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Hinz&Kunzt_352_Juni

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Das Hamburger<br />

Straßenmagazin<br />

Seit 1993<br />

N O <strong>352</strong><br />

<strong>Juni</strong>.22<br />

2,20 Euro<br />

Davon 1,10 Euro für<br />

unsere Verkäufer:innen<br />

Küstenstadt<br />

Hamburg<br />

Klimawandel: Wenn der<br />

Meeresspiegel steigt


Editorial<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />

Unser Autor Jochen<br />

Harberg (Mitte) traf auf<br />

Sylt den Obdachlosen<br />

Matthias (rechts)<br />

und Sozialarbeiter<br />

Jan Klein.<br />

Liebe Leserin, lieber Leser,<br />

Sie können aufatmen: Bei einer Erderwärmung um drei Grad gegenüber<br />

dem vorindustriellen Niveau würde der Michel nicht zum Leuchtturm<br />

degradiert, wie unser Titel suggeriert. Das ist völlig übertrieben.<br />

Unser Wahrzeichen stünde nach wie vor im Trockenen. Allerdings<br />

wäre ein großer Teil der Michel wiese überschwemmt. Das zumindest<br />

geht aus einem Szenario hervor, das ein Forschungsteam der Universität<br />

Princeton (USA) im vergangenen Jahr entworfen hat. Für unseren<br />

Magazinschwerpunkt Küste haben wir daher mal genauer<br />

geschaut was passiert, wenn sich Hamburg nicht besser gegen Hochwasser<br />

wappnet. Denn unser Titelbild ist zwar Satire, aber trotzdem<br />

l eider brandaktuell. Just vermeldet die Genfer Weltwetterorganisation<br />

WMO, dass wir die 1,5-Grad-Marke mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

schon bis 2026 ein Mal im Jahresdurchschnitt reißen werden. Zur<br />

Erinnerung: Das Pariser Klimaabkommen sieht vor, den globalen<br />

Temperaturanstieg um möglichst 1,5 Grad zu begrenzen – bis zum<br />

Jahr 2100! Wenn die Erderwärmung in diesem Tempo weitergeht,<br />

ist ein überfluteter Michel noch unser geringstes Problem.<br />

Nach Wesselburen im Kreis Dithmarschen könnten Sie beim<br />

Erreichen der 3-Grad-Marke übrigens tauchen, und auch Sylt wäre<br />

größtenteils futsch. Beide Orte haben wir für Sie aber nicht in Sachen<br />

Klimawandel besucht: In der 3550-Seelen-Stadt Wesselburen<br />

leben viele Menschen aus Rumä nien. Wir wollten wissen, ob und wie<br />

ihre Integration gelingt. Und auf der „Insel der Reichen“ haben wir<br />

den Obdachlosen Matthias getroffen.<br />

Berührend ist auch die Geschichte über Cornelius Bless. Inzwischen<br />

ist der Mann, der mit einer Laterne und philosophischen Sinn sprüchen<br />

ausgerüstet durch Hamburger Kneipen zog, im Hospiz verstorben.<br />

Vorher durften wir ihn noch auf seiner letzten Reise mit dem<br />

„Wünschewagen“ begleiten.<br />

<br />

Viel Freude beim Lesen!<br />

Ihre Annette Woywode<br />

Schreiben Sie uns an: briefe@hinzundkunzt.de<br />

FOTOS SEITE 2: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

TITELBILD: CLAUDIODIVIZIA/DREAMSTIME.COM; BILDBEARBEITUNG: CLAASLOGEMANN.DE<br />

2


Inhalt <strong>Juni</strong> 2022<br />

Stadtgespräch<br />

46<br />

Traumwelten von<br />

Animationskünstler<br />

Raman Djafari<br />

06 Wohnen wird Luxus<br />

Was tun gegen explodierende Mieten in Hamburg?<br />

10 Ein Ort von Gewalt und Zwang<br />

Das ehemalige Versorgungsheim Farmsen<br />

15 Abschied von einem Kämpfer<br />

Nachruf: Der Boxer und Kneipier Jürgen Blin ist tot.<br />

32 Keine Hilfe, sondern Gift<br />

Zahlen des Monats: Altkleider in Afrika<br />

34<br />

Cornelius Bless’<br />

letzte Reise mit dem<br />

Wünschewagen<br />

Küste<br />

18 Klimawandel in Hamburg: Wasser kommt!<br />

Wie begegnet die Stadt einem steigenden Meeresspiegel?<br />

24 Zusammen sind wir stark?<br />

In Dithmarschen leben viele Menschen aus Rumänien.<br />

28 Sylt ganz unten<br />

Matthias lebt wohnungslos auf der „Insel der Reichen“.<br />

Lebenslinien<br />

34 Laternenmanns Vermächtnis<br />

Cornelius Bless’ letzte Reise mit dem Wünschewagen<br />

Freunde & Internes<br />

40 „Die Seele von Hinz&<strong>Kunzt</strong>“<br />

Vertriebskollege Sigi Pachan geht in Rente.<br />

42 Den Faden nicht verlieren<br />

Barbara Engelke hilft Frauen in Brasilien und damit Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />

10<br />

Einst Versorgungsheim,<br />

bald Wohngebiet<br />

mit Gedenkort<br />

24<br />

Zusammenarbeit in<br />

Dithmarschen<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

46 „Ich bin nicht präzise – ich bin diffus“<br />

Der Animationskünstler Raman Djafari<br />

50 Kurz und bündig<br />

Filme zum Thema „Wohnen und Leben“ beim Kurzfilmfestival<br />

52 Tipps für den <strong>Juni</strong><br />

56 Gartenkolumne: Die feine Frau Wildbiene<br />

58 Momentaufnahme: Hinz&Künztlerin Madina<br />

Rubriken<br />

04 Gut&Schön<br />

14 Meldungen<br />

44 Buh&Beifall<br />

57 Rätsel, Impressum<br />

Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk


FOTO: WALLS CAN DANCE


Ein Herz für Wohnungssuchende<br />

Im März 2021 eröffnete der Verein Jugendhilfe in Harburg ein Wohnhaus<br />

für Menschen, die es auf dem Wohnungsmarkt besonders schwer haben.<br />

Mittlerweile sind 73 sogenannte vordringlich Wohnungssuchende, die<br />

durch eine freiwillige Sozialberatung unterstützt werden, in den Neubau<br />

eingezogen. Dieser wird von nun an mit einem 160 Quadratmeter großen<br />

Street-Art-Gemälde des Künstlers Millo geschmückt. „Für mich öffnet<br />

die Figur auf dem Bild ihr Herz für Wohnungssuchende“, sagt Lukas<br />

Grellmann, einer der Initiator:innen des Urban Art Institute Hamburg.<br />

Damit passe es gut zum Haus mit seinem Ziel, ein Zuhause für Menschen<br />

ohne gesicherten Wohnraum zu schaffen. Street-Artists haben für das<br />

Projekt „Walls can Dance“ schon 13 Harburger Fassaden bemalt. LG<br />


Wohnen wird Luxus<br />

Die Mieten in Hamburg steigen weiter – trotz Mietpreisbremse<br />

und Mietenspiegel. Die Politk muss nachbessern.<br />

TEXT: JONAS FÜLLNER<br />

6


Der Mietenspiegel als Preisspirale<br />

Alle zwei Jahre wird in Hamburg ein neuer Mietenspiegel erstellt, der je nach Wohnlage und<br />

Baujahr die ortsübliche Vergleichsmiete ausweist. Demnach kann die Kaltmiete für eine gut<br />

ausgestattete und gut gelegene 70-Quadratmeter-Altbauwohnung bis zu 1050 Euro pro Monat<br />

betragen. Für eine gleich große Wohnung aus den 1970er-Jahren zahlt man hingegen<br />

keine 450 Euro. Je nach Baujahr und Lage steigen die Mieten unterschiedlich schnell.<br />

Für ganz Hamburg lässt sich innerhalb der vergangenen 20 Jahre allerdings ein Anstieg von<br />

fast 60 Prozent beobachten. Der resultiert unter anderem daraus, dass der Senat einst<br />

festgelegt hat, keine Bestandsmieten mit alten, teilweise noch sehr günstigen Mieten in die<br />

Erhebung einfließen zu lassen, sondern nur Mieterhöhungen und immer teurer werdende Neuver<br />

mie tungen. Mietervereine sind trotzdem froh, dass es überhaupt einen Mietenspiegel gibt.<br />

Wollten sich Mieter:innen in den 1970er-Jahren gegen zu hohe Mieten wehren, mussten teure<br />

Gutachten erstellt werden, deren Kosten die Verlierer:innen des Verfahrens trugen. JOF<br />

Vorbildlich: die Seestadt Aspern in Wien<br />

FOTO: DANIEL HAWELKA<br />

H<br />

ohe Bauten. Dicht an<br />

dicht. Daneben ein futuristischer<br />

Spielplatz,<br />

Fahrradwege und ein Badesee,<br />

in dem sich die Sonne spiegelt.<br />

Was im ersten Moment einer Werbung<br />

für die Hafencity ähnelt, ist in Wirklichkeit<br />

ein Blick auf Europas größtes<br />

nachhaltiges Neubauprojekt: die Seestadt<br />

Aspern in Wien. 80 Prozent des<br />

Wohnungsbaus werden dort gefördert<br />

– in Hamburg in der Regel ein Drittel.<br />

Die Gewerbeflächen mieten nicht große<br />

Konzerne, sondern die Stadt verpachtet<br />

sie nach den Bedürfnissen der<br />

Bewohner:innen. Diese können sich<br />

jederzeit kostenlos Fahrräder leihen.<br />

Mit diesen Ansätzen und zugleich viel<br />

Grün gilt die Seestadt Aspern als Vorbild<br />

– auch für Hamburg, findet Peter<br />

Tschentscher (SPD). Mitte Mai war<br />

Hamburgs Bürgermeister dort zu Gast<br />

und kündigte an, bei der Planung für<br />

den Grasbrook von Wien zu lernen.<br />

7


Begrünte Fassaden<br />

und breite Fuß- und<br />

Radwege in der<br />

Seestadt Aspern<br />

In Hamburgs neuestem Stadtteil hat die<br />

Verwaltung, wie auch beim Beispiel aus<br />

Wien, weiterhin die Hand am Steuer.<br />

Wie wichtig das ist, zeigt sich in Altona:<br />

Beim Holsten-Quartier ließ die Stadt<br />

vor sechs Jahren ihr Vorkaufsrecht verstreichen.<br />

Das Areal wurde zum Spekulationsobjekt.<br />

Durch mehrere Verkäufe<br />

soll der Preis von 150 auf 320 Millionen<br />

Euro geklettert sein. Am Ende der Preisleiter<br />

steht jetzt ein Investor in finanzieller<br />

Schieflage. Der Bau von rund 1200<br />

Wohnungen droht zu scheitern.<br />

Trotz hoher Preise müsse die Stadt<br />

zuschlagen, wenn sich die Möglichkeit<br />

zum Rückkauf bietet, sagt Rolf Bosse.<br />

Der 46-Jährige ist neuer Vorsitzender<br />

des Mietervereins zu Hamburg. Er sagt:<br />

„Hamburg braucht eine aggressive Zukaufpolitik.<br />

Wir müssen auf dem Wohnungsmarkt<br />

wieder Boden gewinnen.“<br />

Mehr Flächen für den Wohnungsbau<br />

wünscht sich auch der Bundesverband<br />

deutscher Wohnungsunternehmen.<br />

Das Ziel, 10.000 Wohnungen in<br />

Hamburg jährlich zu bauen, sei ansonsten<br />

„absolut illusorisch“, klagt Vorstand<br />

Axel Gedaschko. Der Krieg gegen die<br />

Ukraine habe zu Baupreissteigerungen<br />

und Lieferengpässen geführt.<br />

Rolf Bosse (links) ist neuer Vorstand des Mietervereins zu Hamburg. Der gebürtige Hamburger<br />

Axel Gedaschko vertritt den Bundesverband deutscher Wohnungsunternehmen.<br />

Mietanwalt Bosse fordert, diese Entwicklungen<br />

dürften nicht zu teuren<br />

Mieten führen. Er geht davon aus, dass<br />

die steigenden Energiekosten im Herbst<br />

zu hohen Nachzahlungen führen werden.<br />

Das bereitet Susanne Möller (Name<br />

geändert) Sorgen. Die Rentnerin lebt in<br />

einem Altbau in Eimsbüttel. Weil sie als<br />

Alleinerziehende nicht immer Vollzeit<br />

beschäftigt war, frisst inzwischen allein<br />

die Kaltmiete allmählich ihre Rente<br />

auf. Mit ihrem Vermieter liegt sie im<br />

Rechtsstreit. Gegen dessen regelmäßige,<br />

an den Mietenspiegel angepasste<br />

Mieterhöhungen ist sie aber machtlos.<br />

Deswegen jobbt sie wieder. „Ich hatte<br />

mir das schon anders vorgestellt. Wegen<br />

Mieterhöhungen putzen zu gehen, ist<br />

schon sch…“ Sie macht eine Pause und<br />

schiebt dann ein „schade“ hinterher.<br />

Mietanwalt Bosse fordert deshalb<br />

Transparenz ein. „Es darf ja Geld verdient<br />

werden, aber nicht so, dass Wohnraum<br />

für Spekulanten attraktiv ist.“ Wenn<br />

alle Kosten der Vermie ter:innen von<br />

Versicherungen bis hin zu Baukosten<br />

offenlägen, werde deutlich, ob Mieterhöhungen<br />

gerechtfertig sind oder nicht.<br />

Ein Blick in die Bilanz des börsennotierten<br />

Wohnungskonzerns Akelius<br />

zeigt, dass dessen Hamburger Mieten<br />

innerhalb von drei Jahren um etwa<br />

14 Prozent gestiegen sind. Anschließend<br />

wurde der Bestand an das Unter-<br />

FOTOS: DANIEL HAWELKA (OBEN), IMKE LASS (S. 8 UNTEN LINKS),<br />

NILS HASENAU FOTOGRAFIE (S. 8 UNTEN RECHTS)<br />

8


LiebLingspLätze<br />

Mit AURO<br />

nAtURfARben<br />

gefärbt<br />

Mietpreisbremse ohne Wirkung<br />

Laut der seit 2017 gültigen Mietpreisbremse<br />

dürfen Vermieter:innen bei der Neuvermietung von<br />

Wohnungen die Miete maximal 10 Prozent über die<br />

ortsübliche Vergleichsmiete anheben. Die liegt laut<br />

Mietenspiegel im Schnitt bei 9,29 Euro pro Quadratmeter.<br />

Bei Neuvermietungen kostet der Quadratmeter<br />

allerdings aktuell mehr als 14 Euro kalt. Schuld sind<br />

zahlreiche Lücken in der Regelung: Neubauten und<br />

umfassend sanierte und möblierte Wohnungen<br />

sind ausgenommen. Zudem droht Vermieter:innen<br />

bei einem Verstoß nicht einmal ein Bußgeld. JOF<br />

Stabil, flexibel und echte Hingucker:<br />

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nehmen Heimstaden veräußert. Dass es auch anders<br />

geht, zeigt die städtische Saga. Aktuell liege man im<br />

Schnitt um 30 Prozent unter der erlaubten Summe<br />

des Mietenspiegels, sagt ein Sprecher gegenüber<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>. „Um die Mietentwicklung sozial verträglich<br />

auszugestalten, schöpfen wir die mietrechtlichen<br />

Möglichkeiten nicht aus.“<br />

Auf dem freien Wohnungsmarkt hingegen ergeht<br />

es vielen wie Susanne Möller. Besonders die<br />

Preise bei Neuvermietungen explodieren. Sie liegen<br />

aktuell im Schnitt um mehr als 50 Prozent über dem<br />

Mietenspiegel. Wäre da nicht ein vorübergehender<br />

Verzicht auf Mieterhöhungen eine Lösung?<br />

Heimstaden, der neue große Player auf Hamburgs<br />

Wohnungsmarkt, ist nicht abgeneigt. Man überlege,<br />

eine freiwillige Begrenzung der Miete einzuführen,<br />

teilt ein Sprecher auf Nachfrage mit. •<br />

jonas.fuellner@hinzundkunzt.de<br />

9


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Ein Ort von<br />

Gewalt und Zwang<br />

Auf dem Areal des ehemaligen Versorgungsheims Farmsen soll ein<br />

Wohngebiet entstehen – und ein Gedenkort an die Zwangsunterbringung mittelloser<br />

