Blogtexte2022_1-Halbjahr
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Ich sehe Wald und keine Bäume
Mai 21, 2022
Wer seine Wünsche nicht kennt, stellt
irgendwann fest, hat sein Leben verpennt.
Natürlich ist es dann zu spät, für einiges
jedenfalls. Es heißt bekanntlich, man könne
sich immer noch ändern und mit der Umsetzung
lang gehegter Träume beginnen. Den
eigenen Bedürfnissen nachspüren, dafür
ist immer Zeit bis zum Schluss. Aber zur
Umsetzung vieler Sachen gibt es eine Zeit
im Leben, wann diese geschehen müssen.
Einige Menschen scheinen besser organisiert,
sind geübt darin, für sich selbst zu
sorgen. Man könnte die Gesundheit am Grad
der Bewusstheit innerer Bedürfnisse messen,
und jeder sollte einen speziellen Zollstock
dafür haben. Narren fühlen nicht, meint ein
hebräisches Sprichwort. Wie bekommen sie
das hin? Das Selbstverständliche misslingt
ihnen.
Viele Beispiele des modernen Alltags
verstören. Man kann leicht erkennen, dass
die Welt nicht ist, wie sie sein sollte. Unser
Leben ist nicht nur zwischen der Ukraine
und Russland in seiner Stabilität bedroht.
Das Coronavirus oder die Klimakatastrophe
gefährden unseren Wohlstand oder die Inflation.
Wir sollten unser Augenmerk darauf
richten, was zwischen uns und den Nachbarn
geschieht, damit wir zu denken vermeiden,
die Gefahren wären irgendwo, am Rand
der Gesellschaft eben. Schuldzuweisungen
prägen das Bild wie die Unfähigkeit, die
Probleme effektiv anzugehen.
Wir gefallen uns darin, eine Art intellektuelle
Brille zu tragen, die unsere Zivilisation als
geordnetes Schema darstellt. Das Gegenteil
dürfte der Wirklichkeit näher sein. Wir bilden
uns nur ein, Dinge zu verstehen, wenn wir
zupackende Begriffe nutzen, um eigentlich
Unfassbares wegzuerklären. Ein Zerrbild
mag uns glauben machen, die sexuellen
Abgründe beispielsweise täten sich im
Darknet auf und das befände sich woanders.
Wiederholt wird berichtet, der Flut von Kinderpornografie
im Netz sei nicht beizukommen.
Extra Software ist bereits im Einsatz.
Diese durchforstet die Daten zunächst, um
mit einer Vorauswahl dem zur Auswertung
unentbehrlichen Menschen nur relevantes
Bildmaterial zuzumuten. Die Jugendlichen
selbst seien immer häufiger auch Täter,
stellt die Polizei fest. Wen wundert das? Wir
belügen uns selbst mit dieser Vorstellung
vom Bösen am Rand der Gesellschaft. Da
ist kein Rand. Wir sind mittendrin, wenn wir
das Unaussprechliche sichtbar machen. Alles
andere wäre nur ein Trugbild.
Sich an verbale Konstruktionen zu klammern,
kennzeichnet den Menschen, seitdem
er sprechen kann, spätestens, seitdem
er schreibt. Wir möchten die Welt in Gut
und Böse aufteilen. Ich glaube nicht, dass
es durch die Gene bestimmt ist, wer zum
schlechten Menschen würde. Insofern hat
man die Möglichkeit, sein Handeln daraufhin
abzuklopfen, wohin die Reise geht. Zusätzlich
sollte es gesellschaftlicher Konsens
sein und dem einzelnen Mitglied unseres
Systems verständlich gemacht werden, dass
nicht allen die Reflexion ihrer Aktivitäten
gelingt. Einigen Menschen scheint ihre perspektivische
Entwicklung weniger wichtig
zu sein als anderen. Fairerweise dürften
wir verstehen, dass innere Wünsche, ja
Bedürfnisse zu bemerken und das Begreifen,
ob diese umsetzbar sind, für manche ein
Problem sein kann.
Wir rüsten verbal auf. Die Überheblichkeit,
wir wären Weltpolizisten in Deutschland,
macht vor dem Einzelnen nicht halt, sich
auch über die Nächsten nebenan zu erheben.
Wir schaffen die verkehrt Dastehenden,
die Homophoben, Nichtgenderer, Sexisten
oder die, die es versäumten, rechtzeitig die
ukrainische Flagge zu hissen, durch die Vorstellung,
das Gutsein begriffen zu haben.
# Wir erschaffen die Bösen und welche, die
nicht wissen, was sie tun, selbst
Leistung, Bildung und Einbildung prägen
unser Menschsein. Wir unterrichten vieles,
aber fühlen zu können, ist unser natürliches
Erbe. Das überträgt sich für gewöhnlich
mit der Muttermilch so nebenbei. Wir üben
es nicht im Kurs mit anderen, konzentrieren
uns auf Wichtigeres. Die Jugend hat
Mathematik, Deutsch und Physik auf dem
Stundenplan. Das Wunder der Evolution
wird gelehrt, aber unsere Emotion sollte
sich von selbst darstellen. Wenn dabei
auch manches schiefgeht, sind doch nicht
wenige eingebildet auf ihre Bildung und
den eigenen Lebenserfolg, als wüssten sie
auch, warum ihnen das Leben gelungen ist.
