche sowie eine eigens noch zu verfassende<br />

Schulkunde angeführt wurden.«


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Satz: Lukas Hintz, Münster<br />

Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen<br />

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