Menschen. Ein Rundgang mit der Historikerin Frauke Steinhäuser.<br />

TEXT: FRANK KEIL<br />

FOTOS: DMITRIJ LELTSCHUK<br />

45 Jahre hat er im Versorgungsheim<br />

Farmsen leben müssen: der Hafenarbeiter<br />

Willy Böhme, geboren 1899.<br />

Immer wieder ist er arbeitslos, trinkt zu<br />

viel. 1931 wird er von der damaligen<br />

Trinkerfürsorge in Farmsen eingewiesen,<br />

fünf Jahre später – inzwischen regieren<br />

die Nationalsozialisten – wird er<br />

zwangssterilisiert. Als er ein Jahr später<br />

seine Entlassung beantragt, entmündigt<br />

man ihn. Gutachter ist der damalige<br />

Anstaltsarzt Hans Buchta. Als Böhmes<br />

Zwangsunterbringung 1960 gerichtlich<br />

überprüft werden muss, erneuert er sein<br />

Gutachten: Mittelweile ist er leitender<br />

Oberarzt. Eine unabhängige Prüfung<br />

findet nicht statt.<br />

Ein eigenes Leben außerhalb des<br />

Heims kann sich Willy Böhme da<br />

schon nicht mehr vorstellen. Nur<br />

einmal beantragt er einen Gutschein<br />

für einen Ausgehanzug. Zwei Jahre<br />

später erinnert er höflich daran, dass<br />

er noch keine Antwort auf seine Bitte<br />

bekommen habe.<br />

Böhmes Schicksal hat die Historikerin<br />

Frauke Steinhäuser anhand von<br />

Fürsorgeakten sorgsam recherchiert. Ihr<br />

Auftrag: für die Träger „Fördern &<br />

Wohnen“ und „Pflegen & Wohnen“ die<br />

Geschichte der ehemaligen Hamburger<br />

Wohlfahrtsanstalten zu erforschen, zu<br />

denen das Versorgungsheim Farmsen<br />

an der August-Krogmann-Straße gehört.<br />

Denn Fördern & Wohnen hat hier<br />

große Teile seiner Grundstücke mitsamt<br />

denkmalgeschützter Gebäude an das<br />

städtische Wohnungsbauunternehmen<br />

Saga verkauft. Neue Wohnungen sollen<br />

entstehen, vornehmlich für Familien.<br />

Zugleich soll ein Lern- und Erinnerungsort<br />

von der Geschichte der Wohlfahrtsanstalten<br />

im Nationalsozialismus<br />

erzählen. Auch dafür soll Frauke Steinhäuser<br />

konkrete Empfehlungen erarbeiten.<br />

Und so trifft sich seit einigen<br />

Monaten eine kleine Arbeitsgruppe aus<br />

Historiker:innen und Geschichtsinteressierten,<br />

um darüber zu beraten.<br />

Wir queren einen kleinen Park, biegen<br />

in die erste Straße ab: „Im Versorgungsheim<br />

Farmsen lebten nur Menschen,<br />

die Fürsorgezahlungen erhielten.<br />

Viele waren zwangseingewiesen, andere<br />

hätten außerhalb des Heims keine Unterstützung<br />

bekommen“, sagt Frauke<br />

Steinhäuser. „Es waren alles Menschen,<br />

die arm waren.“ Wohnungs- und Arbeitslose,<br />

Bettler:innen, Alkoholkranke<br />

oder Prostituierte – oder wen man dafür<br />

hielt. Es ging um Menschen, die es<br />

aus der Bahn geworfen hatte; um Menschen,<br />

denen man zugleich misstraute.<br />

Farmsen ist damals noch ein Dorf.<br />

„Das Versorgungsheim wird ab<br />

1903 erbaut, als Ableger des ‚Werkund<br />

Armenhauses Barmbek‘ mit Sitz<br />

in der Oberaltenallee bei der Mundsburg“,<br />

berichtet die Historikerin.<br />

Anfangs gibt es zwei mehrstöckige<br />

Männerhäuser und ein Frauenhaus,<br />

doch schnell kommen weitere Gebäude<br />

hinzu. Geplant ist das Heim für rund<br />

400 Personen. Zehn Jahre später sind<br />

bereits 1000 Menschen untergebracht.<br />

Das Gelände ist mit einem zwei Meter<br />

hohen, mit Stacheln bewehrten Eisen­<br />

Historikerin Frauke Steinhäuser<br />

erforscht die Geschichte des ehemaligen<br />

„Versorgungsheims Farmsen“ und<br />

er arbeitet Ideen für einen Gedenkort.<br />

Links: der historische Wasserturm


In den Kellern des renovierten Backsteinbaus befanden sich Arrestzellen.<br />

zaun gesichert. Ohne Erlaubnis darf<br />

man es nicht verlassen. Es besteht eine<br />

Arbeitspflicht, etwa in der anstaltseigenen<br />

Wäscherei, in der Tütenkleberei, in<br />

der Bäckerei, Schlachterei und in der<br />

300 Hektar großen Gärtnerei. Dabei<br />

bekommen die Menschen von dem,<br />

was sie erwirtschaften, nur einen geringen<br />

Teil als Lohn.<br />

„Die Menschen<br />

waren hier gegen<br />

ihren Willen eingesperrt.“<br />

FRAUKE STEINHÄUSER<br />

In den Jahren der Weimarer Republik<br />

gibt es durchaus zaghafte Ansätze für<br />

Reformen, um das Anstaltsleben angenehmer<br />

zu gestalten: Es gibt einen Festsaal<br />

und ein Kino. Eine Anstaltszeitung<br />

erscheint. Vorsichtige Bemühungen sollen<br />

die Bewohner:innen zurück in den<br />

normalen Arbeitsmarkt führen. „Doch<br />

spätestens ab 1933 will man die Menschen<br />

hier nur noch so kostengünstig wie<br />

möglich aufbewahren, will sie wegsperren;<br />

will ihre Arbeitskraft ausnutzen,<br />

auch um sie zu disziplinieren“, erzählt<br />

Steinhäuser. Die Anlage heißt jetzt offiziell<br />

„Bewahranstalt“, der Anstaltsleiter<br />

bezeichnet die Insass:innen als „bedingt<br />

zurechnungsfähiges Menschenmaterial“.<br />

Für 1938 ist nachge wiesen, dass<br />

hier 2000 Menschen leben mussten.<br />

Wir sind ein Stück weitergegangen,<br />

sind Baufahrzeugen ausgewichen, die<br />

Material zu den entstehenden Geschossbauten<br />

bringen, an denen emsig gewerkelt<br />

wird. Frauke Steinhäuser zeigt auf<br />

einen langgezogenen, mit Sprossenfenstern<br />

verzierten und renovierten Backsteinbau:<br />

„Es soll hier in den Kellern<br />

noch Arrestzellen geben; es gibt Berichte<br />

von in der NS-Zeit hier untergebrachten<br />

Frauen, die erzählen, dass sie<br />

teilweise viele Tage lang auf dem Boden<br />

liegen mussten; im Dunklen, keine<br />

Pritsche, nichts.“ Je öfter sie versuchten<br />

zu fliehen, desto länger habe die Bestrafung<br />

gedauert.<br />

„Die Menschen waren hier von Anfang<br />

an gegen ihren Willen eingesperrt,<br />

sie konnten nicht raus, sie konnten ihre<br />

12<br />

Arbeit nicht kündigen und sich eine andere<br />

suchen, sie wurden entmündigt.<br />

Man erfand medizinische Diagnosen<br />

wie ‚moralischen Schwachsinn‘, oft wurden<br />

sie auch zwangssterilisiert“, erzählt<br />

die Historikerin beim Weitergehen. Sie<br />

ergänzt: „Das Versorgungsheim Farmsen<br />

war ein Ort von Gewalt und Zwang,<br />

dabei war das hier kein KZ, das muss<br />

man klar sagen.“ Obwohl hier ab 1940<br />

das sogenannte Euthanasie-Programm<br />

der Nazis greift. Noch ist nicht abschließend<br />

erforscht, wer und wie viele Menschen<br />

von hier wohin abtransportiert<br />

wurden und dies nicht überlebten.<br />

Als im Mai 1945 das Terrorregime<br />

der Nationalsozialisten auch in Farmsen<br />

endet, kommen die Ärzt:innen und<br />

das Leitungspersonal nahezu unbehelligt<br />

davon. Die meisten von ihnen<br />

setzen ihre berufliche Laufbahn fort<br />

und machen im Nachkriegs-Hamburg<br />

Karriere. Das hat Folgen für die<br />

Bewohner:innen des weiterhin abgesperrten<br />

Areals, das man wie bisher nur<br />

mit Erlaubnis verlassen darf. „Nur<br />

wenige der Bewohner haben versucht,<br />

eine sogenannte Bemündigung zu erreichen<br />

und so ihre Entmündigung auf­


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

heben zu lassen. Ganz wenige haben<br />

auch versucht, die Zwangssterilisation<br />

rückgängig zu machen; dabei ging es<br />

weniger um den chirurgischen Eingriff,<br />

sondern es ging ihnen darum, die Diagnose<br />

‚Du bist schwachsinnig, du bist<br />

minderwertig, deswegen bist du sterilisiert.‘<br />

aufzuheben“, erzählt Frauke<br />

Steinhäuser. „Und dann saßen sie den<br />

Ärzten gegenüber, die sie vormals begutachtet<br />

hatten, und mussten sich erneut<br />

von ihnen begutachten lassen.“<br />

Zum Beispiel vom bereits erwähnten<br />

Anstaltsarzt Hans Buchta, der im Frühjahr<br />

1941 mindestens zwei Transporte<br />

in eine „Euthanasie“-Anstalt in Brandenburg<br />

begleitet hatte und wusste,<br />

wohin und worum es ging.<br />

Hat sie eine Erklärung, warum<br />

es diese personelle Kontinuität gab?<br />

Warum niemand nachgeschaut und<br />

niemand gehandelt hat? Hamburg war<br />

doch in der Nachkriegszeit über Jahrzehnte<br />

eine sozialdemokratisch regierte<br />

Stadt, hier agierte das aufgeschlossene<br />

Bürgertum. Frauke Steinhäuser denkt<br />

lange nach. „Im Versorgungsheim lebten<br />

Menschen, die schlicht keine Lobby<br />

hatten, für die sich die Bürger nicht interessierten<br />

und mit denen sie vor allem<br />

nichts zu tun haben wollten“, sagt sie<br />

Noch heute sind historische Beschriftungen<br />

auf den Gebäuden sichtbar.<br />

schließlich. Sie verweist darauf, dass es<br />

schon im Herbst 1945 in Hamburg eine<br />

Kommission gab, die entschied, dass die<br />

Menschen, die zuvor in der Nazi-Terminologie<br />

als „asozial“ im KZ inhaftiert<br />

waren, nicht als Opfergruppe anerkannt<br />

werden sollten. Tatsächlich hat dies der<br />

Deutsche Bundestag erst im Frühjahr<br />

2020 getan und ihnen so 75 Jahre nach<br />

Kriegsende Entschädigungen zugesprochen.<br />

Doch da waren die meisten<br />

Betroffenen nicht mehr am Leben.<br />

Abschließend machen wir Halt<br />

vor einem weithin sichtbaren Turm:<br />

dem Wasserturm, der in der sinkenden<br />

Sonne rötlich schimmert und sehr zentral<br />

in der Mitte des Geländes steht.<br />

Könnte man vielleicht hier den angedachten<br />

Erinnerungs- und Lernort<br />

einrichten? Wie sind überhaupt die<br />

Chancen für ein solches Projekt?<br />

„Der Wille ist klar und auch verbrieft:<br />

Wir möchten, dass die Erinnerung<br />

bleibt, was dieser Ort einmal<br />

war“, sagt Susanne Schwendtke, Sprecherin<br />

des Trägers Fördern & Wohnen<br />

per Telefon. Die Idee entstand 2019,<br />

anlässlich des Jubiläums „400 Jahre<br />

Staatliche Wohlfahrt in Hamburg“ und<br />

„aus dem Bedürfnis heraus, kritisch<br />

auf unsere eigene Geschichte zu schauen“.<br />

Mit im Boot seien sowohl der<br />

mittlerweile private Träger Pflegen<br />

& Wohnen sowie die Hamburger<br />

Sozialbehörde.<br />

„Wir hatten für den Gedenkort erst<br />

an die Remise gedacht, die am Ende des<br />

Geländes liegt“, erzählt Schwendtke.<br />

Doch das recht kleine Gebäude habe<br />

weder einen Strom- noch einen Wasseranschluss.<br />

„Wir tendieren daher zu<br />

einer Lösung in dem wirklich schönen<br />

Wasserturm. Da steht allerdings dessen<br />

künftige Gesamtnutzung noch nicht<br />

fest.“ Vielleicht wird hier eine Kita<br />

einziehen oder ein Begegnungszentrum<br />

eröffnen, dann könnte man sich die<br />

Räumlichkeiten teilen, wenn die Nutzungen<br />

zueinander passen. Und sie sagt:<br />

„Damals prangte am Turm ein riesengroßes,<br />

schmiedeeisernes Hakenkreuz.<br />

Deshalb wäre es schön, wenn nun dort<br />

Raum für die Erinnerung wäre.“ •<br />

redaktion@hinzundkunzt.de<br />

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13


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />

Meldungen<br />

Politik & Soziales<br />

Obdachlosigkeit<br />

Acht Menschen auf der Straße gestorben<br />

Zwischen Januar und Mitte Mai sind in Hamburg acht Obdachlose auf der Straße<br />

gestorben. Sie wurden unter Brücken, am Bahnhof und in der Innenstadt aufgefunden.<br />

Bei allen Toten handelt es sich um Männer. Das geht aus der Antwort auf eine<br />

Bürgerschaftsanfrage der Linken-Abgeordneten Stephanie Rose hervor. Unter den<br />

Verstorbenen ist auch Hinz&Künztler Paul. Der 36-Jährige wurde im April von einem<br />

Passanten leblos in seinem Rollstuhl in der Nähe des Hauptbahnhofs entdeckt.<br />

Auch im städtischen Winternotprogramm, das zwischen November und April einen<br />

Erfrierungsschutz für Obdachlose bot, kam es zu Todesfällen: Insgesamt fünf Menschen<br />

verstarben in den Unterkünften. Laut einer „nicht qualitätsgesicherten Auswertung“<br />

des Instituts für Rechtsmedizin am UKE ist die Gesamtzahl der verstorbenen<br />

Obdachlosen sogar noch höher: Demnach starben zwischen November und<br />

Mai insgesamt 21 Menschen im öffentlichen Raum. Im gleichen Zeitraum starben<br />

elf Obdachlose in Hamburger Krankenhäusern. Als häufigste Todesursache wurde<br />

eine akute oder chronische Lungenentzündung festgestellt, aber auch Herzerkrankungen<br />

und Infektionskrankheiten wurden bei Obduktionen nachgewiesen. SIM<br />

•<br />

Wohnungsmarkt<br />

Neubauzahlen sinken, Mieten steigen<br />

7461 Wohnungen sind vergangenes Jahr in Hamburg fertiggestellt worden,<br />

33 Prozent weniger als 2020. Das selbst gesteckte Ziel von 10.000 neuen Wohnungen<br />

im Jahr hat der Senat damit verfehlt. 2020 hatte er dieses Ziel mit 11.269<br />

fertiggestellten Wohnungen noch übertroffen. Ärgerlich für Menschen mit wenig<br />

Einkommen: Nur 1895 der gebauten Wohnungen sind Sozialwohnungen. Im<br />

Rekordjahr 2020 waren es noch 3472. Der Mieterverein zu Hamburg spricht<br />

von einem „Neubaudebakel“ und zeigt sich alarmiert. „Das darf kein jahrelanger<br />

Abwärtstrend werden, sondern muss ein einmaliger Ausrutscher bleiben!“, sagt<br />

der Vorsitzende Rolf Bosse. Bausenatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD) hingegen<br />

verteidigt die Zahlen angesichts gestiegener Grundstückspreise und hoher Baukosten:<br />

„7500 neue, bezugsfertige Wohnungen sind ein stattliches Ergebnis und<br />

ein schöner Erfolg der gemeinsamen Anstrengungen von Freien Wohnungsunternehmen,<br />

Genossenschaften und der Saga sowie der Bezirke.“ Parallel dazu steigen<br />

die Mieten in Hamburg weiter. Laut Untersuchung des Gymnasiums Ohmoor<br />

sind aktuell angebotene Wohnungen um 6,3 Prozent teurer als im Vorjahr. LG<br />

•<br />

Postadressen und Konten<br />

Niedrigschwellige Hilfsangebote sollen ausgebaut werden<br />

SPD und Grüne wollen das Angebot an Postadressen und Geldkonten für<br />

Obdachlose besser bewerben – und überprüfen, ob es weiter ausgebaut werden<br />

muss. Das sieht ein Antrag vor, den die Bürgerschaft mit Mehrheit beschlossen<br />

hat. Für Betroffene ist beides wichtig für den Alltag auf und den Weg runter<br />

von der Straße. Tagesaufenthaltsstätten für obdachlose Menschen bieten<br />

sowohl Postadressen als auch Geldkonten an, kommen aber schon lange an ihre<br />

Grenzen. Im Gespräch sind deshalb zusätzliches Personal und Räumlichkeiten.<br />

Bis Ende Oktober soll der Senat über sein Vorgehen berichten. LG<br />

•<br />

Nahverkehr<br />

HVV umsonst<br />

Hamburger Leistungsbezieher:innen<br />

können vom 1. <strong>Juni</strong> bis zum 31. August<br />

Busse und Bahnen des Nahverkehrs<br />

umsonst nutzen – und das in<br />

ganz Deutschland. Die Sozialbehörde<br />

übernimmt in diesem Zeitraum für<br />

alle Abonnent:innen, die Anspruch<br />

auf den HVV-Sozialrabatt haben, die<br />

Kosten für das Monats ticket. Davon<br />

können alle profitieren, die existenzsichernde<br />

Leistungen erhalten – etwa<br />

Hartz IV oder Leistungen nach dem<br />

Asylbewerberleistungsgesetz. In Hamburg<br />

sind das mehr als 200.000 Menschen.<br />

Derzeit nutzen laut Behörde etwa<br />

46.000 Personen den Sozialrabatt,<br />

überwiegend im Rahmen von Abos.<br />

Alle anderen können gemäß HVV ein<br />

Abo mit Antragsformular und Ausweis<br />

am Schalter abschließen. BELA<br />

•<br />

Infos: www.huklink.de/hvv-umsonst<br />

Inflation<br />

Krisenfeste Grundsicherung<br />

Angesichts von Coronapandemie<br />

und Preisanstiegen bei Energie und<br />

Nahrungsmitteln fordert die Diakonie<br />

Deutschland eine an die Inflation<br />

angepasste Grundsicherung und eine<br />

fest in den Sozialgesetzbüchern verankerte<br />

Regelung für soziale Notlagen.<br />

Einmalzahlungen, wie sie von der<br />

Ampel-Koalition beschlossen wurden,<br />

sieht der Verband kritisch. „Diese<br />

ewigen Einmal- und Bonuszahlungen<br />

haben etwas von Almosen“, sagt<br />

Diakonie-Vorständin Maria Loheide.<br />

Kurzfristig schlägt die Diakonie vor,<br />

Betroffene ein halbes Jahr lang mit<br />

mindestens 100 Euro zusätzlich im<br />

Monat zu unterstützen. LG<br />

•<br />

Mehr Infos und Nachrichten unter:<br />

www.hinzundkunzt.de<br />

14


Der Boxer Jürgen Blin ist tot. Für viele Hinz&Künztler:innen<br />

war seine Kneipe wie ein Wohnzimmer.<br />

TEXT: SIMONE DECKNER<br />

FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA/JENS RESSING<br />

Legende<br />

im Ring und<br />

hinter seinem<br />

Tresen:<br />

Jürgen Blin<br />

Abschied von einem Kämpfer<br />

Es ist schwierig, ein Foto von Jürgen Blin zu finden,<br />

auf dem er die Hände nicht zu Fäusten geballt<br />

vor den Körper hält. Flossen hoch, das war – frei<br />

nach Showmaster Robert Lembke – seine typische<br />

Handbewegung. Heute würde man wohl von seinem „Signature<br />

Move“ sprechen. Jürgen Blin war Boxer. Ein ziemlich<br />

erfolgreicher sogar: 1962 Hamburger Meister, 1964<br />

Deutscher Amateurmeister im Schwergewicht, 1972 Europameister<br />

bei den Profis. Von 48 Profikämpfen gewann er<br />

30. Berühmt aber wurde Blin durch eine Niederlage:<br />

Am 2. Weihnachtstag 1971 unterlag er in Zürich Muhammad<br />

Ali. „The Greatest“ streckte ihn mit einem K. o. in Runde<br />

sieben nieder. Der Ruhm war Blin trotzdem sicher, als einer<br />

von nur zwei Deutschen, die je gegen Ali angetreten waren.<br />

„Die Geschichte mit Ali durften wir uns täglich anhören“,<br />

erinnert sich Hinz&Künztler Chris, „da war er richtig<br />

stolz drauf.“ Nach seiner Karriere eröffnete der Boxer zwei<br />

Imbisse und eine Kneipe. Die „Jürgen Blins Bier- und<br />

Snackbar“ am Südsteg zur U3 im Hauptbahnhof war Zeit<br />

ihres Bestehens zwischen 1978 und 2012 für viele<br />

Hinz&Künzt ler:innen ein beliebter Treffpunkt. „Das war<br />

mein Wohnzimmer“, sagt Chris, „das war Familie.“ Geknobelt<br />

wurde eigentlich immer. Blin spielte gern gegen seine<br />

Gäste, auch mit hohem Einsatz. Wenn nicht die Würfel rollten,<br />

lockten zwei Spielautomaten. „Sein Lieblingsspruch zu<br />

uns war immer: ‚Der Automat ist heiß.‘“, erzählt Chris.<br />

Ex-Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Vertriebskollege Frank Belchhaus war<br />

gut mit Blin befreundet. „Er war ein Menschenfreund“, sagt<br />

er, stets auf Augenhöhe. „Bei ihm war jeder willkommen:<br />

vom Kaputtesten bis hin zu Leuten, die Geld hatten.“<br />

Als seine langjährige Servicekraft plötzlich starb, fuhr Blin<br />

bis nach Polen zur Beerdigung. „Er hat nicht einfach einen<br />

Kranz geschickt. Es war ihm wichtig, persönlich die letzte<br />

Ehre zu erweisen“, so Belchhaus.<br />

Obwohl Blin von 6.30 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts in<br />

seiner Kneipe stand, trank er nur ganz selten. Mal einen<br />

Kümmel vielleicht. „Faszinierend, wie er das in der heftigsten<br />

Raucherhöhle hinbekommen hat“, sagt Arne Körner.<br />

Der Hamburger Filmemacher drehte als Student einen<br />

Kurzfilm über Blin. Wichtiger als die Kneipe war Jürgen<br />

Blin aber seine ehrenamtliche Arbeit als Boxtrainer für<br />

sogenannte Problemjugendliche in Jenfeld. Womöglich erkannte<br />

er in den jungen Kerlen sich selbst. Aufgewachsen in<br />

ärmlichen Verhältnissen, musste er schon früh seinem Vater,<br />

einem Melker, bei der Arbeit helfen. Der Vater trank und<br />

schlug ihn. In der Schule wurde Blin gehänselt. Mit knapp 15<br />

Jahren büxte er aus und heuerte in Hamburg als Schiffsjunge<br />

an, machte später eine Metzgerlehre. Nur einem Zufall ist es<br />

zu verdanken, dass Jürgen Blin zum Boxen kam: Gegenüber<br />

der Metzgerei befand sich eine Boxschule. Der Rest ist<br />

Geschichte. Der Boxer Jürgen Blin starb am 7. Mai 2022 im<br />

Alter von 79 Jahren an den Folgen einer Nierenerkrankung. •<br />

simone.deckner@hinzundkunzt.de<br />

Kurzfilm über Jürgen Blin<br />

„Der Einzelkämpfer“ ist kostenlos zu streamen unter<br />

www.huklink.de/juergen-blin<br />

15


FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE


Von Hamburg bis<br />

an die Nordseeküste<br />

Die Küste könnte schon bald näher an Hamburg rücken, als es<br />

heute vorstellbar ist. Doch die Stadt wappnet sich gegen Szenarien,<br />

nach denen Wellen künftig bis auf den Altonaer Balkon schlagen<br />

könnten (S. 18). In Wesselburen, nahe der Nordseeküste, leben viele<br />

Rumän:innen. Wie klappt das Zusammenleben im Ort (S. 24)?<br />

Matthias weiß, was es heißt, nicht zu den „Schönen und Reichen“<br />

zu gehören. Bis vor Kurzem lebte er obdachlos auf Sylt (S. 28).