Es ist meistens nicht der Fall. Eine zufällig
gute Ausgangslage begünstigt das Gefühl
von Stärke. Auf anderen Schultern stehend,
sich über vermeintliche Versager zu erheben,
diese als faul oder krank beiseite zu wischen,
verstärkt die Illusion von Größe. Man meint
zu wissen, was Erfolg kennzeichnet. Eigentlich
sollte niemand ausgegrenzt bleiben
vom Wohlstand und Glück. Es werden viele
Ratgeber geschrieben, und manche lesen,
was drin steht. Das Motto: Einfach nach
vorn schauen, dann klappt das mit dem
Leben! Das Bild stören noch Manager, die bis
gestern als Leistungsträger gefeiert wurden,
sich durch positives Denken hervorgetan haben
und dann im Burnout weg vom Fenster
sind. Macht nichts? Ja, sie kommen zurück.
Menschen mit Lebenserfahrung stehen nach
einem Fehlschlag wieder auf. Auch Jugendliche,
die – in der Schule auffällig – Probleme
machen, können in eine gute Spur gebracht
werden. Man lehrt sie, was die anderen von
Natur aus hinbekommen. Wir sind besser
geworden, natürliche Abläufe zu analysieren
und haben spezielles Training entwickelt,
anderen zu helfen.
Die große Gruppe psychisch kranker Menschen,
die nicht eigenverantwortlich und
integriert leben können, allenfalls betreut
klar kommen, bleibt ein Problem für unsere
Zivilisation. Diese Unglücklichen hatten
zunächst einen unauffälligen Start. Das
sind weder diejenigen, die schon als Kinder
schwierig waren, noch Deprimierte in Midlifecrisis
oder Frauen, welche eine Depression
nach der Schwangerschaft ausleben.
Es sind keine, die mit ihrer Haschpsychose
kämpfen. Auch Patienten mit Delir, die eine
ganze Intensivstation beschäftigen, nach
einer gewöhnlichen Operation, finden leicht
zurück in ihr altes Leben, wie etwa der
Professor, der (noch einmal jung) im Liebeswahn
durchknallt. Auch dieser regeneriert
sich womöglich bald. Wir sollten demütig
vor unserer eigenen Natur bleiben, die das
Leben prägt, dankbar für Gesundheit als
Geschenk. Jedes Gehirn ist unter bestimmten
Umständen anfällig für einen Ausnahmezustand.
Langfristig Kranke jedoch sind anders.
Sie finden scheinbar keinen Ausgang aus
ihrer kleinen Welt voller Probleme. Diese
Bemitleidenswerten wiederholen sich ihr
ganzes Dasein lang. Schubweise eskalierend,
geraten sie in Not oder sind latent psychisch
krank. Sie scheinen ihr Gehirn dauerhaft
kaputtgespielt zu haben? Eine nicht kleine
Gruppe in unserer Gesellschaft entwickelt
ihre psychische Krankheit zu Beginn des Lebens,
aber anschließend der Ausbildung. Das
Bedenkliche ist wohl darin zu sehen, dass
diese Menschen zwar den Anforderungen
der Schule genügten, aber nie selbstständig
geworden sind. Sie werden nicht rechtzeitig
als labil bemerkt, dass ihre Fehler möglicherweise
korrigiert würden. Es sind keine
Menschen, die in ihr altes Leben zurückfinden.
Dort ist nichts. Sie haben quasi nie
gelebt. Jedenfalls nicht eigenverantwortlich.
Als Kind handelt man nicht selbstbestimmt,
lebt bei Eltern, in Obhut. Anders läuft es,
wenn Sternekoch Tim Mälzer seinen Burnout
bekommt. Er ist anschließend bald wieder
am Herd und lässt nichts mehr anbrennen.
# Man schreibt ein Buch, nimmt’s leicht
Überhebliche sollten bedenken, dass ein
Narr zu sein, kein Merkmal vorbestimmter
Gene ist, dieses Schicksal zu erleiden. Erziehung
schließt mit ein, falsches Handeln weiterzugeben
oder den Weg dafür zu bahnen,
Fluchten zu öffnen, die später das Abseits
bedeuten. Fehler im Entwicklungsprozess
sind nicht auf denjenigen beschränkt, der
diese begeht. Ein junger Mensch lernt von
seiner Umgebung und bringt sich zunehmend
selbst das gewünschte Verhalten
bei. Das Ziel, wie sich’s gehöre und unser
Empfinden, was uns gut tut, sollte Kinder im
gesunden Verhältnis wachsen lassen.
Wir sind als Gesellschaft dafür anfällig,
Menschen mit Geld, reichlich Besitz und
entsprechendem Erfolg hohe Wertschätzung
entgegenzubringen. Konsum, Perfektion und
Leistung stehen auf dem Wunschzettel. Wir
laufen deswegen Gefahr (und zusätzlich,
weil wir alles tun, moralische Ansprüche zu
erheben), immer mehr Mitgliedern des Systems
individuelle Bedürfnisse auszureden.
Diese Wünsche, Träume und ganz persönliche
Ansprüche ans Glück können nur mit
Geschick, aber nicht mit Gewalt und schon
gar nicht unerkannt befriedigt werden. Wir
müssen merken, was wir möchten. Ist zu sein
wie die anderen unser Ziel? Manche trauen
sich nicht, diese Frage zu stellen. Deswegen
erschafft eine perfekt erscheinende
Zivilisation wie nebenbei Menschen, denen
der Zugang zum natürlichen Selbst verstellt
ist. Hier geht es weniger um zutreffende
Schuldzuweisungen, die helfen würden,
das Problem lösen zu können, sondern die
Einsicht und Lernfähigkeit der Protagonisten
in einem vertrackten Theater zu beleben.
Emotionale Intelligenz sollte an der Schule
unterrichtet werden.
Mai 21, 2022 - Ich sehe Wald und keine Bäume 83 [Seite 83 bis 87 ]