18<br />

Mit dem Alsterdampfer<br />

direkt zum Rathaus:<br />

Bei 3 Grad Erderwärmung kein<br />

unrealistisches Szenario


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Küste<br />

Wasser kommt!<br />

Der Meeresspiegel steigt unausweichlich.<br />

Wir werden in Hamburg künftig anders mit dem Wasser<br />

leben müssen. Die Frage ist bloß: Wie?<br />

TEXT: BENJAMIN LAUFER<br />

ILLUSTRATIONEN: WWW.BACHMANN-ILLUSTRATION.DE<br />

Die Nordseewellen branden<br />

an die Steilküste über dem<br />

ehemaligen Fischmarkt,<br />

Gischt spritzt bei Südwind<br />

bis hoch zum Altonaer Balkon. Von<br />

hier aus kann man das gegenüberliegende<br />

Ufer der Elbemündung auch bei<br />

gutem Wetter nur erahnen – bis rüber<br />

zu den Harburger Bergen erstreckt sich<br />

das raue Wasser. Das Alte Land, Finkenwerder,<br />

Wilhelmsburg, die Veddel,<br />

die Vier- und Marschlande, der Hamburger<br />

Hafen – längst von den Fluten,<br />

die der Klimawandel mit sich brachte,<br />

fast komplett verschluckt.<br />

Klingt wie aus einem Science-Fiction-Roman?<br />

Ist aber ein Szenario, dass<br />

ein Forschungsteam der Universität<br />

Princeton (USA) im vergangenen Jahr<br />

aufgestellt hat, für den Fall, dass sich die<br />

durchschnittliche Temperatur wie vorhergesagt<br />

weiter erhöht, das Polareis<br />

schmilzt und die Meeresspiegel entsprechend<br />

ansteigen. Allerdings: Küstenschutzmaßnahmen<br />

sind auf den eindrucksvollen<br />

Karten vom „Climate<br />

Central“ nicht berücksichtigt. Aber<br />

werden die Deiche halten?<br />

Vor 10.000 Jahren konnte man<br />

noch zu Fuß von Hamburg nach London<br />

laufen. Doch nach den Eiszeiten<br />

stieg der Meeresspiegel immer weiter<br />

an – um insgesamt 120 Meter. Mit<br />

ersten Deichen wehrten sich die Menschen<br />

in Nordfriesland seit dem Mittelalter<br />

gegen das steigende Wasser.<br />

Je höher die Deiche wurden und je<br />

mehr man sich hinter ihnen in Sicherheit<br />

fühlte, desto verheerender waren<br />

die Katastrophen, wenn sie brachen:<br />

Sturmfluten wie die „Grote Mandränke“<br />

1362 überfluteten riesige Gebiete<br />

zwischen den heutigen nordfriesischen<br />

Inseln und kosteten Tausende Menschenleben.<br />

Der heutige Küstenverlauf<br />

ist im Wesentlichen das Ergebnis von<br />

Naturkatastrophen und dem Versuch<br />

der Menschen, sich dagegen zu wehren.<br />

Die Forscher:innen aus Princeton<br />

schreiben, dass der weiter steigende<br />

„Man kann<br />

jeden Deich<br />

erhöhen.“<br />

FRANK NOHME<br />

Meeresspiegel nie dagewesene Küstenschutzmaßnahmen<br />

erfordern wird und<br />

Menschen weltweit Großstädte in Meeresnähe<br />

verlassen werden müssen. Für<br />

die Nordsee prognostizieren sie langfristig<br />

einen Anstieg um knapp 3 Meter,<br />

sollte die Temperatur um 1,5 Grad im<br />

Vergleich zum Jahr 1850 ansteigen. Bei<br />

3 Grad könnte es sogar auf fast 6 Meter<br />

hinauslaufen. Das ist das Szenario, auf<br />

dem die Illustrationen zu diesem Text<br />

beruhen – denn dass die Erderwärmung<br />

wirklich auf 1,5 Grad begrenzt<br />

werden kann, gilt als ausgesprochen unwahrscheinlich.<br />

Laut einer aktuellen<br />

19


Küste<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />

20<br />

Der „Park Fiction“ vor<br />

der St. Pauli Kirche, wenn das<br />

Wasser um 6 Meter steigt


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Küste<br />

Was der Anstieg des Meeresspiegels<br />

weltweit verursacht<br />

So dramatisch die Prognosen für die Nordseeküste auch sind: Weltweit drohen<br />

noch viel schlimmere Katastrophen. Auf der Liste der 20 Länder, die am stärksten<br />

betroffen sein werden, taucht Deutschland gar nicht auf. Insbesondere in Asien<br />

liegen viele Großstädte unterhalb des künftigen Meeresspiegels. Steigt die<br />

Temperatur um 3 Grad, werden der Prognose zufolge in Vietnam 61 Prozent der<br />

Bevölkerung von Überflutungen betroffen sein. In Bangladesch trifft es 59 Prozent,<br />

in Thailand 34 Prozent. In Europa werden die Menschen in Großbritannien<br />

(11 Prozent), Spanien (8,3 Prozent) und Italien (7,4 Prozent) am meisten unter<br />

dem Meeresspiegelanstieg leiden.<br />

Prognose der UN-Weltwetterorganisation<br />

könnte die Marke sogar schon 2026<br />

gerissen werden. Und selbst wenn es in<br />

der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gelänge,<br />

die Temperaturen wieder etwas<br />

zu senken: Der Meeresspiegel würde<br />

trotzdem weiter steigen, und zwar für<br />

Jahrhunderte oder gar Jahrtausende,<br />

warnen Forscher:innen des Weltklimarates<br />

IPCC in ihrem aktuellen Bericht.<br />

Bislang sieht man sich in Hamburg<br />

auf der sicheren Seite – nämlich hinter<br />

dem Deich. Seit der schweren Sturmflut<br />

von 1962 hat die Stadt ihre Schutzwälle<br />

mehrfach erhöht. Bis 2050 will<br />

man bei 8,10 Meter sein – und auch für<br />

das Jahr 2100 werden schon Pläne vorbereitet.<br />

Derzeit geht man davon aus,<br />

dass der Meeresspiegel bis dahin zunächst<br />

um 1 Meter ansteigt. Und danach?<br />

Frank Nohme, Deichexperte aus<br />

dem Hochwasserschutzmanagement in<br />

der Umweltbehörde, hält die Prognose<br />

vom Climate Central durchaus für realistisch.<br />

„Uns beschäftigt das sehr stark,<br />

der Meeresspiegel steigt an, das ist nicht<br />

mehr zu verhindern“, sagt er.<br />

Trotzdem ist Nohme ein Experte,<br />

der zuversichtlich in die Zukunft blickt.<br />

Technisch, sagt er, könne man sich<br />

problemlos gegen den Wasseranstieg<br />

zur Wehr setzen. Selbst ein drohender<br />

Anstieg um 7,60 Meter, wie im Worst-<br />

Case-Szenario der Studie beschrieben,<br />

beunruhigt ihn nicht: „Man kann jeden<br />

Deich erhöhen, wenn man den Platz<br />

hat“, sagt er. Irgendwann könnte es allerdings<br />

eng werden: Ein höherer Deich<br />

muss meist auch um ein Vielfaches<br />

breiter werden. So müsste ein 10 Meter<br />

hoher Deich etwa 60 Meter breit sein.<br />

Schon heute gibt es Konflikte mit den<br />

„Mit dem Wasser<br />

zu leben, kann<br />

attraktiv sein.“<br />

KARSTEN REISE<br />

Menschen, die in Deichnähe Grundstücke<br />

und Häuser besitzen. Und natürlich<br />

würden immer höhere Deiche auch<br />

immer teurer werden.<br />

Die Frage wird also sein, welchen<br />

Preis die Gesellschaft bereit ist, für den<br />

Küstenschutz zu bezahlen. Dass sie sich<br />

irgendwann gegen immer höhere<br />

Deiche entscheiden wird, glaubt der<br />

Sylter Küstenforscher Karsten Reise.<br />

„Wer will schon hinter so einer riesigen<br />

Mauer wohnen?“, fragt er. Insbesondere<br />

an der heutigen Nordseeküste wären<br />

die Kosten irgendwann zudem extrem<br />

hoch. Reise ist schon 2015 für ein Buch-<br />

21


Küste<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />

Die Nordseeküste, wenn die Temperatur um 3 Grad und der Meeresspiegel wie<br />

vorhergesagt um 6 Meter steigen – und man die Deiche nicht erhöhen würde<br />

projekt mithilfe von Dutzenden Fachleuten<br />

der Frage nachgegangen, wie der<br />

Meeresspiegelanstieg sich auf die Nordseeküste<br />

auswirken wird. Ihr Fazit: Ein<br />

Paradigmenwechsel muss her, weg von<br />

der Hochwasserabwehr hin zum Leben<br />

mit dem Wasser.<br />

Im Gespräch mit Hinz&<strong>Kunzt</strong> zeichnet<br />

Reise das romantische Bild einer Nordseelandschaft,<br />

in der Wasserbüffel<br />

neben Lotusfeldern zwischen Häusern<br />

auf Pfählen grasen. Überflutungen wären<br />

keine Katastrophe mehr, sondern<br />

Teil des Lebensstils. „Es kann auch<br />

22


Küste<br />

abasto<br />

ökologische Energietechnik<br />

attraktiv sein, mit dem Wasser zu leben“, sagt er und<br />

verweist auf Amsterdam und Venedig. Das gelte<br />

auch für Hamburg: Gelegentliche Überflutungen<br />

sollten in den tiefergelegenen Gebieten der Hansestadt<br />

mit einkalkuliert werden, sagt Reise. „Irgendwo<br />

muss das Wasser ja auch hin!“<br />

Hamburg hat bereits vorgemacht, wie das gehen<br />

kann: In der Hafencity wurden Häuser auf Warften<br />

gebaut, viele Erdgeschosse sind unbewohnt und mit<br />

Flutschutztoren gesichert. Wichtige Wegeverbindungen<br />

am Sandtorkai liegen erhöht, sodass sie auch bei<br />

Hochwasser noch genutzt werden können. Ein<br />

Modell für die Zukunft also? In der Behörde für<br />

Stadtentwicklung und Wohnen will man sich dazu<br />

nicht äußern. „Wir vertrauen als Stadt Hamburg auf<br />

den Hochwasserschutz“, sagt ein Sprecher bloß.<br />

Man möchte den Bewohner:innen der tiefgelegenen<br />

Gebiete keine beunruhigenden Signale senden.<br />

Bemerkenswert: Schon 2014 rieten Fachleute<br />

der Metropolregion Hamburg zu einem Paradigmenwechsel.<br />

Außerdem schlugen sie vor, in<br />

überschwemmungsgefährdeten Gebieten keine<br />

neuen Siedlungen mehr zu entwickeln. Offenbar<br />

sind diese Ratschläge im Senat nicht auf fruchtbaren<br />

Boden gefallen. „Wir sind in unserer Gesellschaft<br />

nicht gewohnt, über die Enkelgeneration<br />

hi nauszudenken“, sagt Küstenforscher Reise dazu.<br />

Noch hätten wir genug Zeit, uns auf das Wasser<br />

einzustellen, meint er. „Aber wenn wir erst gegen<br />

Ende des Jahrhunderts damit beginnen, wird es<br />

sehr, sehr aufwendig.“ •<br />

benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />

Leichte Sprache:<br />

Es gibt den Text auch in Leichter<br />

Sprache. Scannen Sie den<br />

QR-Code mit dem Handy.<br />

Dann klicken Sie auf den Link.<br />

Der Text in Leichter Sprache öffnet<br />

sich. Oder Sie gehen auf unsere<br />

Webseite www.hinzundkunzt.de und<br />

suchen dort nach „Leichte Sprache“.<br />

www.huklink.de/<strong>352</strong>-leichte-sprache<br />

23<br />

Für mehr soziale Wärme<br />

und eine klimaschonende<br />

Strom- und Wärmeversorgung.<br />

Unser Rat<br />

zählt.<br />

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Küste<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />

Die Herausforderung<br />

In Dithmarschen leben viele Menschen aus Rumänien.<br />

Sie erledigen Jobs, für die sich schon lange keine Einheimischen<br />

mehr finden lassen. Ein Gewinn für beide Seiten?<br />

TEXT: ULRICH JONAS<br />

FOTOS: DMITRIJ LELTSCHUK<br />

Trotz harter Arbeit Zeit für<br />

Scherze: der junge Rumäne<br />

Madalin Duna (links) und<br />

sein Arbeitgeber, Biobauer<br />

York Wollatz<br />

24


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Küste<br />

A<br />

n diesem Donnerstag Anfang<br />

Mai ist Madalin Duna der<br />

Mann für alles. Eine Dachrinne<br />

hat der 22-Jährige neu<br />

angeschlossen, Frühkohl gepflanzt und<br />

dicke Holzpfosten in die Erde gebracht,<br />

die einen Zaun halten sollen. Nun steht<br />

der muskulöse Kerl auf dem Hof des<br />

Biobauern York Wollatz und zögert keine<br />

Sekunde mit der Antwort auf die<br />

Frage, was sein Chef für einer sei. Er<br />

habe schon für viele Bauern gearbeitet,<br />

sagt der Rumäne. „Keiner war so nett<br />

wie er.“ Wollatz, ein herzlicher Mann<br />

mit lautem, ansteckendem Lachen,<br />

kommt hinzu. „Hab ich ihm gut beigebracht,<br />

oder?“, scherzt der 50-Jährige<br />

und grinst. „Madalin, du musst sagen:<br />

,Das ist ein guter Chef!‘ Dann gibt’s<br />

auch mehr Geld!“ Und der gebürtige<br />

Dithmarscher und der Zugezogene aus<br />

der Walachei lachen gemeinsam.<br />

Seit drei Monaten arbeitet Madalin<br />

Duna auf dem Hof des Biobauern.<br />

Sein Onkel, schon länger bei Wollatz,<br />

hat ihn empfohlen. Zuvor war der junge<br />

Rumäne beim Gerüstbau, „ein guter<br />

Job, aber körperlich sehr anstrengend“.<br />

Das sehr einfache Deutsch, das er beherrscht,<br />

habe er dort gelernt. Aufgewachsen<br />

ist Duna in Spanien, wo seine<br />

Eltern auf den Feldern gearbeitet haben.<br />

„Der einzige<br />

Weg gegen<br />

Vorurteile:<br />

persön licher<br />

Kontakt.“<br />

QUARTIERSMANAGERIN CLAUDIA STEINSEIFER<br />

Seit vier Jahren lebt der zurückhaltende,<br />

fast schüchtern wirkende Mann nun in<br />

Dithmarschen. In seiner Heimat, sagt er,<br />

könnte er vielleicht 600 oder 700 Euro<br />

pro Monat verdienen. Hier sind es inzwischen<br />

1800. Duna lebt mit Frau,<br />

dreijähriger Tochter, seinem Bruder<br />

und dessen Familie in einer Wohnung<br />

mit drei Schlafzimmern im einen Kilometer<br />

entfernten Wesselburen und sagt<br />

über das Leben dort: „Manche Einheimische<br />

sind ein bisschen rassistisch. Die<br />

reden manchmal Scheiße. Aber was<br />

kannst du machen?“<br />

Mittagszeit in der 3550-Seelen-<br />

Stadt Wesselburen, gut 100 Kilometer<br />

nordwestlich von Hamburg gelegen:<br />

Kinder schleppen ihre Schultaschen<br />

über den Marktplatz nach Hause,<br />

mal sind es deutsche Grüppchen, mal<br />

rumänische. Ältere, offenkundig gut<br />

situierte Einheimische lassen sich in der<br />

„Ulmenklause“ den Hering schmecken,<br />

der heute mit Bratkartoffeln und Salatbeilage<br />

gereicht wird. Ein paar Meter<br />

weiter blickt eine junge Rumänin aufs<br />

Handy, während ihre beiden Töchter<br />

an einer Wasserpumpe spielen. Wer in<br />

die Seitenstraßen geht, sieht schöne alte<br />

Häuser mit sehr gepflegten Vorgärten.<br />

Vor anderen sitzen rumänische Familien<br />

auf Plastikstühlen und reden laut miteinander.<br />

Eine alte Frau hat sich ihren<br />

Stuhl direkt auf den schmalen Bürgersteig<br />

gestellt und wartet offenbar auf<br />

Unterhaltung. In manchen Hinterhöfen<br />

stehen Autos ohne Nummernschilder,<br />

irgendwo gackern Hühner.<br />

In früheren Jahrhunderten waren<br />

es Süddeutsche, die für die Dithmarscher:innen<br />

die Kohlköpfe ernteten.<br />

Irgendwann kamen Pol:innen. Seit 2015<br />

25<br />

Stadtkern von Wesselburen<br />

sind es zunehmend Menschen aus Rumänien.<br />

700 sollen heute dauerhaft in<br />

Wessel buren leben. Die genaue Zahl<br />

kennt niemand, weil nicht alle gemeldet<br />

sind. Kommen zur Erntezeit die Saisonkräfte<br />

hinzu, könnten die Rumän:innen<br />

ein Drittel der Einwohnerschaft stellen.<br />

Manchen Einheimischen macht das<br />

Angst: „Ich habe nichts gegen Ausländer“,<br />

sagt etwa eine Geschäftsfrau, die<br />

unerkannt bleiben will. „Aber wenn ich<br />

woanders hinziehe, passe ich mich doch<br />

an, oder?“<br />

Um das gegenseitige Verständnis<br />

zu befördern, gibt es im Ort eine<br />

„Quartiersmanagerin“. Als die Stelle<br />

geschaffen wurde, übernahm eine gebürtige<br />

Rumänin den Job, die schon<br />

lange in Deutschland lebt. Weil die<br />

schwanger wurde, sitzt seit einem halben<br />

Jahr Claudia Steinseifer in dem kleinen<br />

Büro über der Tourismuszentrale, telefoniert<br />

für rumänische Familien mit<br />

Ämtern und entwirft Ideen für mehr<br />

Miteinander. Die 55-Jährige hat lange<br />

am Theater und oft mit Menschen verschiedener<br />

Herkunft gearbeitet. Dabei<br />

hat sie gelernt: „Es gibt nur einen Weg,<br />

gegen Vorurteile vorzugehen: den persönlichen<br />

Kontakt.“ 2023, so ihr Plan,<br />

soll Wesselburen ein Jahr lang „Stadt<br />

der Nachbarschaft“ werden. Dann


Küste<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />

Links: Madalin Duna baut einen neuen Zaun. Rechts oben: Quartiersmanagerin Claudia Steinseifer will das Verständnis zwischen<br />

Einheimischen und Zugezogenen fördern. Rechts unten: Rumänin Lavinia Stancu sieht dabei vor allem ihre Landsleute in der Pflicht.<br />

sollen rumänische Jugendliche bei der<br />

Aufführung eines Werkes von Friedrich<br />

Hebbel (der in Wessel buren auf die Welt<br />

kam) mitwirken, die örtliche Spielmannskapelle<br />

auftreten und ein Fußballturnier<br />

steigen. Vielleicht gelingt es<br />

ihr sogar, Peter Maffay für einen Ausflug<br />

nach Dithmarschen zu gewinnen?<br />

Den Traum hat sie und auch Kontakte.<br />

Die Grenzen ihres Tuns sind ihr aber<br />

immer klar, sagt die Brückenbauerin:<br />

„Ich rechne nicht damit, dass nach dem<br />

Aktionsjahr alle in weißen Kleidern um<br />

die Kirche tanzen, Blumen werfen und<br />

rufen: ,Wir sind im Paradies!‘“ Doch<br />

wenn es ihr gelänge, zumindest einige<br />

miteinander ins Gespräch zu bringen,<br />

die „etwas an einander entdecken“, sei<br />

das „ein Riesenerfolg“.<br />

Erste Pflänzchen der Annäherung<br />

sprießen: Kinder laden einander zum<br />

Geburtstag ein, ungeachtet kultureller<br />

Unterschiede. Ein deutsches Rentner-<br />

Ehepaar trifft sich mit zwei rumänischen<br />

Jungen für gemeinsame Unternehmungen.<br />

Und eine Engagierte hat<br />

einen Verein für mehr Miteinander im<br />

Ort gegründet und sorgte etwa dafür,<br />

dass ein Einheimischer Zugewanderten<br />

sein altes Fahrrad geschenkt hat. Zum<br />

Zusammenwachsen gibt es keine Alternative,<br />

meint Bürgermeister Heinz-<br />

Werner Bruhs (CDU), seit zehn Jahren<br />

im Amt, denn: „Hätten wir die Rumänen<br />

nicht, hätten wir ein großes Problem<br />

– gerade in der Landwirtschaft.“<br />

Wenn die Quartiersmanagerin berät,<br />

hört sie einiges. Dann berichten<br />

Erntehelfer:innen etwa von dubiosen<br />

Arbeitsvermittlern, die Häuser gekauft<br />

haben und für viel Geld an Saisonkräfte<br />

vermieten. Oder dass ihnen der Bauer<br />

keine Arbeitsbescheinigung ausstellen<br />

wolle, den Lohn bar auszahle und versichere:<br />

„Schwarzarbeit ist das nicht!“<br />

Sind das Ausnahmen, „schwarze Schafe“?<br />

Der zuständige Zoll in Itzehoe<br />

weiß es nicht: Wie häufig und mit welchen<br />

Ergebnissen die Behörde Höfe<br />

kontrolliert, könne er leider nicht sagen,<br />

so ein Sprecher. Die „Beratungsstelle<br />

Arbeitnehmerfreizügigkeit“ in Kiel, die<br />

26<br />

landesweit geprellte Arbeiter:innen unterstützt,<br />

teilt mit, sie habe der Stadt<br />

Wesselburen bereits 2017 Hilfe angeboten<br />

und später auch Landwirt:innen der<br />

Region angeschrieben. Eine Einladung<br />

folgte bislang nicht.<br />

Was alltäglicher Rassismus bedeutet,<br />

kann Lavinia Stancu erzählen: Seit<br />

Monaten sucht sie nach einer neuen<br />

Bleibe für ihre Familie. Die Wohnung,<br />

in der sie mit Eltern, Schwester und einem<br />

befreundeten Ehepaar lebt, ist „in<br />

sehr schlechtem Zustand“, wie die<br />

19-Jährige in perfektem Deutsch sagt.<br />

Doch auch wenn ihre Telefonate wegen<br />

eines Mietangebots oft schnell enden,<br />

sobald sie erwähnt, dass sie Rumänin<br />

ist, sieht Lavinia Stancu ihre Landsleute<br />

in der Pflicht: „Die Deutschen haben<br />

uns Arbeit angeboten und gute Lebensbedingungen.<br />

Und wenn ein Fremder<br />

in ein anderes Land kommt, muss er<br />

sich an die Regeln dort halten.“ Das<br />

aber würden manche nicht tun.<br />

Die ernsthafte junge Frau ist ein<br />

Musterbeispiel gelungener Integration:


Küste<br />

KLEINES FOTO S. 26 UNTEN RECHTS: ULRICH JONAS<br />

In den viereinhalb Jahren in Wesselburen hat sie den<br />

Realschulabschluss geschafft, deutsche Freundinnen<br />

gewonnen und für ihre Eltern Jobs organisiert.<br />

Die Mutter hat zunächst als Küchenhilfe in einem<br />

Büsumer Hotel gearbeitet, seit neun Monaten hat sie<br />

eine Vollzeitstelle bei einem Catering-Unternehmen<br />

im Ort. Der Vater hat sich auf einem Bauernhof um<br />

die Tiere gekümmert – den Job aber verloren, weil er<br />

sich nicht gegen Corona impfen lassen will. Und sie<br />

selbst träumt davon, eines Tages bei der Polizei oder<br />

beim Augenoptiker zu arbeiten. Einen Vertrag für<br />

die Ausbildung zur Bürokauffrau hatte sie schon in<br />

der Tasche – doch wurde der wieder aufgelöst, als ihr<br />

potenzieller Arbeitgeber erfuhr, dass auch sie nicht<br />

gegen Corona geimpft ist. (Viele Rumän:innen sind<br />

nicht geimpft. Die Impfquote in dem EU-Land liegt<br />

bei nur 42 Prozent.)<br />

Nun bewirbt sich die junge Frau weiter, jobbt<br />

halbtags als Betreuerin in der Grundschule, räumt<br />

zudem Waren in Supermarktregale ein und sagt:<br />

„Für mich ist es nicht immer einfach.“ Weil in der<br />

Wohnung nicht viel Platz ist, muss sie sich das<br />

Zimmer mit ihrer zehnjährigen Schwester teilen.<br />

Kürzlich kam auch noch ein Brief vom Stromversorger:<br />

Die Familie muss kräftig nachzahlen. Lavinia<br />

Stancu muss sich kümmern, weil sie diejenige ist,<br />

die die fremde Sprache beherrscht. Es gibt Tage,<br />

sagt sie, da träume sie davon, alleine zu leben. Sie<br />

lächelt verlegen.<br />

Bauer Wollatz sitzt manchmal mit seinen Arbeitern<br />

zusammen und plaudert. Läuft es gut, kommt es<br />

zur Begegnung der Kulturen. Mal ist das lustig, etwa<br />

wenn einer seiner Leute sagt: „Aber Chef, du musst<br />

ein großes Auto fahren! Du kannst dir doch einen<br />

dicken 7er-BMW leisten!“ Und manchmal, erzählt<br />

Wollatz, wird es „sehr schwierig“. Etwa wenn er von<br />

Kindern hört, die nicht zur Schule gehen, oder von<br />

arrangierten Ehen. „Ich kann nicht sagen, ob wir<br />

glücklichere Ehen führen“, meint der Dithmarscher.<br />

„Aber wenn meine Leute erzählen, ihr Sohn solle<br />

eine 15-Jährige heiraten, komme ich an meine<br />

Grenzen.“ Und dennoch: Wollatz ist optimistisch,<br />

dass das Zusammenwachsen gelingen kann. Er<br />

erzählt von einem früheren Mitarbeiter, der heute<br />

in einer nahen Papierfabrik arbeitet. Der habe<br />

ein Haus in einer typisch deutschen Siedlung<br />

gekauft und lebe mit seiner Familie inmitten von<br />

Einheimischen. „Und das war eine ganz bewusste<br />

Entscheidung.“ •<br />

Ulrich Jonas war fasziniert von der<br />

Unterschiedlichkeit der Menschen.<br />

Er möchte bald wieder nach Wesselburen,<br />

um zu sehen, wie sich das<br />

Zusammenleben entwickelt.<br />

ulrich.jonas@hinzundkunzt.de<br />

27<br />

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Sylt ganz unten<br />

Obdachlose Menschen gibt es auch auf der Insel der Schönen und Reichen.<br />

Der Insulaner Matthias war einer von ihnen. Dass er überhaupt noch lebt,<br />

verdankt er auch dem Sozialarbeiter Jan Klein. Jochen Harberg (Text)<br />

und Mauricio Bustamante (Fotos) haben die beiden besucht.<br />

28


Küste<br />

A<br />

uf dem Weg von Westerland<br />

nach List muss Matthias<br />

noch kurz an einem Supermarkt<br />

halten: „Ich brauche<br />

unbedingt Vogelfutter.“ Wenige<br />

Minuten später ist das Ziel der Fahrt<br />

erreicht – der idyllische Dünenfriedhof<br />

in Deutschlands nördlichster Gemeinde.<br />

Hier will er den Vater ehren, den er<br />

schon mit zwölf verloren hat, an<br />

Herzver sagen. Ein Kerl wie ein Baum,<br />

erinnert sich Matthias, zwei Meter groß,<br />

Metzgermeister, viel zu früh gegangen,<br />

mit gerade mal 38 Jahren. Es ist Matthias’<br />

Initiative gewesen, das schon<br />

dem Verfall preis gegebene Grab wieder<br />

Am Strand von Sylt:<br />

Matthias ist auf der Insel<br />

geboren – und dort lange<br />

obdachlos gewesen.<br />

schön herzu richten – mit dem selbstgebauten<br />

Vogelhäuschen direkt nebenan,<br />

damit hier auch Leben ist. Schweigsam<br />

macht er sich an die Arbeit, es werden<br />

noch Tränen rollen an diesem Frühlingsnachmittag.<br />

Dafür gibt es viele Gründe.<br />

Die wöchentliche Fahrt in seinen<br />

Geburtsort hat Matthias, 41, nicht alleine<br />

angetreten. Erstmals hat ihn Stella<br />

(Name geändert, die Red.) begleitet, seine<br />

Nachbarin, wenn man das so sagen<br />

darf. Und am Steuer des Autos sitzt<br />

beider „Chef“: Jan Klein, 42, Sozialarbeiter<br />

der Gemeinde Sylt, zuständig<br />

für die Obdachlosen der Insel. Und<br />

damit auch für Stella und Matthias.<br />

29<br />

Matthias’ Geschichte ist die eines schleichenden,<br />

aber stetigen Abstiegs auf der<br />

so oft besungenen „Insel der Schönen<br />

und Reichen“. Der Tod des Vaters trifft<br />

ihn, den jüngsten und sensibelsten unter<br />

drei Brüdern, besonders hart.<br />

Haupt- und Realschulabschluss schafft<br />

der stille, introvertierte Junge zwar noch<br />

mit Mühe, bei der anschließenden Arbeit<br />

als Koch in einem Lister Restaurant<br />

macht er aber deutlich mehr Bekanntschaft<br />

mit Alkohol, als gut für ihn<br />

ist – ein gar nicht seltenes Phänomen in<br />

der Gastronomie. Auch Insulanerin<br />

Stella, 52, rutschte so ab in die Sucht<br />

auf Sylt.<br />

Mit seiner damaligen Freundin Pia<br />

bekommt Matthias einen Sohn. Doch<br />

Pia ist drogensüchtig, gibt das Baby<br />

direkt zu ihren Eltern, geht irgendwann<br />

mit Punks aus Hamburg fort und<br />

stirbt in der großen Stadt. Den Sohn<br />

hat Matthias bis heute nicht gesehen.<br />

Eine weitere Verlobung endet ebenfalls<br />

in einer Schwangerschaft, die Mutter<br />

aber zieht sehr bald nach der Geburt<br />

fort. Und so verschwindet auch die<br />

Tochter früh aus seinem Leben.<br />

Das sind zu viele Schläge für Matthias,<br />

der nun nach und nach Job, Wohnung<br />

und den Boden unter den Füßen<br />

verliert.<br />

„Dass Matthias euch seine Geschichte<br />

überhaupt erzählt, zeigt, wie<br />

weit er schon gekommen ist auf dem<br />

Weg zurück ins Leben“, sagt Jan Klein,<br />

als wir uns im Aufenthaltsraum der<br />

Obdachlosenunterkunft am Sjipwai in<br />

Westerland mit ihm und Matthias auf<br />

einen tiefschwarzen Kaffee treffen. Der<br />

Tisch ist liebevoll gedeckt mit Brötchen,<br />

Obst und allerlei Süßigkeiten,<br />

„das ist hier bei uns Standard“, sagt<br />

Jan. Seit 2010 arbeitet er auf der Insel,<br />

Matthias kennt er quasi von Tag eins<br />

an. In einem kleinen Bildband hat er<br />

die Zustände des damaligen Lebens der<br />

Obdachlosen an nicht genehmigten<br />

Lebens- und Schlafplätzen festgehalten,<br />

es ist ein Dokument des Grauens.<br />

Jan Klein, ein kräftiger, energetischer,<br />

wortgewaltiger Typ mit strahlend hellblauen<br />

Augen, ist beseelt von dem<br />

Gedanken, „jedem Menschen Liebe zu<br />

geben“. Und beschließt: „Das muss<br />

hier anders werden.“


Heute lebt Matthias in<br />

der Obdachlosenunterkunft<br />

der Insel. Unten: Besuch<br />

am Grab seines früh<br />

verstorbenen Vaters<br />

Wohnen auf Sylt<br />

Die üblichen Nettokaltmieten auf Sylt liegen zwischen 15 und 20 Euro pro<br />

Qua dratmeter und gehören damit zu den teuersten in Deutschland. Das ist das<br />

Ergebnis einer Studie des Instituts für Stadtentwicklung und Wohnen (ALP)<br />

aus dem Jahr 2020. Besonders knapp sind demnach günstige kom munale und<br />

geförderte Wohnungen. Verschärft wird die Lage durch Umwand lungen in<br />

Ferienwohnungen. Laut Studie wurden 2018 rund 40 Prozent der 16.746<br />

Sylter Wohnungen als Feriendomizile genutzt. Insgesamt stehen 62.500<br />

Gäs tebetten zur Verfügung. Im Vorpandemiejahr 2019 gab es fast 5 Millionen<br />

Übernachtungen. Dauerhaft leben auf der Insel knapp 20.000 Menschen. LG<br />

Auch Matthias haust damals im baufälligen<br />

„Pionierlager“ in Tinnum,<br />

einer verlassenen Soldatenunterkunft.<br />

„Das war ein runtergekommenes<br />

Loch“, erinnert sich Jan Klein. Dessen<br />

stetig wiederkehrende Hilfsangebote<br />

weist Matthias immer und immer<br />

wieder zurück. Einige Jahre macht<br />

er anschließend tagsüber Platte in Westerland,<br />

kleines Geld vom Zeitungsaustragen<br />

geht oft direkt in weiteren<br />

Alkohol. Die Nächte verbringt er mit<br />

einem Kumpel auf dem Friedhof, selbst<br />

im strengsten Winter. Er spürt, es könnte<br />

mit ihm zu Ende gehen, „ich war nur<br />

noch Haut und Knochen.“ Und, sagt<br />

Sozialarbeiter Jan, „er lag oft betrunken<br />

draußen rum und war völlig verbrannt<br />

von der Sonne.“ Aber irgendetwas ist<br />

da noch, was sich in Matthias wehrt:<br />

„Dann habe ich doch Kontakt aufgenommen<br />

zu Jan.“<br />

Der hat inzwischen ein völlig neues<br />

Konzept der Obdachlosenbetreuung<br />

installiert. Aus den heruntergekommenen<br />

Löchern und Wohnungen, die<br />

über die Insel verteilt sind, wird mit<br />

den Jahren eine neue, liebevoll hergerichtete<br />

zentrale Unterkunft mit zwei<br />

sich gegenüberliegenden Gebäuden<br />

30


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Küste<br />

nahe an der Inselverwaltung. „Für<br />

mich ist Prävention der Schlüssel“, sagt<br />

Jan, „und dafür will ich so viel und so<br />

nah dran sein an den Menschen, die<br />

ich betreue, wie es nur geht. Da kann<br />

ich nicht noch unterschiedliche Standorte<br />

auf der Insel betreuen und dabei<br />

Kraft vergeuden. Ich möchte immer<br />

sofort helfen können, wenn es jemandem<br />

schlecht geht.“ Dafür muss er bei<br />

der Gemeinde dicke Bretter bohren,<br />

aber er ist überzeugt: „Jeden Euro, der<br />

hier investiert wird für menschenwürdige<br />

Betreuung und Unterkunft, musst<br />

du später nicht an anderer Stelle doppelt<br />

und dreifach ausgeben.“ Die Zahlen<br />

sprechen für sich: Etwa 40 Insel-<br />

Obdachlose gibt es, als er seinen Job<br />

antritt – heute sind es noch fünf, die in<br />

der Obdachlosenunterkunft leben:<br />

Stella, Thomas, Robert, die 90-jährige<br />

Alice. Und Matthias.<br />

Der trägt heute einen braunen Kapuzenpullover<br />

mit kreisrundem Logo:<br />

„Die Toten Hosen – Bis zum bitteren<br />

Ende“. Treffer, versenkt. Jahre habe er<br />

gebraucht, um sich dem Sozialarbeiter<br />

Stück für Stück zu öffnen und zu erzählen,<br />

was alles zu erzählen ist. Heute<br />

weiß er: „Ich hätte viel früher zu ihm<br />

gehen sollen.“ Seit 2014 lebt Matthias<br />

in der Obdachlosenunterkunft am<br />

Sjipwai, und all die Jahre habe er<br />

wirklich benötigt, um sich so zu stabilisieren,<br />

dass ein Rückfall in ganz schlimme<br />

Zeiten derzeit wenig wahrscheinlich<br />

scheint. Wie es ihm heute gehe auf<br />

einer Skala von eins bis zehn? „So fünf<br />

bis sechs, würde ich sagen.“ Ob das<br />

nicht toll sei, fragt Jan mit einem Strahlen.<br />

Und man ahnt, wie schwer es fällt,<br />

sich dessen permanenten Motivationsoffensiven<br />

zu widersetzen. Fünf Minijobs<br />

auf 450-Euro-Basis darf der Sozial<br />

arbeiter auf Sylt in Absprache mit der<br />

Verwaltung vergeben, auch das ein Teil<br />

seines Konzepts zur Reintegration.<br />

Stella und Matthias haben je einen<br />

solchen und erledigen dafür kleine<br />

Aufträge im Rahmen des Hausprojekts<br />

und der Betreuung.<br />

Gleichwohl sieht Jan auf Sylt ständig<br />

wiederkehrende, hausgemachte<br />

Probleme: „Wo so viel Licht ist, gibt es<br />

auch ganz viel Schatten.“ Etwa Saisonarbeiter:innen,<br />

oft Ausländer:innen, die<br />

über Nacht gekündigt werden und<br />

schäbige Personalwohnungen ganz<br />

schnell verlassen müssen. Saison-Punks<br />

von überallher, die während der Sommermonate<br />

kommen, tagsüber betteln<br />

und oft am Strand schlafen. Oder auch<br />

Zwangsräumungen – gerade im Moment<br />

klemmt Jan hinterm Telefon, um<br />

mit einem Kollegen der Gemeinde die<br />

aktuell drohende Obdachlosigkeit einer<br />

ganzen Familie noch zu verhindern.<br />

Aber wenn alle Stricke reißen, steht in<br />

seiner Unterkunft das Familienzimmer<br />

schön aufgeräumt bereit.<br />

Matthias wiederum hat die Unterkunft<br />

jetzt für drei Wochen verlassen –<br />

er geht zur Entgiftung in eine Einrichtung<br />

aufs Festland. In den Häusern auf<br />

Sylt dürfen die Bewohner:innen zwar<br />

nach selbst gegebenen Regeln nichts<br />

trinken, besiegt ist der Alkohol damit<br />

freilich nicht: „Was ich tagsüber in der<br />

Stadt mache, ist meine Sache“, sagt<br />

Sozialarbeiter<br />

Jan Klein<br />

(rechts) hat die<br />

Zustände an<br />

ehemaligen<br />

Schlafplätzen<br />

von Obdachlosen<br />

auf der<br />

Insel dokumentiert<br />

(unten).<br />

31<br />

Matthias freimütig. Und doch will er es<br />

nun ernsthaft angehen, denn er hat<br />

neue Ziele. Ein gemeinsames Weihnachten<br />

mit der Mutter und den Brüdern<br />

hat es nach jahrelanger Funkstille<br />

inzwischen schon wieder gegeben,<br />

dem großen Sohn will er bald mal einen<br />

Brief schreiben, der ist 16 und hat<br />

damit Anrecht auf Auskunft und Kontakt.<br />

Und wer weiß, vielleicht wird ja in<br />

einigen Jahren doch noch sein verbliebener<br />

Lebenstraum wahr: „Ein eigener<br />

Foodtruck hier auf Sylt, das wäre<br />

schon geil!“ • Jochen Harberg hat eine<br />

lange Beziehung zu Sylt:<br />

Seit 1988 leben seine Mutter<br />

und seine Schwester auf<br />

der Insel, er selbst hat dort<br />

seitdem jeden Sommerurlaub verbracht.<br />

redaktion@hinzundkunzt.de


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Zahlen des Monats<br />

Altkleider in Afrika<br />

Keine Hilfe,<br />

sondern Gift<br />

30 Prozent<br />

der Altkleider, die als Secondhand-Ware von Europa nach Ostafrika<br />

verschifft werden, landen auf Mülldeponien, in Flüssen oder werden unter<br />

freiem Himmel verbrannt. Das zeigen Greenpeace-Recherchen. Der Grund:<br />

Viele der Kleidungsstücke sind zerrissen, verschmutzt oder für das örtliche<br />

Klima ungeeignet und haben deshalb auch in Afrika keinen Marktwert<br />

mehr. Die Folgen: Gefährliche Chemikalien und Mikroplastikfasern werden<br />

permanent freigesetzt und vergiften schleichend Menschen und Umwelt.<br />

Allein in Deutschland werden jährlich gut eine Million Tonnen Altkleider<br />

gesammelt – von Hilfsorganisationen, aber auch von Händler:innen, die<br />

damit Geld verdienen. Sie exportieren rund die Hälfte aller gespendeten<br />

Kleidungsstücke, meist nach Afrika und zum Nachteil der Textilwirtschaft<br />

dort. Der Rest werde oft zu Putztüchern, Isoliermaterial oder Füllstoff für<br />

andere Industrien verarbeitet oder weggeworfen, heißt es in dem neuen<br />

Greenpeace-Bericht mit dem Titel „Vergiftete Geschenke“.<br />

Wer sicher sein will, dass Kleiderspenden in gute Hände kommen, spendet<br />

sie lokal und an gemeinnützige Einrichtungen wie Kleiderkammern oder<br />

Hanseatic Help. „Bei uns gibt es die Garantie, dass die Sachen bedarfsgerecht<br />

ausgegeben werden“, sagt Michael Wopperer von Hanseatic Help.<br />

Dafür melden Obdachlosenprojekte, Geflüchteteninitiativen oder Frauenhäuser<br />

konkrete Wünsche an. Um zerrissene oder verschmutzte Kleidung<br />

möglichst nicht wegwerfen zu müssen, bietet der Verein einen Materialpool –<br />

für Filmschaffende, Upcycling-Werkstätten oder auch Kindergärten.<br />

Vor allem wegen der sogenannten Fast Fashion – billige Modekollektionen,<br />

die in immer kürzeren Zeitabständen auf den Markt geworfen werden –<br />

wächst der Berg alter Kleider beständig: Jedes Jahr produzieren internationale<br />

Konzerne weltweit 2,7 Prozent mehr Kleidungsstücke, so Greenpeace.<br />

Nicht mal 1 Prozent aller Textilien wird zu neuer Kleidung verarbeitet.<br />

Greenpeace fordert, den Export von Textilabfällen zu verbieten und Modefirmen<br />

für Umwelt- und Gesundheitsschäden ihrer Kleidung weltweit<br />

haftbar zu machen. Was jede:r Einzelne tun kann, erklärt die Verbraucherzen<br />

trale: „Wir empfehlen euch, weniger Kleidung zu kaufen und auf<br />

Qualität und Nachhaltigkeit zu achten.“ •<br />

TEXT: ULRICH JONAS<br />

ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />

Mehr Infos: www.huklink.de/greenpeacereport, www.huklink.de/kleiderspenden und www.hanseatic-help.org<br />

33


Laternenmanns<br />

Vermächtnis<br />

Fast 20 Jahre lang zog Cornelius Bless mit seiner<br />

Laterne durch Hamburger Kneipen und verkaufte<br />

„Geistesblitze“. Hinz&<strong>Kunzt</strong> hat ihn auf seiner<br />

letzten Fahrt mit dem Wünschewagen begleitet.<br />

TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN<br />

FOTOS: IMKE LASS


Letzte Reise zu seiner Mutter:<br />

Schweigend lässt Cornelius Bless<br />

den Blick durch die Weite der<br />

holsteinischen Landschaft schweifen.


Cornelius Bless ist startklar. Der 65-Jährige hat seine<br />

Strickjacke an, eine Lederjacke und darüber noch<br />

eine Thermofleece-Jacke, auf dem Kopf einen<br />

bunten Strohhut. Blumen stehen bereit, seine<br />

Tasche ist gepackt: Handy, Notizbücher, die „Mundorgel“.<br />

Das Liederbuch darf nicht fehlen an diesem Tag Ende<br />

Februar. Cornelius Bless fährt nach Albersdorf in Schleswig-<br />

Holstein, ins Haus seiner Kindheit, um mit seiner Mutter<br />

gemeinsam zu singen – ein letztes Mal.<br />

Nun sitzt er in seinem Rollstuhl am Eingang des Diakonie-Hospizes<br />

in Volksdorf und späht durch die Scheibe nach<br />

draußen. Vor der Tür steht der „Wünschewagen“, ein mit<br />

Sternen beklebter Transportwagen des Arbeiter-Samariter-<br />

Bundes. Er wird Bless nach Albersdorf bringen. „Letzte<br />

Wünsche wagen“ steht auf der Hecktür, durch die zwei junge<br />

Frauen eine rollbare Transportliege mit Sternchen-Plumeau<br />

auf die Einfahrt wuchten. Cornelius Bless schiebt das<br />

Kinn vor, seine Mundwinkel zucken. „Da soll ich jetzt rein?“<br />

Er ächzt. Im Sitzen zu fahren wäre ihm lieber.<br />

Gestern sei er noch Taxi gefahren, nach Eppendorf, mit<br />

dem Rollstuhl. „Das war eigentlich ganz easy“, argumentiert<br />

er. Eine Pflegerin des Hospizes hält sanft dagegen: Albersdorf,<br />

das seien fast anderthalb Stunden Fahrt. Wenn er läge,<br />

bliebe ihm mehr Kraft für das Treffen mit seiner Mutter.<br />

Bless, schwer krebskrank, geschwächt und abgemagert von<br />

der Chemotherapie, bläst die Wangen auf und gibt nach.<br />

Es gibt Wichtigeres. Als er ins Freie geschoben wird, schaut<br />

er in den Himmel. Die Frage der Pflegerin, ob er bei einem<br />

Notfall unterwegs wünsche, reanimiert zu werden, hatte er<br />

mit einem langgezogenen „Nööö“ beantwortet.<br />

Früher war es Cornelius Bless, der Menschen dazu einlud,<br />

sich auf etwas einzulassen. Er war der „Laternenmann“,<br />

36


Lebenslinien<br />

Abfahrt vom Hospiz Volksdorf: Behutsam überzeugen die Pflegerinnen<br />

den Passagier von einer Wünschewagen-Fahrt im Liegen.<br />

Als der Wünschewagen vor Bless’<br />

Elternhaus hält, klart der Himmel auf.<br />

Alle, die mitgefahren sind, werden im<br />

Hause Bless herzlich empfangen.<br />

ein Philosoph der Straße, dem man mit Glück nachts in<br />

den Kneipen und Bars in der Schanze, in Eimsbüttel oder<br />

auf dem Kiez begegnete. Dann stand er plötzlich in der<br />

Tür, in der Hand seine Laterne, beklebt mit Bildern von<br />

Gandhi, Sophie Scholl, Albert Einstein, Hermann Hesse.<br />

Oder er saß am Tresen, drapierte bunte Kärtchen darauf,<br />

sah sich im Lokal um – und wartete ab. Früher oder später<br />

würde jemand mit „einem Fragezeichen im Gesicht“ auftauchen,<br />

wie Bless es nennt. Viele wussten auch schon<br />

Bescheid: Beim Laternenmann gibt es „Geistesblitze“ zu<br />

kaufen, handverlesen, auf Tauglichkeit erprobt, Kaufpreis<br />

nach eigenem Ermessen.<br />

„Dieser innere Sonnenschein, den ein jeder in sich trägt,<br />

der macht goldene Brücken.“ Den Spruch von Paula Modersohn-Becker<br />

finde er besonders gut, erzählt Bless. Zum Gespräch<br />

im Hospiz hat er drei Notizbücher dabei, er blättert<br />

und zieht ein Kärtchen mit dem Zitat der Künstlerin hervor.<br />

Menschen in schwierigen Lebenslagen habe der Spruch<br />

meist besonders angesprochen, sagt Bless. Was er denn selbst<br />

darüber denke – diese Frage kam oft in den Kneipennächten.<br />

Der Straßenphilosoph nimmt sich Zeit für seine Antwort,<br />

auch diesmal. „Der innere Sonnenschein … kann durch<br />

Wolken verdeckt sein. Trotzdem ist er da. Und kann … das<br />

Miteinander stärken.“ Er sucht die Luft ab und reckt das<br />

Kinn, als hingen die passenden Wörter wie Früchte an einem<br />

Ast über ihm. „Er kann einen gemeinsamen Nenner im<br />

Miteinander freilegen. Zum Leuchten bringen.“ Bless staunt<br />

dem Gedanken nach wie einer Sternschnuppe.<br />

Von oben herab zu dozieren läge ihm fern. „Ich will ja<br />

nicht primär Antworten geben, sondern Fragen wecken,<br />

Fühl- und Denkprozesse in Gang bringen“, erklärt er. Seine<br />

Sammlung an „Geistesblitzen“ entstand bei der eigenen<br />

Sinnsuche. Bless hat Philosophie studiert, etwa 20 Semester<br />

lang, und nie wirklich aufgehört. Er las einfach weiter, auch<br />

die Nebenwerke, auch Briefe, die große Denker:innen<br />

an Freunde und Frauen schrieben. Es gebe in der Philosophie<br />

einen Hang zur Besserwisserei, auch zur „Vielwisserei“,<br />

sagt Bless. „Und eine Tendenz, den Blick zu verlieren für<br />

das, was wirklich zählt: Worauf kommt es an in meiner<br />

Lebensgestaltung?“<br />

37


Lebenslinien<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />

Intimer Moment: Ein letztes Mal mit seiner Mutter zu singen war Bless’ Herzenswunsch. Seine Schwester Martina assistiert.<br />

„Jetzt schüttle ich alles ab, was nicht zu mir gehört: Menschen,<br />

Gewohnheiten, Bücher.“ Das Zitat von Nietzsche<br />

habe er nachts selten dabei gehabt, sagt Bless. Für ihn als<br />

jungen Mann aber war es wegweisend.<br />

Cornelius Bless war der Zweitgeborene von sechs<br />

Geschwistern, die Eltern „frommer als fromm“, so erinnert<br />

sich seine jüngste Schwester Renate Reinhardt. Am Sonntag<br />

durften die Kinder nicht mit anderen spielen. Gebetet wurde<br />

Die „Geistesblitze“, die Bless nachts in Kneipen anbot, waren auch<br />

eine Hommage an die klugen Frauen und Männer, die er zitierte.<br />

jeden Morgen, jeden Abend, vor und nach dem Essen. Lieder<br />

aus dem evangelischen Gesangbuch gehörten zum Alltag.<br />

Er sei von dieser Frömmigkeit sehr geprägt gewesen, sagt<br />

Bless. Auch in Jugendgruppen habe er oft zu hören bekommen:<br />

Wahr sei, was in der Bibel stehe. Das stieß ihm damals<br />

schon auf, doch Freidenker wurde er erst im Studium. „Es<br />

dauerte eine Zeit zu erkennen, dass diese Meinungen ein sehr<br />

schmales Fundament haben“, sagt Bless.<br />

Der Wünschewagen hält vor einem kleinen Haus am<br />

Waldrand, eine Frau läuft auf die Straße. „Mensch, Conny!<br />

Was hast du denn für ein Scheißwetter mitgebracht!“ Renate<br />

Reinhardt ähnelt ihrem Bruder wie ein Zwilling. Aufgeregt<br />

nimmt sie ihn in Empfang, begleitet ihn und das Wünschewagen-Team<br />

in ihr Elternhaus, wo die zweite Schwester<br />

Martina bei der Mutter wartet. Frau Bless ist 94 Jahre alt, an<br />

Demenz erkrankt, die Schwestern pflegen sie gemeinsam.<br />

Behutsam wird Cornelius mit dem Rollstuhl ins Wohnzimmer<br />

geschoben. Die Mutter weint, als sie ihren Sohn erkennt.<br />

„Das ist so was von schön!“, sagt sie immer wieder.<br />

Bless blieb seiner Familie immer nah, auch mit dem<br />

Christentum brach er nicht – er schrieb sogar eine Bibelübertragung<br />

für Nicht-Gläubige, „Schlüsselsätze für Schätze“, die<br />

er im Copyshop binden ließ und 2018 in der Mathilde-Bar in<br />

Ottensen vorstellte. Aber das Ziel, endgültige Antworten zu<br />

finden – davon verabschiedete er sich für immer. „Ich bin ein<br />

Spurensucher“, sagt er am Ende seines Lebens.<br />

38


Lebenslinien<br />

Der Wünschewagen<br />

Der Wünschewagen des Arbeiter-Samariter-Bundes erfüllt<br />

letzte Herzenswünsche von Menschen, die nicht mehr lange<br />

l eben. Ein Team aus jeweils zwei Ehrenamtlichen begleitet<br />

die Fahrt und kann im Notfall medizinische Hilfe leisten.<br />

Für die Passagiere ist die Wunschfahrt kostenlos. In Hamburg<br />

ist der Wünschewagen seit Oktober 2017 unterwegs.<br />

Infos unter www.wuenschewagen.de/hamburg<br />

Anker<br />

des Lebens<br />

Wünschen Sie<br />

ein persönliches<br />

Gespräch?<br />

Kontaktieren Sie<br />

unseren Geschäftsführer<br />

Jörn Sturm.<br />

Tel.: 040/32 10 84<br />

03 oder E-Mail: joern.<br />

sturm@hinzundkunzt.de<br />

Was er fand, wollte er teilen: „Ich achte darauf, was den<br />

Leuten weiterhilft“, sagt Bless. Weit mehr als 100 Sprüche<br />

umfasste seine Standardsammlung, je nach Anlass und<br />

Stimmung kamen weitere dazu. Die Kundschaft in den<br />

Kneipen zog auf gut Glück ein Kärtchen, anfangs noch<br />

für eine Mark, später für 50 Cent, am Ende ließ er die<br />

Leute selbst entscheiden und bekam, so erinnert sich seine<br />

Schwester, oft deutlich mehr.<br />

Einen geregelten Job hatte Cornelius Bless nicht mehr,<br />

nachdem er seine Nachtschichten in einer Druckerei, die<br />

sein Studium finanzierten, zugunsten der Laternenrunden<br />

aufgegeben hatte. Eine Weile versuchte er sich als Verleger<br />

von Postkarten, brachte es aber nicht weit. „Ich bin kein<br />

Geschäftsmann“ – mehr hatte der Philosoph zur Frage<br />

nach seiner Erwerbsarbeit nicht zu sagen. Er habe von der<br />

Hand in den Mund gelebt, sagt seine Schwester. Bless<br />

brauchte nicht viel: Wohnen konnte er bei seiner Freundin,<br />

er pflegte sie jahrelang und durfte mietfrei bleiben, als sie<br />

gestorben war. In seinem großen Freundeskreis war immer<br />

jemand, der ihn zum Fußball einlud oder ihn mit dem<br />

Auto mitnahm – Bless war glühender St.-Pauli-Fan.<br />

Als er im Februar ins Hospiz zog, besuchten sie ihn dort,<br />

oft mehrere Gäste an einem Tag.<br />

Er werde bestimmt noch einmal nach Albersdorf zur<br />

Mutter fahren, kündigt Bless beim ersten Gespräch nach<br />

der Tour mit dem Wünschewagen an. Einige Tage später<br />

hat er den Plan geändert. Er wolle seiner Mutter keinen<br />

erneuten Abschied zumuten, erklärt er. Er müsse nun üben,<br />

Dinge zu lassen. „Ich lerne auch, das Wörtchen ‚gelassen‘<br />

ganz neu durchzubuchstabieren“, sagt Bless langsam.<br />

„Und dass es mit all diesen Facetten zu tun hat: zurücklassen,<br />

loslassen, sein lassen.“ Leicht fällt ihm das nicht.<br />

Da sei noch so vieles, was sein Herz erfreut. Fehlt etwas in<br />

seinem Leben? Bless denkt nach und sagt: „Im Nachhinein<br />

sehe ich, dass es alles total stimmig war.“<br />

Am 10. April 2022 starb Cornelius Bless im Hospiz. In<br />

der kleinen Kirche in Albersdorf verabschiedeten ihn seine<br />

Freund:innen und Angehörigen mit einer „Shalom-Feier“.<br />

Alle Gäste trugen bunte Kleider. •<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> bietet obdachlosen Menschen Halt. Eine Art Anker<br />

für diejenigen, deren Leben aus dem Ruder gelaufen ist. Möchten<br />

Sie uns dabei unterstützen und gleichzeitig den Menschen,<br />

die bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> Heimat und Arbeit gefunden haben, helfen?<br />

Dann hinterlassen Sie etwas Bleibendes – berücksichtigen Sie<br />

uns in Ihrem Testament! Als Testamentsspender:in wird Ihr Name<br />

auf Wunsch auf unseren Gedenk-Anker in der Hafencity graviert.<br />

Ein maritimes Symbol für den Halt, den Sie den sozial<br />

Benachteiligten mit Ihrer Spende geben.<br />

<br />

<br />

Annabel Trautwein hat auch einen<br />

„Geistesblitz“ gezogen: „Suche das Eine,<br />

nicht das Viele.“ Sie denkt seitdem<br />

darüber nach, was er bedeutet.<br />

annabel.trautwein@hinzundkunzt.de<br />

39


Intern<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />

Kaum wegzudenken:<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Urgestein<br />

Sigi geht nach<br />

28 Jahren in Rente.<br />

„Sigi ist die Seele von<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>“<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> ohne Vertriebsmitarbeiter Sigi?<br />

Eigentlich nicht vorstellbar! Doch unser Urgestein geht<br />

im <strong>Juni</strong> in Rente. Ein Rückblick mit Wehmut.<br />

TEXT: SYBILLE ARENDT<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

N<br />

a, Amigo mio!“ So begrüßt<br />

Sigi Pachan gerne und laut die<br />

Verkäufer:innen im Vertriebsraum<br />

von Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Seine Stimme<br />

übertönt sogar die ratternde Kleingeldzählmaschine.<br />

Sowieso kommt niemand<br />

an Sigis Platz vorbei: direkt hinter<br />

dem Tresen am Eingang. Kernige<br />

Sprüche sind so typisch für ihn wie die<br />

Lederweste mit Fransen. Ohne die ist<br />

Sigi gar nicht vorstellbar. Deshalb auch<br />

sein Spitzname „Vertriebsindianer“.<br />

40<br />

Seit April 1994 gehört er zu<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Sigi erinnert sich genau<br />

an den Tag, als er seinen Arbeitsvertrag<br />

unterschrieb. Damals lebte er noch auf<br />

der Straße. „Ich habe hier und dort<br />

Platte gemacht, im Müllcontainer


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Intern<br />

gepennt und auch mit einer Gruppe in<br />

einem Zelt in Finkenwerder.“<br />

Ursprünglich kommt Sigi aus dem<br />

Schwarzwald. „Ich bin im Heim aufgewachsen,<br />

wurde dort gequält und geschlagen“,<br />

sagt er knapp. „Mit 15 bin<br />

ich abgehauen.“ Er absolviert zwar eine<br />

Lehre als Radio- und Fernsehtechniker,<br />

arbeitet aber nie richtig in dem Beruf.<br />

„Ich habe zwischen Tür und Angel<br />

gelebt, Dinge angefangen und immer<br />

wieder hingeschmissen.“ Er schläft<br />

bei Kumpels, trinkt. „Anfangs aber<br />

noch moderat.“<br />

Zugleich trägt er Sehnsucht nach<br />

Beständigkeit in sich. Sigi verliebt<br />

sich und heiratet. Seine Frau und er bekommen<br />

zwei Kinder. „Ich erinnere<br />

mich noch, wie ich meinen Kleinen das<br />

erste Mal in der Hand hielt.“ Aber die<br />

Sucht und seine Unbeständigkeit sind<br />

schlecht fürs Familienleben; gut verdientes<br />

Geld ist schnell wieder weg.<br />

„Sparen war nie mein Ding: Geld ist<br />

zum Ausgeben da“, sagt Sigi. Doch das<br />

größte Problem: „Ich war Alkoholiker,<br />

habe meiner Frau das Blaue vom<br />

Himmel erzählt.“ Ohne Bitterkeit sagt<br />

er: „Wir könnten sicher heute noch<br />

zusammen sein, wenn ich nicht so viel<br />

getrunken hätte.“<br />

Aber damals konnte er nicht anders.<br />

Nach zehn Jahren reicht seine Frau die<br />

Scheidung ein. „Sie hat sich bemüht, ich<br />

habe mir alles verbaut.“ Sigi macht sich<br />

auf Richtung Hamburg: „Ich wollte<br />

1000 Kilometer zwischen uns legen.<br />

Solange ich am Saufen war, hatten Ehe<br />

und Familie keinen Sinn.“ Vor zwei<br />

Jahren gab es erstmals wieder Kontakt<br />

zwischen Sigi und seinen Kindern. Sogar<br />

ein Wiedersehen war geplant. „Leider<br />

kam dann Corona dazwischen.“<br />

In Hamburg wird alles zunächst<br />

noch schlimmer. Sigi trinkt mehr Alkohol,<br />

landet auf der Straße. Sieben Jahre<br />

schläft er draußen. „Das Schlimmste<br />

war eine Nacht bei minus 23 Grad. Und<br />

ich lag auch noch am Wasser“, erinnert<br />

er sich. 1993, nach der Gründung von<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>, erzählen ihm Kumpels<br />

vom Straßenmagazin. Sigi bekommt<br />

einen Verkäuferausweis. „Den habe ich<br />

noch heute.“ Er mag das Verkaufen und<br />

die Gespräche mit den Kund:innen.<br />

Schon nach wenigen Monaten bekommt<br />

er eine feste Anstellung im Vertrieb.<br />

Sigi hört auf zu trinken, entgiftet<br />

und macht eine Therapie. „Ich wollte es<br />

unbedingt, und ich bin ein Sturkopf.“ Es<br />

gibt Rückfälle, aber das ist die Regel bei<br />

einer schweren Suchterkrankung. Sigi<br />

bekommt eine Wohnung und wird bald<br />

zu einer Vertrauens- und Respektsperson<br />

im Vertrieb – bis heute.<br />

Seine raue, aber herzliche Art mögen<br />

einfach alle. Die Verkäufer:innen,<br />

weil sie wissen, dass er mal einer von<br />

ihnen war. Die Kolleg:innen, „weil<br />

man mit Problemen immer zu ihm<br />

kommen kann“, wie Marcel sagt. Silvia<br />

ergänzt schlicht: „Sigi ist die Seele von<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>.“ Nur wenn ihm etwas<br />

nicht gefällt oder jemand sich nicht<br />

korrekt verhält, ist schnell Schluss mit<br />

der Freundlichkeit. „Ich mache vor<br />

niemandem einen Bückling“, sagt Sigi.<br />

Alkoholrückfälle und zwischendurch<br />

Geldsorgen sind nun auch schon<br />

länger her. Sigi hat eine Schuldenberatung<br />

beim Diakonischen Werk und<br />

eine Privatinsolvenz hinter sich. Er ist<br />

zufrieden: „Ich bereue keine einzige<br />

Sekunde. Ich habe mein Leben genossen<br />

und mir alles selbst beigebracht.“<br />

Einsam fühlt er sich indes schon manchmal:<br />

„Richtig viele Freunde habe ich<br />

nicht.“ Auch gesundheitliche Probleme<br />

zeigen sich. „Altersgerecht: Die Beine<br />

schmerzen, die Pumpe ist im Arsch“,<br />

meint der 65-Jährige trocken.<br />

„Ich bereue<br />

keine einzige<br />

Sekunde.“<br />

Insofern ist es gut, dass nun Schluss ist<br />

mit der Arbeit. Aber nach dem geplanten<br />

Urlaub wird Sigi Hinz&Künztler:innen<br />

am Verkaufsplatz besuchen<br />

und sie wie immer herzlich mit<br />

„Na, Amigo mio“ begrüßen. •<br />

sybille.arendt@hinzundkunzt.de<br />

Sigi, immer und überall: Die Bilder zeigen ihn (v. l. oben n. r. unten) mit Ausgabe<br />

Nr. 5/1994, auf der Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Reise zum Papst nach Rom 2016, mit Verkäufer- und<br />

Vertriebskollegen Weihnachten 2015 und 2016 als „Koch des Monats“ in einer Serie.<br />

SIGI<br />

41


Freunde<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />

Barbara Engelke:<br />

„Engagement für<br />

andere gibt meinem<br />

Leben Sinn.“<br />

Den Faden nicht<br />

verlieren<br />

Eine brasilianische Legende brachte Barbara Engelke auf die Idee:<br />

Ihr Verein Costura hilft Frauen in Brasilien, auf eigenen Füßen zu stehen.<br />

Für den Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Shop haben diese Frauen nun Taschen genäht.<br />

TEXT: MISHA LEUSCHEN<br />

FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

42<br />

Einer guten Geschichte kann<br />

Barbara Engelke nur schwer<br />

widerstehen. „Ich bin eine<br />

Frau der Worte“, sagt die<br />

Hamburger Drehbuchautorin – und<br />

den Worten lässt sie Taten folgen. In<br />

Brasilien erfuhr sie von einer Legende,<br />

die sie nicht mehr losließ. „Sie erzählt<br />

von einem Mann, der seine zweite<br />

Frau nicht heiraten kann oder will –<br />

so ganz klar wird das nicht. Als sie<br />

schwanger wird, kauft er ihr eine Nähmaschine,<br />

damit sie sich und ihre<br />

Kinder ernähren kann.“<br />

Nähmaschinen wurden der Grundstein<br />

für ihren gemeinnützigen Verein<br />

Costura im nordbrasilianischen Maragogi.<br />

Costura heißt auf Portugiesisch<br />

„nähen“ – und genau darum geht es.<br />

Der Verein finanziert eine Nähschule,<br />

in der Frauen in einer kostenlosen<br />

Ausbildung das Nähen lernen, während<br />

ihre Kinder dort betreut werden. Die<br />

meisten der Frauen sind alleinerziehend,<br />

haben viele Kinder, oft von<br />

unterschiedlichen Vätern, manche sind<br />

Analphabetinnen. „Costura soll ihnen<br />

eine Perspektive bieten.“ Dabei sei das<br />

Nähen viel mehr als ein Handwerk:<br />

„Viele der Frauen glauben nicht, dass<br />

sie etwas können. Wenn sie dann zum<br />

ersten Mal ein selbstgeschneidertes<br />

Kleid in den Händen halten, sind sie<br />

stolz und ihr Selbstbewusstsein wächst.“<br />

Auch Taschen oder Spielzeug<br />

werden bei Costura gefertigt, oft sind


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

die Materialien recycelt. So erhalten<br />

Fahrradschläuche oder Sonnenschirme<br />

ein zweites Leben – wie die Tasche, die<br />

nun im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Shop erhältlich ist<br />

(Anzeige S. 23). Der Erlös wird zwischen<br />

Costura und Hinz&<strong>Kunzt</strong> geteilt.<br />

Dass man mit seinen Herausforderungen<br />

wächst, hat Barbara Engelke im<br />

Leben selbst erfahren. Per Zufall landete<br />

sie bei Studio Hamburg, zuerst als<br />

Sekretärin, später als Regieassistentin.<br />

Doch ihr Herz schlug fürs Schreiben, ein<br />

ZDF-Stipendium für Serienautor:innen<br />

brachte die Wende: Barbara Engelke<br />

wurde Drehbuchautorin, entwickelte ab<br />

den 1990ern Serien wie „Im Tal der wilden<br />

Rosen“ und andere Serienformate,<br />

schrieb Drehbücher fürs „Traumschiff“<br />

und für die „Kreuzfahrt ins Glück“.<br />

Auf einer Reise verliebte sie sich in<br />

einen brasilianischen Landschaftsarchitekten.<br />

1992 heirateten sie und<br />

bauten in Maragogi ein Haus. Heute sei<br />

Maragogi in ganz Brasilien bekannt,<br />

viele Prominente hätten dort Häuser.<br />

„Wir waren damals Pioniere. Es gab<br />

nichts, nur uns.“ Unter abenteuerlichen<br />

Bedingungen entstanden dort ihre<br />

Adaptionen der Rosamunde-Pilcher-<br />

Romane – Fantasien über das kühle<br />

Cornwall in der brasilianischen Hitze.<br />

Freunde<br />

Als ihre Ehe zerbrach, fand sich Barbara<br />

Engelke mit einem schwer kranken<br />

kleinen Kind in einem fremden Land<br />

wieder. „Ich habe damals so viel emotio<br />

nale Unterstützung von den Frauen<br />

dort erfahren, dafür wollte ich etwas<br />

zurückgeben“, sagt die 62-Jährige. „So<br />

entstand Costura.“ Manchmal frage sie<br />

sich, was Helfen eigentlich bedeute:<br />

„Helfe ich dabei mir oder anderen? Ich<br />

verdanke dem Verein mindestens<br />

genauso viel wie er mir“, findet sie.<br />

Dass Hinz&<strong>Kunzt</strong> Menschen Hilfe zur<br />

Selbsthilfe gibt, imponiert ihr, deshalb<br />

wurde sie auch Mitglied im Freundeskreis.<br />

„Dieses Engagement für andere<br />

gibt meinem Leben Sinn.“ •<br />

redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Praktisch und nachhaltig:<br />

Die Umhängetasche Maragogi urbana<br />

aus dem Selbsthilfeprojekt Costura! e. V.<br />

können Sie für 20 Euro im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />

Shop erwerben:<br />

www.hinzundkunzt.de/shop,<br />

siehe auch die Anzeige auf Seite 23.<br />

Mehr Infos zum Projekt unter<br />

www.costura-ev.de<br />

JA,<br />

ich werde Mitglied<br />

im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />

Freundeskreis.<br />

Damit unterstütze ich die<br />

Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />

Meine Jahresspende beträgt:<br />

60 Euro (Mindestbeitrag für<br />

Schüler:innen/Student:innen/<br />

Senior:innen)<br />

100 Euro<br />

Euro<br />

Datum, Unterschrift<br />

Ich möchte eine Bestätigung<br />

für meine Jahresspende erhalten.<br />

(Sie wird im Februar des Folgejahres zugeschickt.)<br />

Meine Adresse:<br />

Name, Vorname<br />

Straße, Nr.<br />

PLZ, Ort<br />

Telefon<br />

E-Mail<br />

Einzugsermächtigung:<br />

Ich erteile eine Ermächtigung zum<br />

Bankeinzug meiner Jahresspende.<br />

Ich zahle: halbjährlich jährlich<br />

Dankeschön<br />

IBAN<br />

Wir danken allen, die uns im Mai 2022<br />

unterstützt haben, sowie allen Mitgliedern im<br />

Freundeskreis von Hinz&<strong>Kunzt</strong>! Ausdrücklich<br />

danken wir allen Spender:innen –<br />

wir freuen uns über kleine und große Beträge!<br />

Auch unseren Unterstützer:innen auf<br />

Facebook: ein großes Dankeschön!<br />

DANKESCHÖN EBENFALLS AN:<br />

• wk-it-consultants GmbH<br />

• die Hamburger Tafel<br />

• Produktionsbüro<br />

Romey von Malottky GmbH<br />

• Obstmonster GmbH<br />

• Hanseatic Help<br />

• Axel Ruepp Rätselservice<br />

• die Hamburger Kunsthalle<br />

• Passage gGmbH<br />

• die Blindenwerkstatt H. Sieben<br />

• Lot 1, faire Kunstauktionen für Berlin<br />

• Neal und Helge Henke<br />

• Robert Half GmbH<br />

• die Geburtstagsfeier Flottbek<br />

NEUE FREUNDE:<br />

• Martina Allam<br />

• Hilke und Jürgen Diederichs<br />

• Stephanie Dreier • Kim Ferner<br />

• Christian Grigo • Jörn-Peter Hinz<br />

• Thomas Kloppe • Gerhard Palder<br />

• Gisela Reich • Lorenz Ritter<br />

BIC<br />

Bankinstitut<br />

Ich bin damit einverstanden, dass mein Name in<br />

der Rubrik „Dankeschön“ in einer Ausgabe des<br />

Hamburger Straßenmagazins veröffentlicht wird:<br />

Ja<br />

Nein<br />

Wir garantieren einen absolut vertraulichen<br />

Umgang mit den von Ihnen gemachten Angaben.<br />

Die übermittelten Daten werden nur zu internen<br />

Zwecken im Rahmen der Spendenverwaltung<br />

genutzt. Die Mitgliedschaft im Freundeskreis ist<br />

jederzeit kündbar. Wenn Sie keine Informationen<br />

mehr von uns bekommen möchten, können<br />

Sie jederzeit bei uns der Verwendung Ihrer<br />

personenbezogenen Daten widersprechen.<br />

Unsere Datenschutzerklärung können Sie<br />

einsehen unter www.huklink.de/datenschutz<br />

Bitte Coupon ausschneiden und senden an:<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Freundeskreis<br />

Minenstraße 9, 20099 Hamburg<br />

Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk<br />

43<br />

HK <strong>352</strong>


Buh&Beifall<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />

Was unsere Leser:innen meinen<br />

„Dem Senat die Schuld zu geben, ist absurd“<br />

Senat nicht schuld<br />

H&K online: „Wohnungsneubau in Hamburg<br />

eingebrochen“<br />

Jeder weiß um die stark gestiegenen<br />

Preise für Baumaterialien und Grundstücke,<br />

um die durch Corona verursachten<br />

weltweiten Lieferengpässe und<br />

um den Fachkräftemangel im Handwerk.<br />

Dem Hamburger Senat die<br />

Schuld daran zu geben, dass das Ziel<br />

von 10.000 neuen Wohnungen nicht<br />

erreicht wurde, ist absurd und weltfremd.<br />

<br />

ANDREA STABENOW<br />

Tote können nicht helfen<br />

H&K 351, Schwerpunkt: Wie geht Frieden?<br />

„Ich gehöre diesem Land nicht“<br />

Nicht jeder ist ein guter Soldat.<br />

So wie der Kriegsdienstverweigerer<br />

selbst sagt: Er möchte anders helfen,<br />

ein toter Mann könnte das nicht. <br />

<br />

ERICH HEEDER<br />

Versorgen statt fordern<br />

H&K 351: Leserbrief: Demütigung bei der Tafel<br />

Das man sich über einen Leserbrief bei<br />

Ihnen aufregen muss, hätte ich nicht gedacht!<br />

Ein Ukrainer in Deutschland und<br />

dazu noch Jurist (!) muss anstehen wie<br />

alle Deutschen, die trotz der eigenen Not<br />

versuchen, Hunderte von Ukrainer:innen<br />

zu versorgen, solange die Spenden reichen.<br />

Vielleicht kann die Schreiberin ihn<br />

versorgen statt zu fordern! MARIA KUHLI<br />

Wir sind begeistert!<br />

H&K allgemein<br />

Wir in der Schweiz sind eifrige Leser<br />

Ihres Magazins. Sind immer wieder<br />

begeistert. PETER UND BÉATRICE SCHMITZ-HÜBSCH<br />

Leser:innenbriefe geben die Meinung der<br />

Verfasser:innen wieder, nicht die der Redaktion.<br />

Wir behalten uns vor, Briefe zu kürzen. Über Post<br />

an briefe@hinzundkunzt.de freuen wir uns.<br />

Wir trauern um<br />

Emmanuel A. Oppöng<br />

6. <strong>Juni</strong> 1982– <strong>Juni</strong> 2021<br />

Emmanuel war nicht lange Verkäufer. Er verstarb<br />

schon im vergangenen Jahr in seiner Heimat Ghana.<br />

Die Verkäufer:innen und das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Team<br />

Wir trauern um<br />

Janosz Cybulski<br />

18. Mai 1951– 14. April 2022<br />

Janosz hat zuletzt im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Haus gewohnt.<br />

Dort ist er friedlich vor dem TV eingeschlafen.<br />

Die Verkäufer:innen und das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Team<br />

Wir trauern um<br />

Paul Viktor Muletz<br />

3. November 1985 – 6. April 2022<br />

Paul wurde leblos in seinem Rollstuhl<br />

in der Innenstadt aufgefunden.<br />

Die Verkäufer:innen und das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Team<br />

HAMBURGER NEBENSCHAUPLÄTZE<br />

Der etwas andere<br />

Stadtrundgang<br />

Wollen Sie<br />

Hamburgs City<br />

einmal mit<br />

anderen Augen<br />

sehen? Abseits<br />

der glänzenden<br />

Fassaden zeigen wir<br />

Orte, die in keinem<br />

Reiseführer stehen:<br />

Bahnhofsmission<br />

statt Rathaus und<br />

Tagesaufenthaltsstätte<br />

statt Alster.<br />

Sie können mit<br />

unserem Stadtführer<br />

Chris zu Fuß auf<br />

Tour gehen, einzeln<br />

oder als Gruppe mit<br />

bis zu 25 Personen.<br />

Auch ein digitaler<br />

Rundgang ist<br />

möglich. Das ist fast<br />

genauso spannend.<br />

Offener Rundgang am Sonntag, 12.6. und 26.6.22, jeweils 15 Uhr.<br />

Reguläre Rundgänge bequem selbst buchen unter:<br />

www.hinzundkunzt.de/stadtrundgang<br />

Digitale Rundgänge bei friederike.steiffert@hinzundkunzt.de oder<br />

Telefon: 040/32 10 84 04<br />

Kostenbeitrag: 5 Euro/10 Euro<br />

pro Person<br />

trostwerk.de<br />

andere bestattungen<br />

040 43 27 44 11<br />

Freude schenken ...<br />

... mit Produkten aus fairem Handel<br />

• Kaffee, Tee, Schokolade ...<br />

• Geschenke, Körbe, Musikinstrumente, Bücher, Lederwaren,<br />

Spielzeug - aus Afrika, Asien und Lateinamerika ...<br />

Fairhandelszentrum Groß- und Einzelhandel<br />

Fachbuchhandlung • Stresemannstr. 374 • 22761 Hamburg<br />

Tel.: 040 / 890 61 33 • Fax: 040 / 899 74 52<br />

www.sued-nord-kontor.de<br />

Öffnungszeiten: Dienstag - Freitag 10.00 - 19.00 Uhr<br />

Samstag 10.00 - 14.00 Uhr


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Kreativ: Raman Djafari lässt Elton John und Dua Lipa in Traumwelten tanzen (S. 46).<br />

Kino: Das Hamburger Kurzfilmfestival widmet sich dem Thema „Wohnen und Leben“ (S. 50).<br />

Kämpferin: Hinz&Künztlerin Madina steht wieder auf eigenen Beinen (S. 58).<br />

Die „Millerntor Gallery“ geht in die<br />

10. Runde. Besucher:innen<br />

können sich vom 23. bis 26. <strong>Juni</strong><br />

auf außergewöhnliche Kunst in<br />

Stadion atmosphäre freuen.<br />

Tagesticket: 19 Euro.<br />

Weitere Infos und Programm:<br />

www.millerntorgallery.org<br />

FOTO: STEFAN GROENVELD


Hat ein Faible für<br />

unheimliche Wesen:<br />

Raman Djafari vor seinem<br />

Wilhelms burger Atelier


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

„Ich bin nicht<br />

präzise – ich<br />

bin diffus“<br />

Wer an Animationsfilme denkt, hat meist Pixar-Werke<br />

wie „Toy Story“ vor Augen. Die Videos von Raman Djafari<br />

sind anders: dunkel, traumartig und poetisch.<br />

Der Hamburger Filmemacher über die Qualität<br />

des Zweifelns, das schwierige Berufsfeld Animationskünstler<br />

und die Zusammenarbeit mit Elton John.<br />

D<br />

a ist dieser Typ in Grün. Grüne<br />

Melone, grüne Schlaghose,<br />

grüne Jacke mit goldenen<br />

Sternen. Es ist die Cartoon-<br />

Version von Elton John, wie er Mitte der<br />

1970er-Jahre zuweilen auftrat. Zusammen<br />

mit einer animierten Dua Lipa durchtanzt<br />

Johns Avatar die quietschbunten Landschaften<br />

im Musikvideo zu „Cold Heart“,<br />

zwischen Blumenblüten mit Augen, fliegenden<br />

Fischen, einem Kometen in Menschengestalt<br />

und Rolltreppen, die in die<br />

Milchstraße führen. All das entstammt der<br />

Fantasie von Raman Djafari. „Cold Heart“<br />

war die langersehnte Comeback-Single des<br />

britischen Superstars Elton John, ein perfekter<br />

Ohrwurm für den Sommer 2021,<br />

und das Video überließ man einem 28 Jahre<br />

alten Master- Studenten der Hochschule<br />

für Angewandte Wissenschaften Hamburg<br />

(HAW). Doch beinahe hätte Djafari das<br />

Projekt gar nicht erst begonnen.<br />

Acht Monate nach dem Erscheinen<br />

von „Cold Heart“ sitzt der Illustrator und<br />

Filmemacher in der hinteren Ecke eines<br />

großen Atelierraumes, mit Blick auf den<br />

Veringkanal in Hamburg- Wilhelmsburg.<br />

Hier, im ersten Stock im Atelierhaus 23,<br />

arbeitet Djafari an seinen wunderlichen<br />

Krea turen. Der Mann braucht dafür weder<br />

Staffelei noch Pinsel, noch nicht einmal gute<br />

Malstifte. Zwischen Grünpflanzen und<br />

alten Sofas balanciert Djafari ein kleines<br />

schwarzes Notizbuch auf den Knien. Mit<br />

TEXT: JAN PAERSCH<br />

FOTOS: MIGUEL FERRAZ; FILMSTILLS: RAMAN DJAFARI<br />

47<br />

blauem Kugelschreiber zeichnet er hinein.<br />

„Ich sitze herum und hab’ Wolken im<br />

Kopf“, sagt der gebürtige Berliner über die<br />

Inspirationen, die sein Skizzenbuch füllen.<br />

Raman Djafari hat ein Faible für<br />

unheimliche Wesen. Seine mensch lichen<br />

Figuren haben große Köpfe, überdimensionale<br />

Augen, üppige Lippen und bunte<br />

Fingernägel, genau wie ihr Schöpfer, dessen<br />

Nägel links rot und rechts hellblau<br />

lackiert sind.<br />

Wie alle Djafari-Kreaturen strahlen<br />

die Tanzenden in „Cold Heart“ eine<br />

gewisse Traurigkeit aus. „Mir gefällt<br />

die Stop-Motion-Technik von Filmemacher:innen<br />

wie Wes Anderson“, sagt<br />

der Künstler. „Weil sie Puppen sind, haben<br />

die Figuren eine große Verletzlichkeit und<br />

eine physische, nahbare Präsenz. Das<br />

macht etwas mit mir, und das wollte ich<br />

auch für meine Filme.“<br />

Djafaris 3-D-Gestalten sehen nach abgefilmten<br />

Knetfiguren aus, entstehen aber<br />

mit seinem Hauptwerkzeug, dem Computer.<br />

Mit der Software Blender („Ich habe<br />

mir das per Youtube raufgeschafft. Wenn<br />

du das Handbuch liest, schläfst du ja ein.“)<br />

baut er virtuelle Räume, in denen er Kameras<br />

und Licht platzieren und nach seinen<br />

Vorstellungen filmen kann. Dann programmiert<br />

er grafische Elemente und<br />

gestaltet die Oberflächenstruktur der Figuren,<br />

macht sie beispielsweise rauer oder<br />

glatter. Zusätzlich legt er auf die Gesichter


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Djafaris Ideen entstehen mit Kugelschreiber und Skizzenbuch. Unten: Am Computer<br />

werden sie zu Bewegtbildern. Hier ein Entwurf für das Musikvideo „Pamphlets“ von Squid.<br />

handgemalte Oberflächen – so bleibt ein<br />

zeichnerisches Element stets präsent.<br />

Wir sitzen vor dem Atelierhaus am<br />

Kanal in der Sonne. Raman Djafari, die<br />

dunkelblonden Haare zum Dutt hochgebunden,<br />

trinkt Kaffee und erzählt,<br />

wie eine Leidenschaft zu seinem Beruf<br />

wurde. Aufgewachsen in Berlin-Charlottenburg,<br />

trifft er sich schon früh mit<br />

Freunden zum Malen, erstellt bereits im<br />

Kindergarten eine ganze Mappe mit<br />

Pokemon-Motiven. Auf dem Gymnasium<br />

gibt es Lehrer:innen, die es aufgeben,<br />

ihn vom heimlichen Kritzeln unter<br />

dem Pult abzuhalten.<br />

„Das Zeichnen gab mir Sicherheit<br />

und ein starkes Gefühl von Geborgenheit.<br />

Das war eine kleine Welt, in die ich<br />

kriechen konnte. Cartoons, Animes und<br />

Mangas haben mich geprägt, auch<br />

Graffiti. Ich hatte aber immer Schiss,<br />

nachts raus zu gehen und Züge zu<br />

besprühen. Ich war nicht heiß genug<br />

auf den Adrenalinkick.“ Mit 19 Jahren<br />

geht er nach Hamburg und beginnt ein<br />

Illustrations-Studium an der HAW.<br />

Mit Animationen für Videospiele<br />

finanziert er sich sein Studium, es folgen<br />

Editorials, Illustrationen für Magazine.<br />

„Das mache ich nur noch selten“, sagt<br />

Djafari. „Ich brauche zu viel Zeit, um<br />

eine Idee gären zu lassen. Bei Editorials<br />

geht es um eine konkrete Idee, man<br />

muss präzise sein. Ich bin aber nicht<br />

präzise – ich bin diffus; meine Bilder<br />

sind emotional und poetisch. Ich hatte<br />

lange Zeit Angst vorm Scheitern, aber<br />

irgendwann habe ich ein Gefühl für die<br />

Qualität des Zweifelns bekommen.<br />

Mein Hauptmotiv ist Unsicherheit.<br />

Jedes Projekt hat einen unsicheren<br />

Beginn. Ich taste in alle Richtungen, bis<br />

etwas Klick macht.“<br />

An seinem ersten Musikvideo arbeitet<br />

er ein halbes Jahr lang, auch an<br />

Wochenenden. Und bekommt dafür<br />

2000 Euro. „Es ist ein prekäres Berufsfeld“,<br />

meint Djafari. „Bei Animation<br />

werden oft die Preise gedrückt. An einer<br />

Bewerbung, einem Pitch, arbeitest du<br />

eine Woche lang – und wenn du nicht<br />

großes Glück hast, bekommst du dafür<br />

gar nichts. Das ist nicht okay. Es braucht<br />

eigentlich so etwas wie eine Gewerkschaft<br />

der Kreativbranche.“<br />

Raman Djafari ist ein offenherziger<br />

Gesprächspartner, der viel lächelt. Auf<br />

der für bildende Künstler:innen so wichtigen<br />

Plattform Instagram hat er mehr<br />

als 70.000 Follower und zeigt dort ganz<br />

unverblümt, woher seine Ideen stammen.<br />

Für den menschlichen Kometen in<br />

„Cold Heart“ lässt er sich von Kostümen<br />

und Bühnenbildern des Stummfilm-<br />

Pioniers Georges Méliès inspirieren.<br />

Wer heute an Animationsfilme<br />

denkt, hat fast immer Disney oder Pixar<br />

vor Augen. Doch Djafaris Videos haben<br />

nichts von dem auf alle Altersgruppen<br />

zugeschnittenen Hollywood-Glanz von<br />

„Soul“ oder der „Toy Story“-Reihe,<br />

zwei Erzeugnissen der weltbekannten<br />

Animationsstudios.<br />

„Dieser perfekte Style ist nichts für<br />

mich“, so Djafari. „Ich finde es toll,<br />

wenn Leute emotional und ohne Angst<br />

vor Kitsch Kunst machen. Das kann in<br />

die Hose gehen – aber das will ich mich<br />

trauen.“<br />

Djafaris Werke sind detailverliebt,<br />

dunkel und traumartig, MC Escher und<br />

René Magritte lassen sich darin erkennen.<br />

Er selbst nennt den Filmemacher<br />

Andrei Tarkowski und den Musiker<br />

Nick Cave als Inspirationsquelle.<br />

„Ich zweifle an mir, weil ich so<br />

sehr wie mein Vater bin“, heißt es<br />

in dem einminütigen Animationsfilm<br />

„I Want to Be the Ocean“, in dem<br />

Djafaris 3-D-Wesen etwas verloren herumstehen,<br />

in die Kamera blicken und<br />

bekennen, warum sie sich infrage stellen.<br />

Der Film mit den zerknautschten Knetfiguren<br />

vor farbgesättigten Hintergründen<br />

begründet so etwas wie eine Trilogie.<br />

Die englische Rockband Squid<br />

wird auf den Kurzfilm aufmerksam und<br />

beauftragt den Hamburger mit einem<br />

Video für ihren Song „Pamphlets“.<br />

„Eigentlich mag ich keine Rätselspiele“,<br />

sagt Djafari über sein beein druckendes,<br />

achtminütiges Werk, in dem Fliegen,<br />

48


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

blaue Äpfel und eine zum Himmel emporschwebende<br />

Teufels figur vorkommen.<br />

„Ich will Metaphern vermeiden. Aber bei<br />

dem Projekt hat sich das so gefügt. Der<br />

Song hat so einen Druck! Also wollte ich<br />

auch visuell wuchtig arbeiten.“<br />

Auf „Pamphlets“ folgt „Cold<br />

Heart“, Elton Johns erste Nummer-Eins-<br />

Single nach 16 Jahren. Das Video zum<br />

Song hat, Stand Anfang Mai, mehr als<br />

255 Millionen Klicks. „Fast hätte ich an<br />

dem Pitch gar nicht teilgenommen. Ich<br />

dachte: Die fragen bestimmt 150 Leute.<br />

Als ob ich da eine Chance hätte! Ich habe<br />

es dann doch gemacht. Die Vorgaben<br />

waren: Disco, Sommer, Spaß; das war es<br />

eigentlich. Dann haben die noch mit<br />

dem Design gehadert, meine Figuren<br />

waren ihnen ein bisschen zu hässlich.<br />

Aber ich durfte dann einfach mein Ding<br />

machen.“<br />

Djafari hat gut, aber nicht übermäßig<br />

an „Cold Heart“ verdient<br />

(„Es war keine lebensverändernde Summe.<br />

Du hast keine Hunderttausend<br />

auf dem Konto.“), bedauert aber, die<br />

Künstler:innen nicht persönlich gesprochen<br />

zu haben. Doch er weiß: mehr geht<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Raman Djafari,<br />

geboren 1993 in Berlin, ist Filmemacher,<br />

Illustrator und Animationskünstler<br />

mit Atelier in Hamburg-Wilhelmsburg.<br />

Viele seiner Arbeiten veröffentlicht<br />

er auf der Plattform Vimeo:<br />

vimeo.com/ramandjafari<br />

nicht. „Größer als Elton John und Dua<br />

Lipa wird’s nicht werden.“ Das Video<br />

hat ihm neue Aufmerksamkeit verschafft,<br />

beinahe mehr, als ihm lieb ist. Für 2022<br />

musste er einigen potenziellen Auftraggeber:innen<br />

absagen. „Ich hoffe, dass ich<br />

bald mehr Klarheit habe, ,Nein‘ zu sagen.<br />

Ich brauche eine Pause. Es sei denn,<br />

Kendrick Lamar benötigt ein Video für<br />

sein neues Album.“ Raman Djafari lacht,<br />

wenn er an den Rap- Superstar denkt,<br />

und wird dann wieder ernst.<br />

„Ich hätte nie gedacht, dass es so gut<br />

laufen würde. Das ist nicht die Norm.<br />

Die meisten Leute haben nicht so viel<br />

Glück.“ •<br />

redaktion@hinzundkunzt.de<br />

STADTPARK<br />

OPEN AIR<br />

2022<br />

DIGGING FOR NUTS<br />

SINCE 1975<br />

04.06. EROBIQUE<br />

05.06. NIEDECKENS BAP<br />

09.06. BEATSTEAKS<br />

12.06. LÜTT IM PARK<br />

13.06. THE NATIONAL<br />

14.06. GIANNA NANNINI<br />

15.06. KALEO<br />

01.07. THE WAR ON DRUGS<br />

02.07. MELISSA ETHERIDGE<br />

09.07. DANGER DAN<br />

14.07. JESSIE J<br />

21.07. JOE JACKSON<br />

22.07. THE GIPSY KINGS<br />

23.07. MAX MUTZKE<br />

27.07. TOTO<br />

Eine Veranstaltung<br />

von Semmel Concerts<br />

Das Kindermusik<br />

Open Air<br />

spec. guest:<br />

NILS WÜLKER<br />

49<br />

Für das Video<br />

zu ihrem Song<br />

„Cold Heart“<br />

pflanzte Raman<br />

Djafari Cartoons<br />

von Dua Lipa<br />

und Elton John<br />

in seine<br />

Traumwelten.<br />

02.08. HERBIE HANCOCK & BAND<br />

03.08. OMD<br />

04.08. FAT FREDDY‘S DROP<br />

06.08. BEST OF STAND UP SLAM<br />

07.08. DIE GROSSE COMEDY-GALA<br />

13.08. BEST OF POETRY SLAM<br />

15.08. JOSS STONE<br />

16.08. BIFFY CLYRO<br />

18.08. WINCENT WEISS<br />

25.+ 26.08. HELGE SCHNEIDER<br />

31.08. RUSS<br />

01.09. HUBERT VON GOISERN<br />

02.09. 10 JAHRE – DEINE FREUNDE<br />

08.09. GROSSSTADTGEFLÜSTER<br />

11.09. STEFAN GWILDIS<br />

TICKETS: (0 40) 4 13 22 60 \ KJ.DE \ TICKETS@KJ.DE<br />

VERANSTALTER<br />

STADTPARKOPENAIR.DE<br />

KARSTEN<br />

JAHNKE<br />

KONZERTDIREKTION<br />

GMBH<br />

Eine Veranstaltung von FKP Scorpio Konzertproduktionen GmbH<br />

03. + 04.09. AUSVERKAUFT<br />

GEFÖRDERT VON<br />

#stadtparkopenair<br />

MEDIENPARTNER


Nacht über<br />

Kepler 452b<br />

Hafenstraßenkonflikte<br />

als Kurzdokumentation<br />

Kurz und bündig<br />

Das diesjährige Hamburger Kurzfilmfestival widmet sich dem<br />

Thema „Wohnen und Leben“ und bietet dabei cineastische<br />

Impressionen sowie nüchterne Zeitdokumente – eine Auswahl.<br />

Am Hauptbahnhof<br />

eine Rose gekauft<br />

INNdependence<br />

TEXT: FRANK KEIL<br />

FILMSTILS: KONRAD WALDMAN (OBEN), DIE AUGEN SCHLIESSEN, UM BESSER ZU SEHEN (ZWEITE VON OBEN),<br />

AM HAUPTBAHNHOF EINE ROSE GEKAUFT (ZWEITES VON UNTEN), NACHTSCHWÄRMERFILM (UNTEN)<br />

50


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

INNdependence:<br />

Trotz Corona öffnet im Sommer 2020<br />

das Mainzer Hotel INNdependence:<br />

Für zwei Monate ziehen hier Wohnungslose<br />

ein. Drei von ihnen gewähren<br />

in der Kurzdoku „INNdependence“<br />

von Michael Schwarz Einblick<br />

in ihr Leben: „36 Jahre war ich auf der<br />

Rolle, weißt du, was das bedeutet?“,<br />

fragt Paul Michael Wagner, der seine<br />

Weißwein-Kartons stets ordentlich<br />

f altet, wenn sie leer sind. „Ich habe niemandem<br />

erzählt, was los ist“, sagt Jasmin<br />

Stock, die Linguistin, die, nach<br />

einer Erkrankung mittellos geworden,<br />

verdeckt obdachlos lebte. Der Flur wird<br />

gesaugt, die Betten werden gemacht,<br />

das Personal ist ausgesprochen zugewandt:<br />

Zwei Welten treffen aufeinander,<br />

für eine kurze Zeit. Die Frage, wie<br />

es mit den dreien weitergeht, bleibt.<br />

Nacht über Kepler 452b:<br />

„Da liegt einer, der bewegt sich nicht“,<br />

sagt die junge Frau am Telefon. Nein,<br />

angefasst hat sie ihn nicht, sie kommt<br />

gerade aus dem Club, entsprechend<br />

spät ist es, tief in der Nacht. Wir schauen<br />

sehr nah auf Matzes Gesicht, der<br />

ihr sagt, dass sie kommen, sobald sie<br />

Zeit dafür haben, er und seine Mitstreiter:innen<br />

vom Kältebus der Berliner<br />

Stadtmission. Ihre Liste ist noch lang.<br />

Die Stadt rauscht, die Großstadtlichter<br />

verschwimmen, der Kleinbus fährt von<br />

Ort zu Ort. Eine erzählt, dass sie nicht<br />

gerne träumt. Ein anderer, dass er trotz<br />

allem aufwachen will, jeden Tag wieder,<br />

im Hellen. „Nacht über Kepler 452b“<br />

hat der Fotograf und Filmregisseur Ben<br />

Voit seine splitterhaften Beobachtungen<br />

genannt, nach einem Exoplaneten,<br />

1400 Lichtjahre von der Erde entfernt.<br />

„Nicht weinen“, sagt Matze zu dem<br />

Mann, der vor ihnen liegt, offenbar<br />

schwer verprügelt. Alles werde gut.<br />

Wenigstens für diese eine Nacht.<br />

Am Hauptbahnhof<br />

eine Rose gekauft:<br />

Der Blutdruck ist 132/77. Die Wellensittiche<br />

wollen nicht fressen. Jürgen hat<br />

sich einer kommunistischen Gruppe angeschlossen.<br />

Alleine spazieren gegangen,<br />

abends Streit, lautet eine nächste Notiz.<br />

Dazu Blicke aus dem Fenster, schlurfende<br />

Schritte, die sich entfernen; Wellen<br />

kräuseln sich auf dem See. „Am Hauptbahnhof<br />

eine Rose gekauft“ der Hamburger<br />

Filmemacherin und Kamerafrau<br />

Julia Küllmer beruht auf den meist wortkargen<br />

Einträgen in den Tagebüchern<br />

ihres Großvaters von 1968 bis 2003.<br />

Entstanden ist der poetische Schwarz-<br />

Weiß-Film während der ersten, harten<br />

Coronamonate, als Küllmer ohne Arbeit<br />

und Einkommen auskommen musste.<br />

Und als andererseits Raum entstand für<br />

eine eigensinnige filmische Meditation<br />

über die Einsamkeit, der wir uns alle<br />

irgendwann mal stellen müssen.<br />

Hafenstraßenkonflikte als<br />

Kurzdokumentation:<br />

Zwei nüchterne Zeitdokumente: „Die<br />

Augen schließen, um besser zu sehen“<br />

geht zurück ins Jahr 1986. Die Hafenstraße<br />

ist besetzt, die Räumung droht.<br />

Eine monotone Off-Stimme erklärt die<br />

Lage: Dort stehen die bösen „Bullen“,<br />

hier warten die aufrechten Kämpfer.<br />

Das hat von heute aus gesehen eine<br />

manchmal fast unfreiwillige Komik.<br />

Schon anders „Bambule in der Hafenstraße“:<br />

die Momentaufnahme einer<br />

Demonstration von Bauwagen-Bewohner:innen<br />

im Jahr 2004 in eben der<br />

Hafenstraße. Damals wollte die Stadt<br />

alle Bauwagenplätze auflösen. Flott geschnitten,<br />

mit Kurzinterviews versehen<br />

und mit Musik der Band „Die Goldenen<br />

Zitronen“ unterlegt, spürt man<br />

gleich den Einfluss der MTV-Ästhetik<br />

jener Jahre. In beiden Fällen wundert<br />

man sich, wie vergangen diese Zeiten<br />

mittlerweile wirken. Noch etwas fällt<br />

beim Schauen auf: Frauen spielten<br />

damals so gut wie keine Rolle. •<br />

redaktion@hinzundkunzt.de<br />

„Wohnen und Leben“<br />

beim Kurzfilmfestival:<br />

„INNdependence“ und „Nacht über<br />

Kepler 452b“ laufen in der Sektion LAB/<br />

Programm 1: Mi, 1.6., 19 Uhr, 3001-Kino,<br />

Schanzenstraße 75. Im Anschluss an die<br />

Filme stehen unter anderem die Filmemacher<br />

und Sybille Arendt, Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />

Öffentlichkeitsarbeit, für einen<br />

Austausch zur Verfügung. Beide Filme<br />

laufen außerdem am So, 5.6., 17 Uhr,<br />

Zeise Kino, Saal 1, Friedensallee 7–9.<br />

„Am Hauptbahnhof eine Rose gekauft“<br />

sowie die Hafenstraßendokus laufen<br />

in der Sektion LAB/Programm 2:<br />

Mittwoch, 1.6., 21.30 Uhr, 3001-Kino;<br />

Sonntag, 5.6., 19 Uhr, Zeise Kino, Saal 1.<br />

Eintritt jeweils 8 Euro/ermäßigt 7 Euro.<br />

Gesamtes Festivalprogramm:<br />

www.festival.shortfilm.com<br />

JUNE 18 — SEPTEMBER 25, 2022<br />

DOCUMENTA<br />

FIFTEEN<br />

Kassel<br />

Hanging out,<br />

telling stories.<br />

www.documenta-fifteen.de


Kult<br />

Tipps für den<br />

Monat <strong>Juni</strong>:<br />

subjektiv und<br />

einladend<br />

Fotokunst<br />

Triennale in der ganzen Stadt<br />

„Donyale Lula Silver Dress“, das Foto von Charlotte March, ist<br />

in der Sammlung Falckenberg in Harburg zu sehen.<br />

Der <strong>Juni</strong> steht ganz im Zeichen der<br />

Fotokunst. Seit 1999 feiert Hamburg<br />

alle drei Jahre die Triennale, die F. C.<br />

Gundlach ins Leben gerufen hat. Die<br />

künstlerische Leiterin 2022 ist Koyo<br />

Kouoh, sie stammt aus Kamerun, hat<br />

Bankwesen und Kulturmanagement<br />

studiert und stellt die Triennale mit<br />

ihrem Kurator:innenteam unter das<br />

Motto „Currency“: Die Macht der<br />

Bilder, die über große Distanz hinweg,<br />

zeitlich sowie räumlich, Kultur und<br />

Politik prägt. In zwölf Museen der<br />

Stadt sind die Hauptausstellungen bis<br />

zum 18.9. zu sehen. Beim Highlight, dem<br />

Festival über Pfingsten, zeigen bei der<br />

„Triennial Expanded“ mehr als 50 Galerien<br />

lokale Satellitenausstellungen. •<br />

Diverse Kunstorte, Deichtorhallen,<br />

Buce rius Kunst Forum u. v. m., 2.–6.6.,<br />

Tages ticket 29 Euro, www.phototriennale.de<br />

52


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Auf Tuchfühlung<br />

mit<br />

frischem<br />

Kraut und<br />

weisen alten<br />

Bäumen<br />

Klassik<br />

Orgelmatinée zu Pfingsten<br />

Der Komponist Olivier Messiaen<br />

wird auch der Bach des 20. Jahrhunderts<br />

genannt. Domorganist Eberhard<br />

Lauer spielt dessen Pfingstmesse<br />

„Messe de la Pentecôte“ und den<br />

Himmelfahrtszyklus „L’Ascension“. •<br />

St. Marien-Dom, Am Mariendom 1,<br />

Mo, 6.6., 12 Uhr, Tickets 10/7 Euro,<br />

www.mariendomhamburg.de<br />

FOTOS: CHARLOTTE MARCH, DEICHTORHALLEN HAMBURG/FALCKENBERG<br />

COLLECTION (S. 52), PIXABAY (OBEN), HEIMAT 2050<br />

Kontakt zu Pflanzen<br />

Guten Tag, Herr Baum!<br />

Bäume, Kräuter und Pilze des Waldes verständigen sich untereinander über<br />

Wasserknappheiten, drohende Schädlinge, sie helfen ihren Nachbarn, wo sie können.<br />

Das ist wissenschaftlich erwiesen. Auch wir Menschen können mit ihnen in<br />

Verbindung treten – wenn wir ihre Sprache lernen. Man muss nur ein bisschen<br />

Bereitschaft oder Neugier in sich spüren, sich von der Natur Tipps und Inspirationen<br />

geben zu lassen. Chrissi Breyer ist geübte Pflanzendolmetscherin und bietet<br />

verschiedene Kurse an, die uns ins Grüne führen. Das ist spannend und löst den<br />

einen oder anderen Knoten im Kopf! •<br />

Niendorfer Gehege, Treffpunkt wird nach der Anmeldung bekannt gegeben, Fr, 10. und<br />

24.6., jeweils 17.30 bis 19 Uhr, 30 Euro pro Monat. Wanderungen auch im Sachsenwald.<br />

Weitere Kurse und alle Termine unter www.chrissis-kraeuterwelt.de<br />

Benefizkonzert<br />

Bäume statt Beton<br />

Im vergangenen Herbst haben<br />

Stefan Gwildis und sein Produzent<br />

und Pianist Tobias Neumann ihr<br />

Publikum in der Elbphilhar monie<br />

ziemlich überrascht. Statt großem<br />

Big-Band-Sound nur vier Hände,<br />

ein Klavier und Gwildis unverwechselbare<br />

Soulstimme. Das war ein<br />

echtes Gänsehaut-Erlebnis! Nun<br />

bringen die beiden das Programm<br />

noch mal auf die Bühne, und zwar<br />

im charmanten Brakula – da<br />

kommt Wohnzimmeratmosphäre<br />

auf! Der Konzerterlös geht an die<br />

Bürgerinitiative „Bramfeld 70“,<br />

die sich für den Erhalt eines Waldes<br />

und Biotops nahe der Bramfelder<br />

Chaussee einsetzt. •<br />

Brakula, Bramfelder Chaussee 265,<br />

Fr, 10.6., 20 Uhr, Eintritt 47 Euro,<br />

Weitere Infos: www.brakula.de<br />

Stefan Gwildis<br />

Kinder & Eltern<br />

Last Night of the Stars<br />

Im Planetarium stehen alle Zeichen<br />

auf glänzende Sommerabende!<br />

Ab dem 11.6. steht jeden Abend ein<br />

anderer Star auf der Bühne des Sternensaals:<br />

Rolf Zuckowski, der just 75<br />

wurde, etwa am 15.6. Er liest aus<br />

seiner Autobiografie „Ein bisschen<br />

Mut, ein bisschen Glück“, musiziert<br />

wird auch. Techno, Chill-out und Comedy<br />

gibt’s an anderen Terminen. •<br />

Planetarium Hamburg, Linnering 1,<br />

Mi, 15.6., 20 Uhr, Tickets 25 Euro,<br />

www.planetarium-hamburg.de<br />

Indie-Party<br />

Tanz’ dich happy<br />

Unter dem schönen Motto „Fick Dich<br />

ins Knie, Melancholie!“ sticht die Frau<br />

Hedi in See, an Bord legt Alexis (Indie<br />

Army Now) Indie-Pop-Perlen auf. Und<br />

was macht ihr? Ihr müsst eigentlich<br />

nur tanzen. Ahoi! •<br />

Barkasse Frau Hedi, Bei den Landungsbrücken<br />

10 (Innenkante), Fr, 17.6., 20–24<br />

Uhr, Vvk 14 Euro zzgl. Vvk-Gebühr, AK 16<br />

Euro, ab 22 Uhr 10 Euro, www.frauhedi.de<br />

Lesung<br />

Wolf Haas<br />

Auf einem Wiener Mistplatz (oder<br />

auch Altstoffsammelzentrum) taucht<br />

eine Leiche auf. Klar, dass der Brenner,<br />

Ex-Kommissar und jetzt Mistler<br />

auf eben jenem Müllplatz, ganz fix<br />

tief im Schlamassel steckt. Der Autor<br />

liest selbst, mit Wiener Schmäh. •<br />

Schanzenzelt, im Schanzenpark,<br />

Di, 21.6., 20 Uhr, Eintritt: 23 Euro,<br />

www.schanzenzelt.de<br />

53


Art mit AR<br />

Hallo Heiniverse!<br />

Der Maler Thomas Heinlein lädt in<br />

sein Universum: das Heiniverse. Seine<br />

gleichnamige Pop-up-Ausstellung ist<br />

so bunt wie raumgreifend. Denn seine<br />

Werke sind hybrid, vereinen die virtuelle<br />

und analoge Welt. Mittels eines iPads<br />

– oder dem eigenen Smartphone –<br />

tauchen wir beim Betrachten der Bilder<br />

in seinen Kosmos ein. Thematisch ist<br />

der breit gefächert. Wie ist das, wenn<br />

man selbst stehen bleibt, das Tempo<br />

verweigert, die Welt sich aber immer<br />

weiterdreht? Mit seiner zeitgenössischen<br />

Malerei erzählt Heinlein Geschichten<br />

aus dem urbanen Leben oder aus der<br />

Natur. Immer spielerisch, immer gibt es<br />

etwas zu entdecken. Klar, denn mittels<br />

Augmented Reality stehen Betrachter:innen<br />

quasi mittendrin im Gemälde<br />

und können sich selbst auch in diesem<br />

Kunst mit 3-D-Effekt: Thomas Heinleins buntes Universum<br />

fotografieren. Das ist ein kleines Abenteuer<br />

für die Sinne, das Spaß macht<br />

und neue Perspektiven auf die Malerei<br />

bietet. Wer neugierig ist, wie das Ganze<br />

funktioniert, kann den Künstler übrigens<br />

vor Ort befragen. Heinlein wird<br />

anwesend sein. •<br />

Pop-up-Galerie Heiniverse, Bismarck -<br />

straße 88, Fr–So, 24.–26.6., 11–19 Uhr,<br />

Eintritt frei, www.heinlein-thomas.de<br />

54


FOTOS: THOMAS HEINLEIN (S. 54), KLAUS LEMKE/BERND FIEDLER (OBEN), PRIVAT<br />

Film<br />

Dreckiges Hamburg<br />

Festival<br />

Grenzenlos<br />

Die achte Festivalausgabe von<br />

„Hauptsache frei“ legt in diesem Sommer<br />

ihren Schwerpunkt auf das Thema<br />

Beziehungen. Corona hat uns auf<br />

Abstand gehen lassen, jetzt soll der<br />

Vernetzung Raum gegeben werden –<br />

und zwar zwischen Kunstschaffenden<br />

unterschiedlicher Sparten und der<br />

Stadtgesellschaft. Geschehen soll<br />

dieses mittels zeitgenössischem Tanz,<br />

Theater und Performancekunst, die<br />

die Hamburger Freie Szene auf verschiedenen<br />

Bühnen und an spannenden<br />

Off-Locations in Hamburg präsentieren<br />

wird. Auch Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist<br />

dabei: Als „Beste Gäste“ besuchen<br />

Hinz&Künztler:innen gemeinsam mit<br />

Theaterleuten ausgewählte Vorstellungen<br />

und diskutieren anschließend<br />

darüber. •<br />

Hauptsache frei. Festival der Darstellenden<br />

Künste Hamburg, div. Spielstätten, Mi–Sa,<br />

22.6.–2.7., www.hauptsachefrei.de<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

2016 feierte das Gemeinschaftsprojekt „Eine Stadt sieht einen Film“ seine Premiere.<br />

In den Hamburger Arthouse- und Programmkinos wurde damals Sebastian<br />

Schippers „Absolute Giganten“ gezeigt. Die Idee dieser Aktion ist so simpel wie<br />

gut: Die teilnehmenden Lichtspielhäuser präsentieren einen ganzen Sonntag lang<br />

einen Hamburger Kultfilm in Anwesenheit des Filmteams. In diesem Jahr ist das<br />

„Rocker“. Aus gutem Grund: Klaus Lemkes Milieufilm feiert 50. Geburtstag! •<br />

Eine Stadt sieht einen Film, in 16 Hamburger Kinos, So, 19.6., 11–21 Uhr,<br />

Vvk in den beteiligten Kinos, www.eine-stadt-sieht-einen-film.de<br />

55<br />

Teenager<br />

Mark lernt<br />

Rocker Gerd<br />

und das Leben<br />

jenseits<br />

der Spießbürgerlichkeit<br />

kennen.<br />

Festival<br />

Kunst satt<br />

Foodsharing, „Die 2 Chefs“, die<br />

Hamburger Tafel, Hinz&<strong>Kunzt</strong> und<br />

freiwillige Kunstschnibbler:innen<br />

eröffnen im Rahmen der Altonale<br />

die Kulturfutter-Küche. Gemeinsam<br />

kochen, verweilen – und beim Futtern<br />

mit Schnack nicht nur das Essen,<br />

sondern auch den kulturellen Diskurs<br />

genießen. Im Open-Air-Kino läuft<br />

„Dear Future Children“, Musik gibt’s<br />

unter anderem von „Duolonchello“<br />

oder „Die Letzte Generation“. •<br />

Festivalzentrum, Park am Platz der Republik,<br />

Altona, Mi–So, 22.–26.6., kein Ticket<br />

erforderlich. Anmeldung fürs Mitmachen:<br />

kulturfutter@altonale.de, www.altonale.de<br />

Über Tipps für Juli freut sich<br />

Annabel Trautwein. Bitte bis zum<br />

10.6. schicken an:<br />

kult@hinzundkunzt.de<br />

Kinofilm des Monats<br />

Filme im<br />

Snackformat<br />

Hat in Zeiten leicht verdaulicher<br />

Serienhäppchen, Youtube-Content<br />

und Handyvideos<br />

der abendfüllende<br />

Spielfilm seine besten Zeiten<br />

hinter sich? Sicher nicht!<br />

Trotzdem hat sich die Aufmerksamkeitsspanne<br />

des Publikums<br />

wahrscheinlich verändert.<br />

Kaum ein Film<br />

kommt heute ohne den Big<br />

Bang in den ersten Minuten<br />

aus, ein ausführlicher Aufbau<br />

der Geschichte, ein filigranes<br />

Einführen der Charaktere<br />

lässt den Filmerfolg flutschen<br />

wie Rollsplitt auf der Curlingbahn.<br />

Also, dem Kurzfilm<br />

gehört die Gunst der Stunde!<br />

Wer die neuesten Kurzfilmtrends<br />

und die Menschen<br />

dahinter einmal aus nächster<br />

Nähe kennenlernen möchte,<br />

der sollte noch bis 6. <strong>Juni</strong> Veranstaltungen<br />

des Kurzfilmfestivals<br />

Hamburg besuchen<br />

(Programm: www.festival.shortfilm.com).<br />

Unter unterschiedlichen<br />

Namen hat sich das No-<br />

Budget-Festival seit 1985 von<br />

einer kleinen Initiative von<br />

und für Filmfans zu einem<br />

auch international beachteten<br />

Branchenfestival gemausert.<br />

Das Motto in diesem<br />

Jahr: „Echoes from the Near<br />

Future“. Es geht um Kultur<br />

und wie diese die Zukunft<br />

maßgeblich gestalten kann.<br />

Neben verschiedenen Wettbewerbsfilmen<br />

laufen Sonderprogramme<br />

unter dem<br />

Titel „Labor der Gegenwart“,<br />

die zusammen mit Gäs ten<br />

und Künstler:innen einen<br />

genaueren Blick auf ausgewählte<br />

Themen lenken. •<br />

André Schmidt<br />

geht seit<br />

Jahren für uns<br />

ins Kino.<br />

Er arbeitet in der<br />

PR-Branche.


klein<br />

gartenlife<br />

#9<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Beratung von Nabu-<br />

Fachfrau Katharina<br />

Schmidt im Kleingarten<br />

von Benjamin Laufer.<br />

Wildbienen, wie diese<br />

Mauerbiene, werden<br />

es ihnen danken.<br />

Die feine<br />

Frau Wildbiene<br />

Wer im Garten etwas für bedrohte Insekten tun will,<br />

hat es nicht leicht – denn was sich<br />

bienenfreundlich schimpft, ist es oft nicht.<br />

Eigentlich wollte ich in dieser Kolumne<br />

über schnöselige Wildbienen schreiben,<br />

die sich zu fein sind, in meinen Garten<br />

einzuziehen. Das Insektenhotel an meiner<br />

Gartenlaube blieb nämlich lange<br />

leer. Doch bald dämmerte mir, dass<br />

vielleicht nicht die Bienen, sondern der<br />

Gärtner an der Misere schuld sein<br />

könnte. Also habe ich mir eine Expertin<br />

eingeladen, die es wissen muss: Katharina<br />

Schmidt, Referentin für Stadtnatur<br />

beim Nabu.<br />

Ein bisschen Bammel hatte ich ja<br />

vor ihrem Urteil, aber nach einem<br />

Rundgang durch den Garten konnte<br />

ich aufatmen: „Strukturreich“ findet sie<br />

mein Werk und meint damit, dass es<br />

hier für Insekten viel zu holen gibt. Totholz<br />

etwa, Blumenwiese und Kräuterrasen,<br />

eine Benjeshecke und einen Miniteich.<br />

Und auch das Insektenhotel an<br />

TEXT: BENJAMIN LAUFER; FOTOS: DMITRIJ LELTSCHUK<br />

meiner Gartenlaube hat inzwischen zumindest<br />

einige Bienen angelockt.<br />

Ich habe also viel richtig gemacht,<br />

aber leider nicht alles. Denn am Insektenhotel<br />

hat Schmidt dann doch etwas<br />

auszusetzen: Einige der ins Holz gebohrten<br />

Löcher sind ausgefranst, sodass<br />

die Bienen daran ihre Flügel verletzen<br />

könnten. Und das Fach mit Holzwolle<br />

ist für sie gar nicht von Nutzen. Sieht<br />

irgendwie nett aus, bringt aber nix.<br />

Im Vergleich zu so manchem<br />

Schrotthotel, das etwa Baumärkte anbieten,<br />

kann es sich aber sehen lassen.<br />

Denn die traurige Wahrheit ist: Um<br />

an das hart erarbeitete Geld von uns<br />

Gärtner:innen zu kommen, wird vieles<br />

als bienenfreundlich angepriesen, was es<br />

gar nicht ist. Aldi zum Beispiel versuchte<br />

kürzlich, den invasiven Kirschlorbeer,<br />

den der Nabu gar als „ökologische Pest“<br />

tituliert, unter diesem Label zu verkaufen.<br />

Deswegen kommen hier die Tipps<br />

von der Fachfrau, wie man wirklich<br />

etwas für die Artenvielfalt tun kann.<br />

Insektenhotels, sagt Katharina<br />

Schmidt, baut man sich am besten<br />

selbst. Anleitungen dafür gibt’s im Netz,<br />

zum Beispiel beim Nabu. Auf unnütze<br />

Bestandteile wie Holzwolle oder Kiefernzapfen<br />

kann man getrost verzichten.<br />

Auch Pflanzen holt man lieber<br />

nicht aus dem Baumarkt, denn die<br />

haben häufig nichtheimische Pflanzen<br />

oder solche mit gefüllten Blüten und<br />

dafür ohne Nektar im Angebot, mit denen<br />

die hiesigen Insekten wenig anfangen<br />

können. Leider gibt es die richtigen<br />

Wildstauden nur in ausgewählten Gärtnereien<br />

– oder im Internet. Ähnlich<br />

sieht es mit Samenmischungen für<br />

Blumenwiesen aus: Nur weil die schön<br />

blühen, haben die bedrohten Wildbienen<br />

davon noch lange nichts. Wenn<br />

nicht mal draufsteht, was in der Mischung<br />

drin ist, besser Finger weg.<br />

Und wenn alles nichts hilft, hilft vielleicht<br />

Zeit: Man muss Geduld haben,<br />

sagt Katharina Schmidt. Die Bienen<br />

müssten auch erst mal den Weg in den<br />

Garten finden. Ich bau ihnen dann mal<br />

ein Schild. •<br />

benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />

56


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Rätsel<br />

Verlobter<br />

Vorrichtung<br />

am Reitstiefel<br />

nachtaktiver<br />

Vogel<br />

Heiz-,<br />

Treibgas<br />

Frau<br />

Adams im<br />

Alten Testament<br />

Persönlichkeitsbild<br />

(engl.)<br />

witziger,<br />

effektvoller<br />

Einfall<br />

Route<br />

Speise<br />

in Gelee<br />

8<br />

2<br />

1<br />

7<br />

2<br />

9<br />

1<br />

2<br />

2<br />

3<br />

6<br />

9<br />

5<br />

heftig<br />

verlaufend<br />

(Krankh.)<br />

boshaft,<br />

hämisch<br />

3<br />

7<br />

9<br />

5<br />

Inselgruppe<br />

im<br />

Pazifik<br />

englisch:<br />

Ladengeschäft<br />

2<br />

9<br />

6<br />

7<br />

4<br />

9<br />

8<br />

2<br />

Heilpflanze<br />

Speisefisch<br />

der<br />

Meere<br />

Stadt am<br />

Kanal<br />

(Frankreich)<br />

5<br />

3<br />

10<br />

4<br />

2<br />

6<br />

3<br />

Soße<br />

zum Eintunken<br />

Singvogel,<br />

sprechen Schwarzdrossel<br />

unbeherrschte<br />

Wut,<br />

Raserei<br />

Hochschulabsolvent<br />

italienischer<br />

Name der<br />

Etsch<br />

Eichhörnchenpelz<br />

Name<br />

Attilas<br />

in der<br />

dt. Sage<br />

süddt.:<br />

Weizenbrötchen<br />

1<br />

AR0909-1219_4sudoku<br />

griechischer<br />

Buchstabe<br />

Lokomotive<br />

bei Jim<br />

Knopf<br />

vielseitig<br />

Insekt,<br />

Zweiflügler<br />

persönliches<br />

Fürwort<br />

Rabenvogel,<br />

Turmkrähe<br />

Mittel gegen<br />

Körpergeruch<br />

(Kurzwort)<br />

umgangssprachl.:<br />

dürftig,<br />

schlecht<br />

Sammlung<br />

altnord.<br />

Dichtungen<br />

Skarabäus<br />

gitterartiges<br />

Gewebe f.<br />

Vorhänge<br />

Teil<br />

eines<br />

Baumes<br />

Füllen Sie das Gitter<br />

so aus, dass die Zahlen<br />

von 1 bis 9 nur je einmal<br />

in jeder Reihe, in jeder<br />

Spalte und in jedem<br />

Neun-Kästchen-Block<br />

vorkommen.<br />

Als Lösung schicken<br />

Sie uns bitte die farbig<br />

gerahmte, unterste<br />

Zahlenreihe.<br />

Lösungen an: Hinz&<strong>Kunzt</strong>, Minenstraße 9, 20099 Hamburg,<br />

per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.<br />

Einsendeschluss: 27. <strong>Juni</strong> 2022. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />

Wer die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel einsendet, kann<br />

zwei Karten für die Hamburger Kunsthalle gewinnen oder eines von<br />

drei Jugendbüchern „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ von Kirsten Boie<br />

(Oetinger Verlag).<br />

Das Lösungswort des Mai-Kreuzwort rätsels war: Armbanduhr.<br />

Die Sudoku-Zahlenreihe lautete: 387 296 541.<br />

6<br />

9<br />

3<br />

5<br />

4<br />

6<br />

8<br />

7<br />

Dotter<br />

8<br />

8<br />

Heiligenbild<br />

der Ostkirche<br />

Kurzmitteilung<br />

(Kurzw.)<br />

9<br />

7<br />

Feldertrag<br />

altgermanische<br />

Waffe<br />

in<br />

Richtung,<br />

nach<br />

(veraltet)<br />

1<br />

10<br />

Stadt<br />

an der<br />

Weißen<br />

Elster<br />

6<br />

12194 – raetselservice.de<br />

Impressum<br />

Redaktion und Verlag<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH<br />

Minenstraße 9, 20099 Hamburg<br />

Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50<br />

Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01<br />

E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de<br />

Herausgeber<br />

Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg<br />

Externer Beirat<br />

Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW Hamburg),<br />

Mathias Bach (Kaufmann), Dr. Marius Hoßbach (Korten Rechtsanwälte AG),<br />

Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),<br />

Karin Schmalriede (ehemals Lawaetz-Stiftung, i.R.),<br />

Dr. Bernd-Georg Spies (Spies PPP),<br />

Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)<br />

Geschäftsführung Jörn Sturm<br />

Redaktion Annette Woywode (abi, CvD, V.i.S.d.P. für Titel und Editorial,<br />

Lebenslinien, Freunde, Intern, Buh&Beifall, <strong>Kunzt</strong>&Kult, Momentaufnahme),<br />

Lukas Gilbert (lg, stellv. CvD; V.i.S.d.P. für Gut&Schön, Stadtgespräch),<br />

Ulrich Jonas (ujo, V.i.S.d.P. für die Zahlen des Monats), Benjamin Laufer<br />

(bela, V.i.S.d.P. für den Schwerpunkt), Jonas Füllner (jof),<br />

Simone Deckner (sim), Kirsten Haake (haa), Jochen Harberg (joc),<br />

Anna-Elisa Jacob (aej), Frank Keil (fk), Misha Leuschen (leu),<br />

Regine Marxen (rem), Simone Rickert (sr), Annabel Trautwein (atw)<br />

Online-Redaktion Benjamin Laufer (CvD), Jonas Füllner, Lukas Gilbert<br />

Korrektorat Christine Mildner, Kerstin Weber<br />

Redaktionsassistenz Cedric Horbach,<br />

Sonja Conrad, Anja Steinfurth<br />

Artdirektion grafikdeerns.de<br />

Öffentlichkeitsarbeit Sybille Arendt, Friederike Steiffert<br />

Anzeigenleitung Sybille Arendt<br />

Anzeigenvertretung Gerald Müller,<br />

Wahring & Company, Tel. 040 284 09 418, g.mueller@wahring.de<br />

Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 27 vom 1. Januar 2022<br />

Vertrieb Christian Hagen (Leitung), Gabor Domokos,<br />

Meike Lehmann, Sergej Machov, Frank Nawatzki,<br />

Sigi Pachan, Reiner Rümke, Marcel Stein,<br />

Eugenia Streche, Cornelia Tanase, Silvia Zahn, Janina Marach<br />

Spendenmarketing Gabriele Koch<br />

Spendenverwaltung/Rechnungswesen Susanne Wehde<br />

Sozialarbeit Stephan Karrenbauer (Leitung), Jonas Gengnagel,<br />

Isabel Kohler, Irina Mortoiu<br />

Das Stadtrundgang-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />

Chris Schlapp<br />

Das BrotRetter-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />

Stefan Calin, Fred Houschka, Mandy Schulz<br />

Das Team von Spende Dein Pfand am Airport Hamburg<br />

Stephan Karrenbauer (Leitung), Uwe Tröger,<br />

Klaus Peterstorfer, Herbert Kosecki<br />

Litho PX2 Hamburg GmbH & Co. KG<br />

Produktion Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />

Druck und Verarbeitung A. Beig Druckerei und Verlag,<br />

Damm 9–15, 25421 Pinneberg<br />

QR Code ist ein eingetragenes Warenzeichen von Denso Wave Incorporated<br />

Leichte Sprache capito Hamburg, www.capito-hamburg.de<br />

Spendenkonto Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

IBAN: DE56 2005 0550 1280 1678 73<br />

BIC: HASPDEHHXXX<br />

Die Hinz&<strong>Kunzt</strong> gGmbH mit Sitz in Hamburg ist durch den aktuellen<br />

Freistellungsbescheid bzw. nach der Anlage zum Körperschaftssteuerbescheid<br />

des Finanzamts Hamburg-Nord, Steuernummer 17/414/00797,<br />

vom 15.3.2021 für das Jahr 2019 nach § 5 Abs.1 Nr. 9 des Körperschaftssteuergesetzes<br />

von der Körperschaftssteuer und nach<br />

§ 3 Nr. 6 des Gewerbesteuergesetzes von der Gewerbesteuer befreit.<br />

Geldspenden sind steuerlich nach §10 EStG abzugsfähig. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist als<br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH im Handelsregister beim<br />

Amtsgericht Hamburg HRB 59669 eingetragen.<br />

Wir bestätigen, dass wir Spenden nur für die Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

einsetzen. Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte<br />

weitergegeben. Beachten Sie unsere Datenschutzerklärung, abrufbar auf<br />

www.hinzundkunzt.de. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist ein unabhängiges soziales Projekt, das<br />

obdachlosen und ehemals obdachlosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe bietet.<br />

Das Magazin wird von Journalist:innen geschrieben, Wohnungslose und<br />

ehemals Wohnungslose verkaufen es auf der Straße. Sozialarbeiter:innen<br />

unterstützen die Verkäufer:innen.<br />

Das Projekt versteht sich als Lobby für Arme.<br />

Gesellschafter<br />

Durchschnittliche monatliche<br />

Druckauflage 2. Quartal 2022:<br />

55.000 Exemplare<br />

57


Momentaufnahme<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />

„Ich stehe wieder<br />

auf eigenen Beinen“<br />

Madina, 40, verkauft Hinz&<strong>Kunzt</strong> vor Netto in Barmbek.<br />

TEXT: ANNA-ELISA JAKOB<br />

FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Madina ist ein Großstadtmensch, und<br />

einst war Hamburg für sie die schönste<br />

Stadt von allen. Sie mochte die vielen<br />

Menschen und ihre Gespräche, alles<br />

hier gefiel ihr besser als in ihrem<br />

Heimatdorf in Tadschikistan. Mal arbeitete<br />

sie in einer Bäckerei, mal in<br />

einem Sonnenstudio, stressig sei es<br />

immer gewesen. Sie hatte wenig<br />

Geld, doch damals noch viele Träume:<br />

Schauspielerin wollte sie werden oder<br />

Musikerin. Mit 22 lernte Madina in einer<br />

Disco auf der Reeperbahn ihren<br />

Mann kennen. „Meine große Liebe“,<br />

sagt sie, immer noch.<br />

Nun ist Madina 40 Jahre alt, doch<br />

Hamburg hat für sie all seine Schönheit<br />

verloren. Ihr Mann wurde suchtkrank,<br />

irgendwann trennte sie sich von ihm.<br />

Sie fand allein keine Wohnung und<br />

lebte auf der Straße, fünf Jahre lang.<br />

Dort begann Madina selbst jeden Tag<br />

zu trinken. „Früher habe ich Hamburg<br />

geliebt, aber hier ist zu viel passiert“,<br />

sagt sie. Wenn sie jetzt noch träumt,<br />

dann von einer anderen Stadt: Sie<br />

würde so gerne nach New York gehen.<br />

Dort wohnen wohl einige ihrer<br />

Verwandten; mit ihrer Familie in der<br />

Heimat hat sie schon seit Jahren keinen<br />

Kontakt mehr. Sie weiß nicht mal, ob<br />

sie noch in Tadschikistan leben. „Das<br />

Dorf vermisse ich nicht, aber meine<br />

Familie fehlt mir sehr“, sagt sie.<br />

Madina sitzt an diesem Nachmittag auf<br />

einer Bank im Grünen, in einem Park<br />

mitten in St. Georg. Über die Lehne<br />

läuft eine kleine grüne Spinne. „Pauk“,<br />

ruft Madina entzückt, weil man Spinnen<br />

so auf Tadschikisch nenne – und<br />

Glück würden sie auch bringen. Madina<br />

sagt, ihr Glück sei, dass sie mittlerweile<br />

in der Wohnung eines Bekannten wohnen<br />

könne. Und auch, dass ihr eine<br />

Freundin von Hinz&<strong>Kunzt</strong> erzählt hat.<br />

Seit zwei Monaten verkauft sie<br />

vor Netto in Barmbek und vor Penny<br />

an der Dehnhaide. Einige Stammkund:innen<br />

hat sie schon: „Alte und<br />

junge, intelligente und freundliche<br />

Menschen, viele fangen ein Gespräch<br />

mit mir an.“ Solche Begegnungen freuen<br />

sie. Zu ihrem Mann hat sie mittlerweile<br />

keinen Kontakt mehr. „Ich stehe<br />

wieder auf eigenen Beinen“, sagt sie.<br />

Von ihren Einnahmen aus dem<br />

Magazinverkauf besorgt Madina sich<br />

Lebensmittel und auch mal eine andere<br />

Kleinigkeit für sich selbst. Zum Beispiel<br />

ihren Taschenspiegel, den fand sie für<br />

einen Euro auf dem Flohmarkt. Eigentlich<br />

schminkt sie sich nicht mehr, ist ihr<br />

zu anstrengend – aber heute, für den<br />

Fototermin mit Hinz&<strong>Kunzt</strong>, ist das etwas<br />

anderes. Madina stellt sich in die<br />

Sonne von St. Georg, hinter ihr spielen<br />

junge Männer Basketball. Sie trägt eine<br />

tiefsitzende Jeans, ihre Cap hat sie lässig<br />

nach hinten gedreht. Mit einem geübten<br />

Pinselstrich umrandet sie ihre<br />

Augen und trägt etwas Lippenstift auf.<br />

Ein kritischer Blick in den Spiegel, dann<br />

lacht sie. Ob sie die Ausgabe mit ihrem<br />

Foto denn auch irgendwo in New York<br />

bekommen könne? •<br />

annaelisa.jakob@hinzundkunzt.de<br />

Madina und alle anderen<br />

Hinz&Künztler:innen erkennt man<br />

am Verkaufsausweis.<br />

58


Was Obdachlose<br />

wirklich brauchen,<br />

wissen Obdachlose<br />

am besten!<br />

Das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Insiderwissen<br />

Spezial 2022: ab sofort bei den<br />

Hinz&Künztler:innen Ihres Vertrauens.<br />

Neu!


Foto: Katharina Lotter<br />

Das ist<br />

nicht egal!<br />

Gerechtigkeit entsteht nicht, wenn<br />

uns alles gleich ist, sondern indem<br />

wir Unterschiede anerkennen.<br />

Wolf Lotters Essay ist ein Lob dieser<br />

Unterschiede, die unser Leben um<br />

Vielfalt und Freiheit bereichern.<br />

328 Seiten | Gebunden mit Schutzumschlag | € 20,– (D)<br />

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www.edition-koerber.de<br />

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